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Metallica: 72 Jahreszeiten, Covid und ein Krieg in Europa

Etwas weniger als sieben Jahre sind seit der Veröffentlichung des letzten Metallica-Studioalbums ‘Hardwired … to Self-Destruct’ am 18. November 2016 vergangen. Und was für ein prophetischer Titel das damals war. Das Album erschien in demselben Jahr, in dem Trump das Weiße Haus zum ersten Mal eroberte, der Brexit das große Britannien in ein fremdenfeindliches und in sich zerstrittenes Inselchen transformierte und in dem der Wind der Veränderung sich erneut zu einem Orkan aufblies. Sieben weltgeschichtlich turbulente Jahre später melden sich Metallica mit einem neuen Album zurück. Das trägt den Titel „72 Seasons“ und hat es in sich: es ist wütend, zeugt von Bitterkeit, Frustration und Ohnmacht, aber auch von distanzierter Reflexion. So viel sei schon jetzt gesagt, wer Fan der frühen Metallica ist, von Alben wie ‚And Justice for All‘ oder ‚The Black Album‘, der wird mit ‚72 Seasons‘ besonders gut bedient sein.

Dem Album liegt ein Konzept zugrunde, das James Hetfield wie folgt erklärt: „Die 72 Seasons (Jahreszeiten) sind die ersten 18 Jahre unseres Lebens, die Phase unseres Lebens, in der sich unser wahres oder falsches Selbst formt. In diesem Zeitraum lehren uns Eltern, soziales Umfeld, Kindergärten und Schulen, wer und was wir sind und wie wir sein sollen. Vieles, was wir als Erwachsene erleben, ist eine Wiederholung oder Reaktion auf diese Kindheitserfahrungen. Bleiben wir Gefangene der Kindheit oder befreien wir uns von ihren Fesseln?“ Für Hetfield ist das fortlaufende Studium dieser anerzogenen Grundüberzeugungen höchst interessant, nicht zuletzt deshalb, weil sie letztlich bestimmen, wie wir die Welt sehen und erfahren.

Theorien des Selbst finden wir vor allem in der Psychologie, aber auch in Philosophie und Soziologie, und von Plato über Bourdieu bis hin zu Goffman oder May versuchen sich Theoretiker und Laien an der Beantwortung der ganz großen Frage: Wer bin ich, was bin ich und wie bin ich geworden, wer und was ich bin? Während Goffmans Performativity Theory das Selbst als Schauspieler identifiziert, die auf wechselnde Bühnen ihre jeweils wechselnden Rollen spielen und Goffman in letzter Konsequenz die Existenz eines Selbst an sich infrage stellt, ist für Hetfield das Selbst die Arena, in der Menschen die bittersten inneren und äußeren Konflikte austragen.

Das Selbst ist die Arena, in der Menschen die bittersten inneren und äußeren Konflikte austragen.

In den überragenden Texten des Albums, einige davon vielleicht die besten, die Metallicas Frontmann je geschrieben hat, setzt er sich so mit existenziellen Fragen in einer enervierenden Intensität auseinander. Wie die Texte reflektiert auch die Musik eine Zeit, in der die Welt aus den Fugen geraten ist. Was Kirk Hammett gern zugesteht.

Der Gitarrist hat im April 2023 in seiner Residenz im sonnigen Hawaii zum Telefon gegriffen, um ein wenig über „72 Reasons“ zu plaudern. 30 Minuten hat die Plattenfirma zugestanden, weit über 50 Minuten sollten es am Ende werden.

Geschrieben wurden die Songs des Albums zu einer Zeit, in der auch Metallica sich auf sich selbst zurückgeworfen fanden, inmitten einer Pandemie, die die Welt zum vorübergehenden Stillstand brachte. Ob die veränderten Umstände einen Einfluss auf die Arbeit der Band gehabt haben?

Aber unbedingt“, bestätigt der Gitarrist die naheliegende Vermutung, und fährt fort: „Diese ganze Lockdown-Sache war ein ziemlicher Tiefschlag, und ich war wirklich besorgt, ob wir ein paar Jahre in unserer Karriere verlieren würden oder nicht. Wir haben gründlich über die Situation nachgedacht und schließlich beschlossen, das Beste aus der Lage zu machen und mit dem Schreiben von Songs zu beginnen. Gott sei Dank konnten wir die Zeit nutzen und mussten nicht ohnmächtig zusehen, wie zwei Jahre einfach den Bach runtergingen.“

Wie der Rest der Covid-erschütterten Welt, mussten sich die Metallica-Musiker ebenfalls über Nacht mit Videokonferenz-Software wie Zoom, Teams oder Jitsi vertraut machen. Für Kirk Hammett eine ganz neue Erfahrung.

Bis dahin war Zoom für mich nur ein altes Kinderprogramm im Fernsehen. Doch dann sprachen plötzlich alle von Zoom, aber diesmal war es der Name dieser Video-Konferenz-Software. Daran musste ich mich erst einmal gewöhnen. Der Typ, der diese Software entwickelt hat, tat dies genau zum rechten Zeitpunkt und dürfte inzwischen von seinen Erträgen recht gut leben können.

Der schnelle Hausbesuch oder die gemeinsame Arbeit im Übungsraum gehörten damit zunächst einmal einer besseren Vergangenheit an. Stattdessen wurde notverordnet im Eigenheim gewerkelt und Ideen wurden in Zoom-Konferenzen debattiert und vorgespielt. Kreativität, das Schreiben von Songs, wurde zum Ausweg aus der Ausnahmesituation und ermöglichte es den Musikern zudem, diese zu reflektieren.

Grundsätzlich haben wir unsere Arbeitsweise gar nicht so stark verändert, nur war sie diesmal weniger aus freien Stücken so, sondern eher durch die Umstände erzwungen. Wir waren froh, dass die Technologie es uns ermöglichte, unsere Kreativität sinnvoll und konstruktiv auszuleben. Das Schreiben von Songs gab uns Halt in einer Zeit, in der die Welt wirklich aus den Fugen geraten schien.

Kirk Hammett, das sei am Rande erwähnt und ist eigentlich eine andere Geschichte, nutzte die Zwangspause nicht nur, um am neuen Metallica-Album zu arbeiten, sondern auch, um sein superbes Soloalbum ‚Portals‘ zu schreiben, aufzunehmen und zu veröffentlichen.

Während COVID bin ich ins Studio gegangen und habe mein eigenes Soloalbum produziert, ich habe mich einfach auf meine Erfahrungen aus der Vergangenheit verlassen, die ich in jahrelanger Arbeit im Studio gesammelt habe. Deshalb konnte ich die Verantwortung für die Produktion meiner eigenen Musik, den Sound und das Abmischen ohne Probleme übernehmen. Ich wusste genau, was zu tun war und wie.

Was er damit ebenso sagt: Mit gut 40 Jahren Studio-Erfahrung auf dem Buckel können die Musiker längst jedem Producer auf Erden mehr als nur das Wasser reichen. Dennoch hat sich die Band dafür entschieden, bei den Aufnahmen von „72 Seasons“ erneut mit Greg Fidelman als Produzent zu arbeiten, der sich die Producer-Credits brüderlich mit Hetfield und Ulrich, den treibenden Kräften hinter Metallica, teilt. Welchen Beitrag konnte Fidelman in einem solchen Szenario überhaupt leisten, in dem ihm die Musiker an Erfahrung und Kompetenz ebenbürtig waren und in dem er zudem mit starken und selbstbewussten Charakteren arbeiten musste. Oder, anders gefragt, braucht die Band überhaupt noch einen Produzenten?

Wenn’s ums rein Fachliche geht, erklärt Hammett, dann wohl eher nicht. Dass sie es alle drauf haben, hätten sie schon ausreichend unter Beweis gestellt, Rob Trujillo nicht zuletzt bei Ozzy Osbourne. Überhaupt, Robert Trujillo. Dass etwas anders lief bei der Arbeit an „72 Seasons“ macht Hammett auch am Beispiel Trujillo fest. Der Bassist hat gleich an drei Tracks mitgeschrieben, einer davon, ‚Screaming Suicide‘, ist einer der stärksten und eindringlichsten Titel auf dem Album. Die anderen beiden sind ‚Sleepwalk My Life Away‘ und ‚You Must Burn‘.

Aber zurück zu Greg Fidelman, dessen Rolle, und ihre Wichtigkeit, Kirk Hammett wie folgt beschreibt: „Greg ist der Mann, der die Übersicht hat. Er ist bei jedem Schritt dabei, er überwacht alles. Wir kommen rein und erledigen unseren Teil, machen unsere Parts, und Greg sorgt dafür, dass alles konsistent ist, dass wir alle auf derselben Ebene sind und alles gut zusammenpasst. Er ist sehr wertvoll geworden, weil er bereit ist, die unverschämt lange Zeit zu investieren, die es braucht, um ein Metallica-Album aufzunehmen und fertigzustellen. Das ist wahrlich kein schneller Prozess, sondern einer, der Monate, manchmal Jahre dauert. Greg Fidelman ist derjenige, der die Geduld, die Mittel, die Intuition und den Fokus hat, um sicherzustellen, dass alles musikalisch zusammenkommt und stimmig ist. Und das ist keine leichte Aufgabe. Für mich ist er der König, wenn es um den Aufnahmeprozess geht.“

Lars Ulrich (Pic Gage Skidmore, CC BY-SA 3.0,)

Die Metallica Musiker, insbesondere James Hetfield und Lars Ulrich, sind selbstbewusste und willensstarke Persönlichkeiten, die genau wissen, was sie wollen und ihre eigenen Vorstellungen haben. Um als Produzent in diesem Umfeld bestehen zu können, ist diplomatisches Geschick wohl ebenfalls eine gefragte Qualität.

Absolut,“ bestätigt Kirk Hammett, „Umso mehr, wenn wir alle weit voneinander entfernt arbeiten und interagieren müssen. Greg bringt uns zusammen, hat einen konkreten Plan, was zu tun ist, und er kann uns auf das Wesentliche fokussieren. So müssen wir uns nur auf drei oder vier Dinge konzentrieren, die an diesem Tag erledigt werden müssen, und schon haben wir es geschafft. Anstatt uns durch 200 oder mehr Details quälen zu müssen, um schließlich diese drei oder vier Dinge zu finden, aber völlig ermüdet und erschöpft zu sein, wenn wir endlich so weit sind. Mit anderen Worten: Er hat sich also durch eine Menge Lärm gekämpft, um ein Signal zu finden.

Es ist offensichtlich, dass Band und Produzent sich über die Jahre hinweg gut kennengelernt haben und dass Metallica Greg Fidelman nicht nur vertrauen und seine fachliche Kompetenz anerkennen, sondern ihn zudem als Autoritätsperson akzeptieren.

Er muss sich auskennen, und er muss gute Sounds, gute Mischtechniken und eine gute Produktion beherrschen. Denn jeder von uns könnte sich hinsetzen“, wiederholt Kirk Hammett, „und den Job erledigen, falls nötig. Die Frage ist allerdings, ob wir das an diesem Punkt unseres Lebens und unserer Karriere überhaupt noch wollen. Zehn Monate lang zehn Stunden am Tag im Studio sitzen? Das war okay, als wir in unseren Dreißigern oder Vierzigern waren, aber das ist jetzt etwas anderes. So viele andere Sachen spielen heute eine Rolle in unserem Leben. Wir haben alle Familien. Wir alle haben Verantwortung. Da ist es sehr hilfreich, dass wir Greg an diesem Punkt unseres Lebens haben. Er ist vertrauenswürdig, er hat, wie ich schon sagte, denselben Instinkt wie wir. Wir vertrauen seinem Gehör und seinem Gespür. Es hilft unserer Perspektive, wenn wir jemanden wie Greg um uns haben. Wir profitieren von seinen Ideen, er weiß, was funktioniert und was nicht. Das ist großartig. Ich sage das nur ungern und es klingt wie ein Klischee, aber er ist das neue fünfte Mitglied von Metallica.“

Metallica haben es Fans und Kritikern in der Vergangenheit manchmal nicht einfach gemacht. Immer wieder haben sie bewusst musikalisches Neuland betreten und sich auf Experimente eingelassen, die nicht alle nachvollziehen konnten. Die Zusammenarbeit mit Lou Reed war so eins, die in dem Album „Lulu“ (2011) mündete und die Metallica-Gemeinde und Kritiker in Lager teilte, die einander beinahe unversöhnlich gegenüberstanden. Die einen hassten das Album, eine an Alban Bergs unvollendete Oper ‚Lulu‘ angelehnte Vertonung von Frank Wedekinds Tragödien ‚Erdgeist‘ und ‚Die Büchse der Pandora‘, die anderen liebten es und sahen es als ein Meisterwerk moderner Musik. Für meinen britischen Kollegen JR Moores war es gar eins der zwei wichtigsten je veröffentlichten Alben (das andere ist laut John „Metal Machine Music“). Ich würde zwar nicht so weit gehen wie John, aber gehöre dennoch zu denen, die das Album für einen sträflich unterbewerteten Meilenstein halten. Nach Experimenten oder selbstironisch- autobiographischem Material wie dem Country-Blues ‚Mama Said‘ vom „Load“-Album sucht (oder hofft) man auf „72 Seasons“ vergeblich. Stattdessen ist das Album roh, düster und aggressiv geraten, die oben schon erwähnten Reminiszenzen an „And Justice for all….“ und „The Black Album“ sind unüberhörbar.

Absicht? Eher nicht, erklärt Kirk Hammett, und fügt hinzu, dass man in der Vergangenheit zwar oft mit dem Vorsatz ins Studio gegangen sei, ein Album aufzunehmen, das an die alten Tage erinnere, doch dass diesmal ein anderes Anliegen im Vordergrund gestanden habe, die Rückbesinnung auf die eigenen musikalischen Vorbilder nämlich: „Wir sahen uns nur an und sagten ein Wort oder fünf Wörter: Neue Welle. Neue Welle des britischen Heavy Metal. Okay, sechs Wörter. Und genau das haben wir dann getan. Ich hatte Diamond Head im Sinn und Tygers of Pan Tang, Motörhead, Angel Witch oder Jaguar, Du weißt schon, so was in der Art. „And Justice for All“ oder das „Black Album“ war das Letzte, was ich Sinn hatte, um ehrlich zu sein. Umso überraschender ist es dann für mich, dass jetzt von allen Seiten die Vergleiche mit gerade diesen beiden Alben auf uns hereinprasseln. Eine schöne Überraschung allerdings.“

Die in den Songs durchklingenden Emotionen wie Wut und Frustration seien jedoch nicht der fernen Vergangenheit geschuldet, sondern den Krisen der Gegenwart, fährt Kirk Hammett dann fort: „Ich sehe dieses Album als eine Reaktion auf alles, was in den letzten drei Jahren in den Vereinigten Staaten passiert ist. Diese drei Jahre in diesen verdammten Staaten waren völlig verrückt. Sie waren unvorhersehbar, chaotisch, frustrierend und haben jeden wütend gemacht.

Die Rede ist hier nicht nur von COVID-19, erzwungener Isolation, und Impfdebatten, sondern auch von Donald Trumps versuchtem Staatsstreich, dem Sturm aufs Kapitol, dem gewalttätigen Auseinanderdriften Amerikas in zwei Lager, die sich zunehmend unversöhnlich gegenüberstehen und, schließlich, der völlig veränderten internationalen Lage.

 „Ich habe das Gefühl, dass diese Songs all diese Emotionen in sich vereinen. All diese Emotionen, denke ich, haben sich in diesem Album in unseren Köpfen festgesetzt. Und es ist immer unbewusst oder unterbewusst, denn man kann sich nicht hinsetzen und sagen, okay, ich bin verdammt sauer. So funktioniert das nicht. Man setzt sich einfach hin, macht den Kopf frei und spielt. Und die Emotionen, die dann rauskommen, sind echte, wahre, ehrliche Emotionen. Und die Emotionen, die herauskamen, waren groß und wütend, frustrierend, chaotisch. Ich denke, die Musik fängt das ein. Deshalb überrascht es mich in der Nachschau auch nicht, dass sich auf dem Album keine einzige Ballade findet, nichts, das auch nur annähernd ruhig ist, schön und anrührend. Dieses ganze Album ist ungemein intensiv, wütend, aggressiv, feindselig, konfrontativ. Purer Heavy Metal eben, so wie wir es verdammt noch mal mögen. Und wenn die Vergangenheit mir recht gibt, wenn wir etwas mögen, dann stehen die Chancen gut, dass unsere Fans es auch mögen.“

Obgleich sich auf dem Album keine einzige Ballade findet, verbergen sich in den Songs doch viele kleine und einige ganz große Melodien. Eine von der letzteren Sorte findet gegen Ende von ‚Room Of Mirrors‘, eine wunderschöne Gitarrenharmonie, die an Thin Lizzy erinnert, an Gary Moore, vielleicht sogar an Wishbone Ash. Ein bewusstes Zitat?

Ach,“ lacht Kirk, „wir sind alle seit frühester Jugend glühende Thin Lizzy-Fans. Wenn also ein Gitarrenpart mal nach Gary Moore klingt, egal ob von mir oder James gespielt, dann ist das durchaus eine Hommage, manchmal eine bewusste, manchmal eine unbewusste, aber wir stehen beide unbedingt dazu.“

James Hetfield, Showcase in London 1998, pic: Edgar Klüsener

Die Texte nehmen die grundlegenden Stimmungen der Musik auf und kanalisieren sie. Wie schon so oft sind sie selbstreflexiv, spiegeln die innere Zerrissenheit Hetfields wieder, den Kampf gegen die eigenen Dämonen, lassen aber Raum für unterschiedliche Interpretationen. Hetfield selbst schweigt sich meist aus über seine Texte und deren Bedeutungen, und die anderen Musiker fragen ihn auch nicht danach, sondern respektieren die Haltung. Für Kirk Hammett schließt diese Akzeptanz von James Hetfields Rolle als alleiniger Texter ein, dass er nur dann Texte für seine eigenen Songbeiträge schreibt, wenn er von Hetfield explizit dazu aufgefordert wird. Doch obwohl Hetfield seine Texte nicht erklärt, begreifen seine Mitmusiker ihre Bedeutung oft intuitiv: „Einige der Texte sind für mich offensichtlich; ich weiß worüber er singt, weil ich James kenne. Er ist mein Bruder, also verstehe ich viele der Anspielungen, die er macht.“

Lyrics wie die von ‚Screaming Suicide‘ oder dem mächtigen ‚Crown of Barbed Wire‘ haben eine poetische Qualität, die seinen Bandkollegen in Kirk Hammetts Augen erneut als herausragenden – und immer noch sträflich unterbewerteten – Lyriker bestätigen.

Ich habe schon oft gesagt, dass James ein Dichter ist, der ein Gespür für Sprache hat und definitiv eins für den Rhythmus und die Bedeutung hinter den Worten. Bei diesem Album sind es vor allem die Texte, die mich umhauen. Aber nicht nur die Texte, sondern auch die Phrasierung am Anfang und am Ende des Liedes. Ich denke, James‘ Gesangsleistung auf diesem Album ist mit das Beste, was er je gemacht hat. Es war das erste Mal, dass er in seinem eigenen Haus gesungen hat. Mit ein paar Mikrofonen, ein paar Mikrofon-Vorverstärkern und ein paar Kompressoren, direkt in Logic oder Pro Tools oder was auch immer er benutzt. Und er sagte, dass es einfach einen großen Unterschied in der Performance macht, wenn man entspannt ist und zu Hause aufnimmt. Und ich sagte zu ihm: Das merkt man, Bruder, denn es ist verdammt gut.“

Was auffällt, sind die Anleihen bei religiöser Symbolik in einigen Songs wie ‚Crown of Barbed Wire‘ oder der bereits ausgekoppelten Single ‚Lux Æterna‘. Das ‚ewige Licht‘ (Lux aeterna), auf das Hetfield hier Bezug nimmt, brennt Tag und Nacht in christlichen Kirchen wie in Synagogen am Tabernakel und zeigt die Gegenwart Christi (im Christentum) und Gottes (im Judaism) an.

Dass der Sänger und Gitarrist eine spirituelle Ader hat, gesteht Hammett durchaus zu: „Nun, James hat einen spirituellen Aspekt, genau wie ich einen spirituellen Aspekt in mir habe. Der spirituelle Aspekt von James basiert auf dem Christentum, während mein spiritueller Aspekt eher im Osten und im Nondualismus angesiedelt ist. Wir koexistieren und treffen uns oft in unserer Spiritualität. Aber wir haben unterschiedliche Ansätze und unterschiedliche Ansichten. Wann immer er also über etwas Spirituelles oder Christliches nachdenkt, respektiere ich es vollkommen. Und wenn es das ist, worüber er singen will, dann soll es so sein.“

Das bereits thematisierte neue Chaos in der Welt beschränkt sich natürlich nicht nur auf die USA. In Europa hat Putins expansionistisches Streben nach der Restauration alter Sowjetmacht die alte Nachkriegsordnung, und damit eine 70jährige europäische Friedenszeit (nein, den Balkankrieg haben wir nicht vergessen, aber er hat die Nachkriegsordnung weit weniger erschüttert), endgültig über den Haufen geworfen und Krieg wieder Alltag werden lassen. Der Aufstieg Chinas zur zweiten Supermacht hat die globalen Machtverhältnisse gravierend verändert, und die Demokratie als Form der politischen Selbstorganisation ist weltweit, auch im Herzen Europas, auf dem Rückzug. Kalte und heiße Kriege haben selbstverständlich Auswirkungen auf eine Band, die ihre Fans auf allen Seiten der Frontlinien hat. Konzerte in Kiew oder Moskau dürften für Metallica vorläufig nicht mehr auf dem Programm stehen.

Als besonders schmerzhaft allerdings empfindet Kirk Hammett, dass „…es für uns so aussieht, als würden unsere Fans gegen unsere Fans kämpfen. Das ist es, was hier passiert. Ja, ich weiß, es geht um mehr als das. Es sind Menschen, die gegen Menschen kämpfen. Aber für mich kommt ein persönliches Element hinzu. Wenn ich es als einen blutigen Kampf von Metallica-Fans gegen andere Metallica-Fans betrachte, bricht es mir das Herz.“

Dass der Status und die damit verbundene Prominenz nicht nur ein Segen sind, hat Kirk Hammett schon vor langer Zeit erkannt. Seine mentale Gesundheit hatte lange unter dem öffentlichen Druck gelitten, mit dem er sich als Metallica Musiker auseinandersetzen musste. Einen Halt fand er schließlich in seiner Hinwendung zur Spiritualität: „Es ist wichtig, sich mit etwas verbinden zu können, das größer ist als man selbst. Es ist wichtig zu wissen, dass der Anfang und das Ende des Universums nicht bei einem selbst beginnt. Wenn du wie ich psychische Probleme hast, aber auch eine Berühmtheit bist, dann müssen die Realitäten irgendwann miteinander kollidieren und in eine Krise münden. Ich hatte zahlreiche Krisen in meinem Leben. Meine Spiritualität und Nüchternheit halten mich heute auf dem Boden der Tatsachen. Spiritualität gibt mir das Gefühl, dass ich immer noch Teil der menschlichen Rasse bin. Sie hält mich davon ab, mich über oder unter allen anderen zu sehen. Am Ende ist alles außer der Musik irgendwie nur Blödsinn. Wenn man wirklich spirituell ist, durchschaut man den ganzen Scheiß. Deshalb denke ich, dass Religion und Spiritualität wichtig sind, besonders wenn man sich in einer Situation befindet, in der die Menschen von einem Inspiration, Führung und Positivität erwarten.“

Das Thema geht Kirk hörbar nahe. Treffend beschrieben haben diese Erfahrung seiner Meinung nach die Musiker von Black Sabbath, als sie ihr Greatest Hits Album schlicht ‚We Sold Our Souls To Rock‘n’Roll benannte: „Es ist wirklich großartig, 100 Millionen Alben zu verkaufen und all diese Ressourcen zu haben und in der Lage zu sein, ein anständiges Haus für deine Mutter zu kaufen und eine schöne Gitarre zu haben. Aber verdammt, Mann, wie viele meiner Freunde, die ich in den frühen 80ern um mich hatte, haben es nicht bis hierher geschafft? Eine Menge, Bruder. Viele meiner Freunde, die eine Überdosis nahmen, begingen Selbstmord. Es ist eine brutale Branche. Und im Nachhinein ist Sex, Drogen und Rock ’n‘ Roll der größte Mythos und so schädlich für die Gesundheit und das Wohlergehen und die verdammte Entwicklung eines Menschen. Ich wünsche, ich hätte es besser gewusst, als ich jung war und damals Sex, Drogen und Rock’n’Roll einfach ignoriert. Wenn man das jahrzehntelang gemacht hat, ist man am Ende eine ziemlich leere Hülle, und dann muss man seine Seele suchen und kommt schließlich zu dem Schluss, dass Sex, Drugs and Rock’n’Roll nur eine seltsame verdammte Mythologie ist. Worauf es am Ende nur ankommt, ist ausschließlich die Musik.“

Musik soll denn auch weiter im Vordergrund stehen, von Herzen kommende, wütende, manchmal an der Welt verzweifelnde und oft frustrierte Musik, wie sie so nur von Metallica kommen kann. Die Band hat mit „72 Seasons“ ein Album vorgelegt, das sosehr den gegenwärtigen Zeitgeist beschreibt wie schon seit langem keine Veröffentlichung mehr.

Edgar Klüsener

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Aktuell Musik Reportagen Zeitgeschichten

Barrieren überwinden: The Scorpions in Leningrad 1988

In den späten Achtzigern fegte ein Sturm durch Europa, der alte Gewissheiten über den Haufen warf und Systeme zerbröckeln ließ. Der Eiserne Vorhang, seit Ende des Zweiten Weltkriegs die beinahe unüberwindliche Barriere im Herzen Europas, rostete rapide und die Löcher in ihm wurden immer größer, bis er schließlich mit dem Berliner Mauerfall endgültig in Fetzen riss. Eine willkommene Folge war die Öffnung des bis dahin beinahe hermetisch abgeschlossenen Osten Europas für westliche Popkultur – und damit für deutsche Bands. Eine Reihe von Zeitgeschichten schildern Aufbrüche in Ost und West, erste zaghafte Reisen westlicher Musiker hinter den Eisernen Vorhang, Andeutungen künftiger Umwälzungen und Revolution, das Keimen von Hoffnungen,, die am Ende auf den Schlachtfeldern der Ukraine einmal mehr – Geschichte wiederholt sich doch, wenn auch in immer etwas anderen Szenarien – im Blut ertrinken. Insgesamt fünf Zeitgeschichten reflektieren eine sehr kurze Periode von gerade einmal fünf Jahren. Den Anfang macht diese hier, die  Schilderung des ersten Besuchs der Scorpions in der Sowjetunion im April 1988. Im September 1988 fuhr ich dann mit den Toten Hosen nach Litauen, wo eine erstarkende Unabhängigkeitsbewegung immer öffentlicher wurde. Im tiefen Winter 1988 traf ich in Moskau Stas Namin, Bon Jovi und andere Akteure, die ein sowjetisches Woodstock auf die Beine stellen wollten. Das fand dann im August 1989 statt, und ist das Thema einer weiteren Zeitgeschichte. Die letzte Zeitgeschichte in dieser Reihe beschreibt die Reise von Kreator in den frühen Neunzigern in ein Moskau, das sich bereits rapide verändert hatte. Die Sowjetunion gab es nicht mehr, Grenzen wurden überall neu gezogen, und Russland verstand sich zunehmend als Verlierer der friedlichen Revolution, die Europas Angesicht von Grund auf verändert hatte. In Moskau wie im Rest Russlands wurden die nationalistischen Töne immer lauter und ein düsterer Revanchismus wurde zur Ideologie zumindest in rechten Kreisen. Mit dieser Zeitgeschichte endet dann der Russland-Zyklus. 

In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts war Westeuropa zusammengewachsen und die Grenzanlagen wurden immer durchlässiger. Man besuchte sich zwanglos, lebte im einen Land und arbeitete im anderen – eine neue, europäische Realität formte sich, die von den Bürgern auch als solche erlebt wurde. Die Spaltung des Kontinents, und damit die Spaltung Deutschlands, in Ost und West allerdings bestanden fort. Die tiefgreifenden Veränderungen und Revolutionen der späten Siebziger und frühen Achtziger fanden im Westen zunächst im Stillen statt und wurden vor allem von neuen Technologien angetrieben. Die Achtziger waren das Jahrzehnt, in dem eine technologische Revolution anfangs kaum merklich Fahrt aufnahm, die am Ende die Musikindustrie in ihren Grundfesten erschüttern sollte. Erschüttert und über den Haufen geworfen wurde auch ein für alle Mal die Art und Weise, in der Musik gehört, erlebt, empfunden und konsumiert wird.

Revolutionen sind weder gut noch böse. Wie auch immer sie enden, ob mit einer Republik, mit einer Demokratie, einem sozialistischen Staat, einer totalitären Diktatur oder einer islamischen Republik – ihr eigentliches Wesen ist die radikale Veränderung, nicht die neue Ordnung danach. Politische Revolutionen müssen nicht unbedingt von unten kommen, begonnen und ausgefochten von Kräften, die in Opposition zur existierenden Ordnung stehen und diese verändern wollen. Revolutionen können auch von oben initiiert werden. Manchmal reicht dazu ein einfacher Verwaltungsakt, die Anweisung, ein Element des Status Quo zu modifizieren. Die Folgen dieses Verwaltungsaktes scheinen absehbar und wohl kalkulierbar. Doch kein Verwaltungsakt kann für sich allein stehen, jeder bewirkt eine Veränderung am Gesamtgefüge, die zwangsläufig weitere Veränderungen nach sich zieht. Und plötzlich kommt eine Lawine ins Rollen, die der ursprüngliche Verwaltungsakt sicherlich nicht auslösen sollte, die aber unaufhaltsam die alte Ordnung zerstört.

Michail Sergejewitsch Gorbatschow wurde im März 1985 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gewählt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Land bereits in einer tiefen ökonomischen Krise. Der 1979 begonnene Krieg in Afghanistan hatte sich zum sowjetischen Vietnam entwickelt, ein Konflikt, der enorme Massen an Kapital und Material verschlang und viele junge Sowjetsoldaten das Leben kostete. Dieser Krieg, das war sowjetischen Militärs und einigen hellsichtigen Mitgliedern des Politbüros bereits 1985 klar, konnte mit konventionellen Mitteln nicht gewonnen werden. Wenn er überhaupt gewonnen werden konnte. Ein Blick in die Geschichte des späten 19. Jahrhunderts hätte den Sowjets eine Warnung sein sollen, als sie sich am 25. Dezember 1979 dazu entschieden, militärisch in den afghanischen Bürgerkrieg einzugreifen. Denn bereits im ersten Anglo-Afghanischen Krieg vom Juli 1839 bis Oktober 1842 hatte das britische Empire eine empfindliche Niederlage gegen afghanische Stammeskrieger einstecken müssen und über 20.000 Mann verloren.

Die Belastungen durch den Krieg, ein erstarrtes und unflexibles Wirtschaftssystem, das nach den planerischen Prinzipien der US-amerikanischen Ingenieure Taylor und Ford organisiert war, veraltete Industrien und ineffiziente Verwaltungsstrukturen hatten die UdSSR in eine politische und ökonomische Krise schlittern lassen, die durch die Kosten des Rüstungswettlaufs mit dem Westen noch dramatisch verschärft wurde.

Gorbatschow wollte sich diesen Problemen mit einem reformerischen politischen und ökonomischen Ansatz stellen. Die Leitlinien, verkündet direkt nach seinem Amtsantritt im April 1985, hießen Umbau des Systems (Perestroika) und Transparenz (Glasnost). Umbau allerdings nicht als Revolution, sondern als Reform, als kontrollierte Veränderung, initiiert durch Verwaltungsvorschriften und gezielte Eingriffe in die Mechanismen von Institutionen. Glasnost bedeutete vor allem, dass Missstände offen kritisiert werden sollten; in der Tradition von Kritik und Selbstkritik sollte die Benennung von Fehlern zu deren Behebung führen. Die Verwaltungsvorschriften waren erlassen, der Plan wurde in die Tat umgesetzt. Welche weitreichenden Folgen vor allem Glasnost haben sollte, war im April 1985 unmöglich vorhersehbar.

Dass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurden (zuvor traten Uriah Heep 1987 zehnmal in Moskau auf).

Scorpions, Crew und Journalisten vor der Konzerthalle (und der Autor im Vordergrund)

Leise dümpelte der Panzerkreuzer Aurora vor sich hin, mit dem Ufer der Newa fest verbunden durch einen stählernen Laufsteg. Aus seinen Kanonen hatten meuternde russische Matrosen in der Nacht vom 25. Oktober 1917 mit Platzpatronen das Signal zum Sturm auf den Winterpalast des Zaren gegeben, der Startschuss für die Russische Revolution, die das Ende des Zarenreiches einläutete und mit der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken enden sollte. Die UdSSR schien an jenem kalten Apriltag 1988 noch unerschütterlich, an dem sich eine Gruppe junger Männer mit langen Haaren, gekleidet in nietenbeschlagene Lederjacken und hautenge schwarze Lederhosen, an den Füßen silberbeschlagene Cowboystiefel, die Augen verborgen hinter dunklen Sonnenbrillen, vor dem Laufsteg drängelte und Einlass suchte in das zum Revolutionsmuseum umfunktionierte Kanonenboot. Westliche Dekadenz in Reinkultur, so mag diese Gruppe ungläubig schauenden Leningradern erschienen sein. In ihrem Gefolge fand sich ein Tross von Fotografen, Journalisten, Freunden und Betreuern, alle vom Erscheinungsbild her unverkennbar westlich und in deutscher und englischer Sprache wild durcheinander palavernd.

In einigen Metern Entfernung von der auffälligen Reisegruppe lungerten einige russische Teenager herum, die sie aufmerksam beäugten. Einer hielt das sowjetische Äquivalent eines Ghettoblasters im Arm. Er lächelte zu den Westbesuchern hinüber und drückte auf den Startknopf des Kassettenspielers. Aus den Lautsprechern dröhnte leicht verzerrt einer der damals größten Hits der Scorpions, die Ballade „Still Loving You“. Die Jugendlichen winkten schüchtern zu der Gruppe an der Aurora hinüber, in denen sie zu Recht die Scorpions erkannt hatten. Dass sie auch auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs schon bekannte Größen waren, hatten die Musiker in den Tagen seit ihrer Anreise zu ihrer eigenen Überraschung lernen können. Der Eiserne Vorhang schien zwar politisch noch unüberwindlich, war aber nicht so hermetisch von westlicher Popkultur abgeschirmt, wie es von außerhalb erscheinen mochte.

Klaus Meine kommentierte damals mit Blick auf die Gruppe von Teenagern: „Das begann schon am Moskauer Flughafen. Obwohl wir dort nur zwischengelandet waren und die Aufenthaltszeit bis zum Weiterflug nach Leningrad (das heutige St. Petersburg) nur kurz bemessen war, tauchte dort eine Menge Jugendlicher mit tragbaren Kassetten-Rekordern auf, die sie uns entgegenhielten und aus deren Lautsprechern unsere Songs schepperten.

Insgesamt zehn Konzerte sollten die Scorpions in diesem kalten April in der Zarenstadt am Finnischen Meerbusen spielen. An allen Tagen war die Leningrader Sporthalle, ein imposanter Rundbau, der der Dortmunder Westfalenhalle 1 ähnelte, aber noch etwas größer war als das westfälische Juwel, restlos gefüllt. Der Ausflug in die Sowjetunion ergab wirtschaftlich wenig Sinn und war eher Ausdruck einer Lebensphilosophie, die dem Handeln der Band seit frühen Tagen zugrunde lag. Rudolf Schenker beschrieb diese damals so: „Wir wollen Neuland erkunden, want to break barriers (wollen Schranken niederreißen).

Diese Neugier auf die Welt war es, die die Band von Anfang an vorwärts trieb. Eine Neugier, die sie empfänglich machte für andere Kulturen und Lebens- und Denkweisen und die zudem die Sinne für Entwicklungen schärfte, die unter scheinbar ruhigen Oberflächen stattfanden. Was sie in Leningrad vorfanden, war eine Sowjetunion, in der ein erbitterter interner Konflikt zDass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurdenwischen Reformern und Konservativen tobte. Auf der einen Seite fand sich der Zirkel um Gorbatschow, auf der anderen deren reaktionäre Gegenspieler um Jegor Kusmitsch Ligatschow, den Gorbatschow selbst ins Politbüro der KPdSU geholt hatte und der lange Zeit als der zweite Mann nach dem Generalsekretär galt. Dass sich ein Umbruch anbahnte in der Sowjetunion – und damit in ganz Osteuropa – erkannte Klaus Meine bereits in Leningrad: „Wir spielen hier als erste westdeutsche Rockband. Wir zahlen alles aus eigener Tasche, eine Investition, die sich aber trotzdem lohnt. Wir brechen das Eis und öffnen hoffentlich Türen für andere deutsche und westliche Bands.“ Er zögerte einen Moment und fügte dann hinzu: „Solange sich die politische Lage nicht wieder verschlechtert.“ Die angesprochene Verschlechterung lag 1988 durchaus noch im Bereich des Möglichen, die Machtkämpfe innerhalb der KPdSU hatten auch direkten Einfluss auf die Konzertplanung der Scorpions gehabt.

Ursprünglich hatte die Band zunächst fünf Konzerte in Moskau und dann fünf weitere in Leningrad spielen sollen, doch dann machten die Moskauer Behörden wegen der bevorstehenden Maifeierlichkeiten Sicherheitsbedenken geltend und sagten die Termine in der Hauptstadt kurzerhand ab. Für Klaus Meine damals zwar ärgerlich, aber:

„Hier in Leningrad ist alles so interessant und beeindruckend, dass es uns am Ende doch weniger ausmacht als gedacht. Im Gegenteil, wir kommen kaum dazu, all die Eindrücke zu verarbeiten, die in diesen Tagen auf uns einstürzen und die uns regelrecht überwältigen.“

Zu diesen Eindrücken gehörten auch die Gruppen von Fans, die sich vor dem Hotel Pulkowskaja, damals die erste Adresse in der Stadt an der Newa und mit westlichem Komfort ausgestattet, drängten. Viele waren eigens für das Konzert aus anderen Teilen der UdSSR angereist, einer hatte Eis, Schnee und bitterer Kälte getrotzt, um aus dem fernen Sibirien per Anhalter nach Leningrad zu gelangen, um seine Lieblingsgruppe einmal live erleben zu können. Als die Scorpions von seiner Geschichte erfuhren, luden sie ihn zu einem Treffen ein und arrangierten für ihn außerdem freien Eintritt für die Konzerte.

In diesen zehn Tagen verschanzten sich die Musiker nicht in der Enklave mit westlichen Annehmlichkeiten, die das Pulkowskaja bot, sondern drängten hinaus in die Stadt, um sie zu sehen, riechen, fühlen und erleben. In einer Nacht landeten sie in einem der halblegalen, stickigen und verrauchten Untergrund-Clubs Leningrads, wo eine örtliche Rockband aufspielte. KDass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurdenDass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurdenurzentschlossen sprangen sie auf die Bühne und das zunächst verdutzte, dann begeisterte Publikum erlebte eine ausgedehnte Jamsession mit Musikern beider Bands. Später erinnerte sich Gitarrist Matthias Jabs mit Schaudern an das Equipment der Russen: „Die Verstärker lieferten eine Art Apfelsinenkisten-Sound, die Gitarren waren ‚Marke Eigenbau‘ und der Club war kaum mehr als ein mittelprächtiger Übungsraum. Der Sound war schrecklich, aber es hat dennoch mächtig Spaß gemacht. Bei der Gelegenheit ist mir erstmals so richtig klar geworden, unter welch miserablen Bedingungen russische Musiker arbeiten müssen.

Rockmusik, das machte nicht nur dieser nächtliche Ausflug in den subkulturellen Untergrund Leningrads klar, hatte sich in der Sowjetunion längst etabliert. Singles und Langspielplatten wurden seit Jahren aus dem Westen kontinuierlich ins Land geschmuggelt oder ganz einfach dreist und ohne Rücksicht auf irgendwelche westlichen Copyrights von der staatlichen Plattenfirma Melodija kopiert und in beachtlichen Stückzahlen an die sowjetische Jugend verkauft. Rockmusik kam auch über den Äther: Amerikanische Propagandasender wie Radio Free Europe/Radio Liberty oder Voice of America strahlten sie gezielt in den damaligen Ostblock aus. Rockbands gab es in jeder größeren Stadt und sie hatten durchaus ihr Publikum. Einige wie die Schwermetaller Kruiz oder Shah machten Ende der Achtziger des vergangenen Jahrhunderts bereits im Westen von sich reden.

Als Vorband hatte das staatliche Veranstaltungs- und Konzertbüro Goskonzert die Moskauer Band Gorki Park engagiert, eine melodiöse Hardrockband, die sich nicht nur musikalisch, sondern auch modisch stark an amerikanische Vorbilder anlehnte. Gorki Park symbolisierten in mancher Hinsicht den Wandel, der sich innerhalb der Sowjetunion vollzog. In den Straßen der kalifornischen Hair Metal-Metropolen oder Londons wären die Musiker mit ihren Ledermonturen, den hautengen Röhrenjeans und den langen Haaren kaum aufgefallen, in der sowjetischen Metropole am Finnischen Meerbusen sah die Sache 1988 noch etwas anders aus.

Gorki Park-Gitarrist Alexey Belov hatte sich bereits einen Namen erspielt, lange bevor Michail Gorbatschow die Wende einleitete. Mit diversen Formationen hatte er Platten veröffentlicht, von denen in der UdSSR mehrere Millionen Exemplare verkauft worden waren. An den Umsätzen, die die staatliche Plattenfirma Melodija mit diesen Alben erzielte, waren die Musiker allerdings nicht beteiligt, wie Belov in Leningrad leicht angesäuert beklagte: „Bezahlt wurden wir einmalig pro aufgenommene Minute Musik. Wenn also die Gesamtzeit einer LP hundert Minuten betrug, dann erhielt ich – vorausgesetzt, die Gitarre war die ganzen hundert Minuten lang zu hören – exakt hundert Rubel. Das war‘s, keine Kopeke mehr oder weniger, ganz egal, wie viele Platten anschließend verkauft wurden. Deswegen habe ich mir, sobald sich das politische Klima zu verändern begann, Musiker gesucht, um eine Band nach westlichem Muster zu formen, mit der ich professionell arbeiten kann.

Die Musiker fand er schnell in der Moskauer Szene. Wichtiger noch, er fand mit Stas Namin einen Manager, der nicht nur selbst Musiker war, sondern zudem West-Erfahrung hatte und der eine entscheidende Rolle bei der Organisation des Moscow Music Peace-Festivals ein Jahr später spielen sollte.

Stas Namin war einer der wenigen ganz großen sowjetischen Popstars der frühen Achtziger, deren Platten auch außerhalb des Ostblocks erfolgreich waren und es in amerikanische und australische Hitparaden schafften. Als Gorbatschow damit begann, seine Ideen von Glasnost und Perestroika in die Praxis umzusetzen, erkannte Stas Namin schnell, welche Möglichkeiten ihm die Liberalisierung des sowjetischen Kulturbetriebs eröffneten. Als erster Sowjetbürger gründete er eine private Management- und Produktionsfirma, die auf westliches Know-How zurückgreifen konnte. In seinem Moskauer Gorki Park-Musikcenter stellte er Übungsräume bereit und baute ein semiprofessionelles Tonstudio auf. Dazu kamen eine professionelle Managementfirma, eine eigene Tontechnik, ein Restaurant und eine Freiluftarena im Gorki Park, direkt am Ufer der Moskva. Stas Namin hatte Gorki Park auch die Konzerte im Vorprogramm der Scorpions vermittelt und war mit der Band an die Newa gereist. Für die Scorpions sollte sich dieser erste Kontakt mit Stas Namin noch als sehr wichtig erweisen.

Ohne die bemerkenswerte Fähigkeit der Scorpions, schnell Freundschaften zu schließen und nützliche Kontakte zu pflegen, wären diese Konzerte in der UdSSR im Frühjahr 1988 kaum möglich gewesen, was auch Klaus Meine betont: „In die UdSSR sind wir über den Umweg Ungarn gekommen. Dort hatten wir mit dem Konzertveranstalter Laszlo Hegedus zusammengearbeitet, der wiederum hatte Beziehungen in die Sowjetunion, die er für uns hat spielen lassen.“

In Leningrad spielten die Scorpions vor einem bunt gemischten Publikum, in dem sich Heavy Metal- und Rockfans ebenso fanden wie biedere Familien, die der Hauch des Exotischen angelockt hatte, und viele Soldaten und Milizionäre in Uniform. So gemischt das Publikum auch war, die Resonanz war überwältigend und festigte den Status der Band in der Sowjetunion.

Für die Scorpions war der erste Abstecher in die Sowjetunion keine Konzertreise wie alle anderen. Noch trennte der rostende Eiserne Vorhang zwei grundverschiedene Welten voneinander. Doch 1988 wurden die ersten Risse und Rostlöcher schnell größer und die Grenzen damit zunehmend durchlässiger. „In Leningrad haben wir uns zum ersten Mal als deutsche Band gefühlt“, reflektiert Klaus Meine. „Bis dahin waren wir vor allem eine internationale Band, die zufällig aus Deutschland kam. Aber Leningrad ließ sich nicht mit London, Rio oder Los Angeles vergleichen. In Leningrad, wie überall in Osteuropa, hatten Deutsche nur wenige Jahrzehnte zuvor fürchterlich gewütet. Und da kamen wir nun als deren Kinder in diese Stadt und wurden gastfreundlich aufgenommen. Uns blieb nur, Demut zu zeigen. Für großspuriges Auftreten oder Rockstar-Gehabe war da schlicht kein Platz. Unsere Väter kamen mit Panzern, wir kamen mit Gitarren.“

C 1988/2020/2021 Edgar Klüsener,

Veröffentlicht unter anderen in Metal Hammer Germany, UK, Spain, Greece, France, Spain and Hungary. Auszüge außerdem im Buch ‚Wind of Change‘ (Hannibal 1993)

 

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Wodka, Kaviar und Bon Jovi… Moskauer Tage und Nächte…

Diese Zeitgeschichte erzählt von einigen kalten Wintertagen Ende 1988 in der russischen Hauptstadt Moskau. Damals gab es noch die Sowjetunion, Mikhail Gorbatschow war der neue Vorsitzende der KPdSU und hatte gerade sein Programm der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erneuerung gestartet. Glasnost und Perestroika waren die Schlagworte für Konzepte gesellschaftlicher Erneuerung, die nicht nur im Sowjetblock die Menschen elektrisierten. In der Folge zeigte der Eiserne Vorhang, der Europa in der Zeit des Kalten Krieges in zwei hermetisch voneinander abgeschottete Hälften, geteilt hatte, erste Rostlöcher. Durch diese schlüpften auch westliche Rockbands. Im April 1988 war ich mit den Scorpions in Leningrad später im selben Jahr dann mit den Toten Hosen und Ülo in Litauen, damals noch eine Teilrepublik der Sowjetunion. Die Winterreise, der dritte Ausflug in die Sowjetunion im Jahr 1988, von der in der Folge die Rede sein wird, hatte zwei Gründe. Zum einen war ein Treffen mit Stas Namin anberaumt, in dem ausgelotet werden sollte, ob es eine Zukunft für eine russischsprachige Version des Metal Hammer geben könnte. Zum anderen gab es etwas zwischen Stas Namin und dem Bon Jovi-Manager Doc McGhee zu besprechen, das auf ein Großereignis im August 1989 hindeutete. 

Väterchen Frost zeigte sich streng. Minus 15 Grad bescherte er den Moskauern und dazu jede Menge Schnee. Und das bereits Ende November, zu einer Zeit also, in der sich unser heimatliches Klima noch beharrlich weigert, die Temperaturen unter die magische Marke Null sinken zu lassen, uns höchstens einmal in höheren Lagen Schneeregen und morgendliches Glatteis beschert. Was mitteleuropäischen Autofahrern jedoch durchaus schon als Grund reicht, ein bemerkenswertes Chaos auf Straßen und Autobahnen anzurichten.

Ganz anders in Moskau. Die Autofahrer der zehn Millionen Einwohner zählenden Sowjet-Metropole beherrschen ihre Vehikel in jeder Schnee- und Eislage perfekt. Ein Blick auf den Tacho beweist es: Mit 80 Sachen prescht unser Fahrer über eine Fahrbahn, die so spiegelglatt ist, wie sie aussieht, schleudert leicht in den Kurven, hat jedoch den Wagen in jeder Sekunde der Fahrt voll unter Kontrolle. Nicht unter Kontrolle ist dagegen der eigene Herzschlag, der ständig neue Spitzengeschwindigkeiten vorlegt, wenn der Wagen in hohem Tempo auf einen Fußgängerüberweg zubraust, auf dem sich Scharen von Passanten bewegen. Bremsen ? Freilich, aber doch bitteschön erst in letzter Sekunde. Es ist alles eine Frage der Gewöhnung. Die Passanten lassen sich nicht aus der Ruhe bringen, der Chauffeur nicht, nur Metal Hammer Chefredakteur Edgar Klüsener  und Metal Hammer-Herausgeber Jürgen Wigginghaus

Jürgen Wigginghaus 1988

stöhnen immer wieder gepeinigt auf und sind heilfroh, als die Fahrt am ihnen zugedachten Hotel endlich ihr Ende findet. Der Name der Unterkunft ist unaussprechlich, lässt sich aber, so versichert der uns für die Dauer unseres Aufenthaltes zugewiesene Schutzengel Sascha, bequem auf CeDeTe abkürzen. Nun denn, halten wir’s also für derhin damit. Ansonsten ist das Hotel bemerkenswert gigantisch. 22 Stockwerke, mehrere Restaurants und Bars (die um 23.00 Uhr Ortszeit schließen), Swimming Pool (überdacht natürlich) und ein professionelles Tonstudio beherbergt es ebenso wie diverse kleine Läden und Verkaufsstände. Trotzdem ist es keins von den besten der Stadt. Die befanden sich am Tage unserer Ankunft noch fest in den Händen des französischen Ministerpräsidenten Mitterand und seiner Gefolgschaft, den Delegiertinnen des Frauenverbandes der KPdSU und anderer offizieller Würdenträger und Amtsinhaber.

Dass es in der Sowjetunion bereits lange vor dem Fall des Eisernen Vorhangs eine rege Metalszene gab, war damals im Westen weitgehend unbekannt.

Aber zurück zum CeDeTe: Zum Hotel gehört außerdem eine Konzerthalle, in welcher gelegentlich auch Rockbands, darunter, man höre und staune, sogar sowjetische Speed- und Thrash-Kapellen auftreten. In der Hauptsache ist die Örtlichkeit jedoch Kongressen, Meetings und der eher seichten Muse vorbehalten.Das CeDeTe erfüllt offensichtlich alle Ansprüche. Doch nicht seinetwegen sind wir in die Metropole an der Moskwa gereist. Der Grund für den Ausflug in Eis und Schnee ist vielmehr ein Besuch im Moskauer Musik-Center, das erste privatwirtschaftlich organisierte professionelle Musik, Veranstaltungs-, Produktions- und Managementunternehmen in der Geschichte der UdSSR. Glasnost und Perestroika machten’s möglich.

Sascha holt uns eine Stunde nach dem Einchecken wieder vom Hotel ab. Mit einem neuen Wagen und einem anderen Fahrer. Auf geht’s in den Gorki Park, idyllisch und tief verschneit am Ufer der Moskwa sich dahinstreckend. „Knapp drei Kilometer des Parks„, erklärt Ssascha, „sind von der Zivilisation erschlossen, bebaut und vielfältig genutzt. Die restlichen 5O Kilometer überwuchert ein natürlicher Urwald…“ Die Erklärung beeindruckt ebenso wie die geschilderten Dimensionen. Das Musik-Center liegt Gott sei dank im erschlossenen Teil des Parks, ist also mit dem Wagen bequem erreichbar.

Und es hat ein Restaurant. Oder vielmehr eine Cafeteria, in der auch warme Mahlzeiten serviert werden. Es sind nur wenige Leute anwesend, eine kleine Gesellschaft also, die jedoch umso internationaler ist. Doc McGhee ist da, bekannt als Manager von Bon Jovi, den Scorpions, Cinderella und vieler anderer Majorbands. Bob Tulipan ist da, ein freier Promoter mit Offices in London und New York, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die Stars des Bolschoi-Ballets mit denen der Leningrader Konkurrenz vom Kirov-Ballet zusammen auf Tour zu schicken. Außerdem Dmitry V. Shavirin, Redakteur der Tageszeitung Moskovsky Komsomolets sowie der Präsident Dennis Berardi (seinen Vize hat er gleich auch noch mitgebracht) von Kramer-Guitars. Letztere beiden haben im übrigen das Management der Gruppe Gorki Park, wir haben sie Mitte letzten Jahres bereits einmal vorgestellt, übernommen. Und dann sind da noch einige ausgesprochene Schönheiten weiblichen Geschlechtes. Und zwar die letztjährige Miss Moskau, ihre Kollegin Miss Sibiria und, ebenso ansehnlich wie schüchtern, Miss Asia. Mit diesen jungen Damen hat es eine besondere Bewandtnis: Sie alle nämlich werden ebenfalls vom ‚Center‘ gemanaged. Womit sich zeigt, dass dessen Aktionsradius weit über die schnöde Rockmusik hinausreicht…

Amerika entdeckt anscheinend die Sowjetunion. Glasnost und Perestroika machen’s möglich, dass die Rockwelt West enger als bisher mit der Rockwelt Ost zusammenwächst Die Rockwelt West, Sektion West-Germany (Plattenfirmen von WEA bis BMG Ariola), wird übrigens eine Woche nach diesem Treff in der Cafeteria des Musik-Centers erneut geschlossen in Moskau sein. Diesmal um der Livepräsentation von rund 30 sowjetischen Metalbands beizuwohnen. Aber das nur am Rande.

Verlassen wir nun das Musik Center und schlendern wir zurück ins Hotel CeDeTe. Dort läuft gar nichts mehr, die Bar ist ebenso dicht wie die Souvenirshops. Nightlife auf sowjetisch? Nicht die Bohne, als Alternative bleibt nur das Bett. Aus dem es am nächsten Morgen recht zeitig wieder rausgeht. Dmitry Shavirin hat sich angesagt und will sein Interview mit dem Metal Hammer/Crash. Über diese unsere Publikation, in der SU ebenso bekannt wie unerschwinglich (80 Rubel, das entspricht einem legalen Umtauschwert von 240 DM, ist der Schwarzmarktpreis für eine Ausgabe), soll in der Moskowsky Komsomolets (Auflage immerhin gut 1 Million Exemplare täglich) eine große Geschichte erscheinen.

Das Interview

Nach dem Interview dann Sightseeing. Soweit bei dem grautrüben Winterwetter, das draußen das Bild bestimmt, von ‚Sehen‘ überhaupt die Rede sein kann. Es schneit ununterbrochen.

Sascha kommt – mit neuem Auto und neuem Chauffeur…

Sagmal, Sascha, wo bekommst Du eigentlich ständig die Fahrzeuge her?

Ich stehle sie…

Du machst waaaasss?!

Naja, stehlen ist vielleicht das falsche Wort. Ich leihe sie mir halt aus… Vom Peace Committee.

Das ‚Peace Committee‘ ist eine staatliche Organisation, die direkt dem ZK der KPdSU untersteht. Aufgabe des Komitees ist die Organisation und Durchführung aller möglichen und unmöglichen Aktionen, die der Propagierung und der Sicherung des Friedens dienen. Das Komitee lädt Delegationen ausländischer Friedensgruppen ins Land, führt Tagungen und Kongresse durch, wirbt für Frieden und Abrüstung ebenso wie für Völkerverständigung, stellt sich dabei auch schon mal gegen die eigene Regierung und gegen Armee und Partei und unterstützt offen und versteckt die Aktivitäten des Centers. Für seine Zwecke, in diesem Fall Abrüstung, wirbt das Komitee auch schon mal mit ebenso anzüglichen wie griffigen Slogans. Make Love Not War ist so einer, bekannt von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung Ende der Sechziger, und Fuck For Peace ist ein anderer, doch bitteschön jeder beherzigen sollte.

Wenn Sascha nicht gerade Metal Hammer/ Crash-Redakteure, -Herausgeber und ähnliche Leute auf Schritt und Tritt begleitet, dann arbeitet er als Dolmetscher und Betreuer ausländischer Gruppen für das ‚Peace Committee‘. Das wiederum unterhält einen eigenen Wagenpark (samt zugehöriger Chauffeure), aus dem sich Sascha denn auch schamlos, obzwar nicht ganz legal, für unsere Transportzwecke bedient Es folgt ein Abstecher in eins der riesigen Moskauer Kaufhäuser. Deren Ausstattung läßt sich kaum an westlichen Standards messen, zu frisch ist noch Perestroika und zu schlecht noch die Versorgung mit Konsumartikeln, selbst in der Hauptstadt des Eurasischen Riesenreiches. Zumindest offiziell. Auf dem Schwarzmarkt ist die Situation wesentlich besser.

Sascha: „Auf dem schwarzen Markt kann man nahezu alles bekommen. Es gibt eine regelrechte Mafia, die den schwarzen Markt kontrolliert. Vor allem georgische Bauern verdienen sich dumm und dämlich. Sie bringen nur einen Teil ihrer Erzeugnisse in den offiziellen Warenumschlag ein, der Rest versickert auf dem grauen und dem schwarzen Markt. Melonen zum Beispiel, legal in Moskau so gut wie gar nicht zu bekommen, werden auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Preisen gedealt. Bis zu 50 Rubel und mehr zahlt die Moskauer Hausfrau für eine Melone…

Vielmehr: die Hausfrau zahlt nicht, für sie ist die Melone schlicht unerschwinglich. Bezahlbar ist sie eigentlich nur für hohe Staatsbedienstete, für die neue Klasse der privaten Unternehmer und für andere finanziell Privilegierte. Wen wundert es da noch, dass es in den fruchtbaren und klimatisch begünstigten Schwarzmeer-Regionen die meisten sozialistischen Millionäre gibt?!

Wir haben, erstmals in der Geschichte der Sowjetunion, Ankunftszeit und -ort von Bon Jovi über die Tagespresse und übers Moskauer Fernsehen bekanntgemacht. Am Flughafen wird also die Hölle los sein…

Sascha grinst, als er uns dies mitteilt. Wir sind zurück im Center, wo sich die Belegschaft aufmacht, Bon Jovi am Flughafen zu empfangen. Ein Autokonvoi wird zusammengestellt, bestehend aus Wolga – 12 – Zylinder-Limousinen, BMW’s und anderen standesgerechten Fahrzeugen. „Bis vor acht Tagen war Bon Jovi in der UdSSR kaum bekannt, weit weniger jedenfalls als Bands wie die Scorpions oder Metallica. Dann haben wir unsere Medienkampagne gestartet, und jetzt kennt jeder Fan von Sibirien bis Leningrad die Jungs aus New Jersey. Ich schätze, dass am Flughafen trotz des miesen Wetters rund 7.000 Kids auflaufen werden…„, erläutert eine Mitarbeiterin des Centers. Ein Empfang also, wie er in unseren Breiten seit den seligen Zeiten der Beatles oder der Stones kaum noch einer Rockgruppe zuteil geworden ist.

Der Autokonvoi setzt sich in Bewegung, vornweg ein Polizeiauto mit eingeschaltetem Blaulicht. Damit beginnt eine der der beeindruckendsten Fahrten, die alle Beteiligten je miterlebt haben. Als gelte es, einen hochrangigen Staatsmann, von woher auch immer, sicher durch Moskau zu eskortieren, haben Milizen auf einer Länge von gut 30 Kilometern den Weg vom Center zum Flughafen, den der Konvoi nehmen sollte, durchweg für den normalen Feierabendverkehr gesperrt. Die Folge ist ein riesiger Verkehrsstau, den die an solches offenbar gewöhnten Moskauer jedoch geduldig und mit Fassung tragen.

Wie ist sowas möglich?

Auch selbst ein erfolgreicher Musiker: Stas Namin

Stas Namin„, so erklärt Sascha, “ ist ein Mann mit sehr weitreichenden Beziehungen. Die gehen bis in die obersten Spitzen des Politbüros, ermöglichen ihm also so einiges mehr als wahrscheinlich jedem anderen Vertreter der sowjetischen Rockszene…

Die Schätzungen waren nicht überzogen, runde 7.-8.000 Kids bevölkern die Hallen des internationalen Flughafens von Moskau, darunter ein Fernsehteam, sehr viele Fotografen — und erstaunlich wenig Miliz und anderes Ordnungspersonal. Die öffentliche Ordnung ist anscheinend völlig überrascht worden von dem Ansturm.

Bon Jon, Bon Jon…„, skandieren die Fans.

Und dann kommt die Band tatsächlich durch die V.I.P.-Abfertigung, eingekeilt zwischen Betreuern und Security. Nur wenige Anwesende erhaschen einen kurzen Blick auf die Amis, bevor diese dann in einem abgetrennten Bereich des Flughafens verschwinden. Recht verloren wirken die jungen Damen, die den Musikern Blumensträuße als Willkommensgruß überreichen sollten und nun vor dem Eingang zum V.I.P.-Bereich herumlungern.

Wenn schon nicht Bon Jon, dann zumindest Metal Hammer…„, mag sich so mancher Fan gedacht haben, als irgendein Schlaumeier, weiß der Teufel wie, uns als Mitarbeiter eben dieser Zeitschrift identifiziert hat. Plötzlich sind wir umkreist von unzähligen Kids, die Autogramme verlangen, Poster zur Unterschrift präsentieren, alles über Anthrax wissen wollen und über U.DO, und ansonsten den Oliver Klemm vermissen, der beim Gros der deutschsprechenden sowjetischen Metal Hammer offenkundig als der Schreiber bekannt ist. Einer Versetzung des entsprechenden Herrn ins anheimelnde Sibirien stünde damit wohl nichts mehr im Wege. Als Fehler erweist sich dann eine freundlich gemeinte Geste von Jürgen Wigginghaus, der einige Exemplare des Metal Hammer an die Umstehenden verteilen will. Er geht unter in einem Pulk von Fans und wird fast zu Boden gerissen.

Woraufhin er dann dem Fahrer die Tüte mit den restlichen Magazinen in die Hand drückt und ihn bittet, diese im Wagen zu verstauen. Bis zu diesem allerdings kommt der Fahrer nicht, weil er vorher schon auf halber Strecke von zwei Herren in grauen Mänteln beiseite genommen und verhaftet wird. Es kostet Sascha eine Viertelstunde beredter Überzeugungsarbeit, den Chauffeur aus den Klauen des KGB zu befreien.

Wir treffen Bon Jon später im Center…

So die Auskunft eines entnervten Betreuers am Flughafen. Da die staatlichen Ordnungskräfte vom Ansturm der Fans ebenso überrascht wie überfordert scheinen, muss die Band auf Schleichwegen aus dem Flughafengebäude gebracht und zum Hotel verfrachtet werden.

Apropos Bon Jovi: Die sind nicht etwa zum Spielen ins moskowitische Großreich gekommen, sondern nur und ausschließlich zum Zwecke der Promotion. Promotet werden soll ein Festival, das Mitte 1989 in Moskau stattfinden wird, organisiert von der ‚Make A Difference Foundation‘. Das schreit nach einer weiterführenden Erklärung. Hier ist sie:

20 Jahre nach Woodstock…

Die Grundidee ist simpel. Vor Genau 20 Jahren fand im amerikanischen Bundesstaat New York, im Städtchen Woodstock, ein Rockfestival statt, das als eins der bedeutendsten in die Rockgeschichte ebenso eingegangen ist wie in die Geschichte der weltweiten Jugendbewegungen. Love & Peace war das Motto, die politischen Aussagen richteten sich gegen den Vietnamkrieg, gegen Rassismus und gegen die überholten Konventionen der Elterngesellschaft. Ein anderer Aspekt war die hemmungslose Propaganda für ‚bewußtseinserweitemde‘ Drogen. Tune in, tarn on, drop out der Kernslogan, die Aufforderung überkommenen gesellschaftskonformen Konventionen den Rücken zu kehren, auszusteigen und eine neue Welt der Jugend aufzubauen — mit Drogen als unentbehrlichen Hilfsmitteln.

Der Vietnamkrieg ging tatsächlich zuende, die Gesellschaft blieb im Prinzip wie sie war, nur die Drogen erlebten einen wahren Siegeszug, in West und Ost…

Das „Woodstock Jubilee“ Festival soll nicht nur an das Ereignis vor 20 Jahren erinnern, sondern auch neue Zeichen setzen für Völkerverständigung, Frieden und eine Jugendkultur, die nach wie vor lebendig ist, weltweit. Vor allem aber soll den Drogen, die einigen der Woodstock-Teilnehmern zum tödlichen Verhängnis geworden sind, diesmal eine klare und knallharte Absage erteilt werden. Als Teilnehmer werden derzeit gehandelt:

Ozzy Osbourne

The Scorpions, Bon Jovi, Mötley Crüe, Gorki Park und Ozzy Osbourne. Bereits im Frühjahr dieses Jahres wird eine LP erscheinen, auf der die angeführten Bands Songs covern werden von Musikern oder Bands, die an Drogen-Überdosen verstorben sind. Im Gespräch sind Titel von The Who (Gorki Park haben bereits ‚My Generation‘ aufgenommen), Led Zeppelin, The Doors, Janis Joplin, Elvis Presley, Sex Pistols, AC/DC, The Rolling Stones, Thin Lizzy, Free, T. Rex, Canned Heat, Badfinger und The Yardbirds. Das Festival wird übrigens weltweit per Satellit übertragen werden. Ob es auch in Deutschland oder anderen Ländern der EG auf die Bühnen gebracht werden wird, ist zur Zeit noch unklar…

Mit Bon Jovi ist auch ein Kamerateam von MTV, der Band seit etlichen Tagen auf den Fersen, in Moskau eingefallen. Abends drängen sich im Restaurant des Musik-Centers Gäste aus aller Herren Länder, Kamerateams von MTV und dem Sowjetischen Fernsehen, Fotografen, diverse Misses (Sibiria, Asia und so fort) und sowjetische Musiker. Die Party endet jedoch bereits gegen Mitternacht…

Der nächste Tag führt Bon Jovi in den Kreml, in die Redaktion der Komsomoletz Prawda, auf den Roten Platz, wo auch die Landestelle des Mathias Rust gebührend betrachtet wird, und schließlich abends wieder ins Center. „Moskau hat ursprünglich zwei Flughäfen. Den internationalen Airport und den nationalen. Nun hat der Volksmund die Moskwa-Brücke zum Roten Platz zum ‚Rust Airport‘ ernannt. Außerdem haben die Moskauer endlich auch eine Erklärung dafür gefunden, warum der riesige Springbrunnen im berühmten Kaufhaus Gum seit einiger Zeit ständig außer Betrieb und wasserleer ist: Die Obrigkeit befürchtet, dass hier eines Tages unbemerkt ein deutsches U-Boot auftauchen könnte …„.

Der Fahrer lacht sich halbtot, als er diese Anekdote erzählt. Später dann Studiotermin im sowjetischen TiVi. 250 Millionen Zuschauer werden diese Sendung später sehen, eine erschreckende Zahl, selbst für Bon Jovi, obwohl die aus ihrer US-amerikanischen Heimat schon so einiges gewohnt sind. Das Studio ist ausgestattet wie eine gutbürgerliche Wohnung, mit Küche, Wohnzimmer und allem drum und dran. In der Küche wird Borschtsch serviert, das russische Nationalgericht, eine Kohlsuppe mit Fleischeinlage und dicken weißen Fettaugen, die wie Eisinseln auf der Oberfläche schwimmen. Nicht unbedingt jedermanns Geschmack, aber zumindest nahrhaft. Vor den Kameras wenig später Bon Jovi, Doug McGhee, Kramer-komplett, Gorki Park und der Polygram-Präsident, der bei dieser Gelegenheit nicht nur bekanntmacht, dass er Gorki Park gesigned hat und phantastische Zukunftschancen für die Band sieht (warum sonst hätte er die Parks auch signen sollen???), sondern dass er darüberhinaus noch eine Vereinbarung mit Melodija getroffen hat, die Lizensierungen von Ost nach West und umgekehrt endlich möglich macht.

Lieber Herr Bongiovi, haben sie eine Message für unsere Zuschauer???

Na klar, ich bin der festen Überzeugung, dass die Kids überall in der Welt gleich sind. Rock’n’Roll ist ihre Sprache, die von China bis Brasilien überall verstanden wird und die sie einander näherbringt. Als Rockmusiker sind wir gleichzeitig Botschafter des Friedens und der Völkerverständigung.‘‚ Na also. Gorki Park erzählen noch ein bißchen über New York und über ihre Freundschaft mit den Jungs von Bon Jovi, und das war’s dann.

Party

It’s Party-Time.. Jede Menge Mädchen, Musiker und Offizielle bevölkern das Musik-Center. Ein musikalischer Leckerbissen ist angekündigt. Vorerst jedoch wird zunächst einmal ausgiebig dem heiligen Wässerchen (Wodka) zugesprochen, und Sekt und andere Alkoholika fließen in Strömen. Entsprechend entwickelt sich die Stimmung. Ganz Wagemutige haben zudem die Möglichkeit, eine Fahrt im Pferdeschlitten entlang der Moskwa zu unternehmen. Bei Minus 20 Grad Celsius nicht gerade für jedermann die angenehmste Vorstellung. Dann schon lieber der kurze Fußmarsch durch Eis und Schnee hinauf in das kleine Studio, in dem Gorki Park sich live präsentieren.

Seitdem ich die Band das letzte Mal gesehen habe (April 1988 in Leningrad), ist sie noch um einiges besser geworden. Was nicht weiter verwundert, wenn man bedenkt, dass die Jungs sich für einige Monate in den USA aufgehalten haben, in New Jersey, wo selbst sie intensiv an sich, an ihren Englischkenntnissen und an ihrem Material gebastelt haben. Mit einigen kleinen Hilfestellungen von Jon Bon Jovi und Ritchie Sambora übrigens. Aus New York hat Gorki Park einiges an neuem Demo-Material mit an die heimische Moskwa gebracht, darunter auch ihren Beitrag zum ‚Make A Difference‘-Sampler, das Who-Cover ‚My Generation‘, ein Titel, der für die Jugend der UdSSR als Hymne eine Bedeutung erlangen könnte, die er im Westen schon lange verloren hat.

Der Set zeigt, dass Gorki Park nicht umsonst speziell in den USA so hoch gehandelt wird, wie das zur Zeit der Fall ist. Anders als Kruiz oder Master steht Gorki Park für eher kommerziellen Hardrock mit russischen Einflüssen, ist aber zugleich eine Band, die ein ungeheures Feeling für gute Melodien und Riffs hat, technisch nahezu perfekt ist, einen brillanten Sänger hat und doch voller ungezügelter Power steckt. Vor allem ‚Hit Me“, ein Song, der leichte Blues- und Souleinflüsse verarbeitet, hat das Zeug zu einem Riesenhit all over the world.

Die Band kommt an, und entsprechend ist die Stimmung im ebenso kleinen wie überheizten Studio. Eine Steigerung scheint kaum noch möglich zu sein, wird jedoch wahr, als unversehens Jon Bon Jovi, Ritchie Sambora und ihre Bandkollegen ebenfalls auf der kleinen Bühne auftauchen und alle zusammen zu einer phantastischen Session ansetzen. Blues steht auf dem Programm und alte Rockstandards. Was auch immer, es gefällt allen Beteiligten ebenso wie den einfach nur Zuhörenden. Entsprechend aufgedreht rutscht und schlindert, perfekte Gelegenheit, mal eben eine der jungen Damen unterzuhaken, die bunte Gesellschaft schließlich zurück ins Center, quer durch die Arena mit ihrer riesigen Bühne und ihren wie in einem antiken Amphitheater hochgezogenen Sitzreihen, die Platz bieten für ca. 12.000 Zuschauer.

Hier veranstalten wir im Sommer riesige Konzerte für die Moskauer Kids. Nach den Konzerten geht’s dann ab auf Flußschiffe (die Arena liegt direkt am Flußufer), auf denen wir die ganze Nacht durchfeiern können“, beschreibt Stas Namin und fügt hinzu: „Nächsten Sommer mußt Du unbedingt mal zu einem der Festivals kommen.“ Mein Wort drauf!

„Ihr Deutschen habt mir wirklich einige Probleme bereitet.

David Bryan Rashbaum, bei Bon Jovi verantwortlich für schwarze und weiße Tasten, lässt kurz ab von seinem Glas und erklärt weiter:“ Ich habe Klassik studiert, Beethoven genauso gespielt wie Bach und Mozart. Und dann bekomme ich eine deutsche Notation in die Hände und finde da eine Note, von der ich vorher noch nie gehört hatte. Ein ‚H‘ als Notenbezeichnung. Mein Gott, ich hab‘ ’ne ganze Zeit gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass das nichts anderes war als unser gutes altes amerikanisches ‚B‘.

Ritchie Sambora hat andere Probleme mit dem Deutschtum. Ein lautes Schmutz! ertönt wodkagetränkt aus seiner Ecke. Und noch einmal. Und ein weiteres Mal. Sein Lieblingswort ist ganz klar ‚Schmutz‚.

Sag mal, was bedeutet das eigentlich, dieses ‚Schmutz‘?„, fragt dann später nach.

„Ach so, Dreck, Mist und so … naja, es klingt auf jeden Fall gut.“,.

„Schmutz!“

Nebenbei bemerkt: Mischt nie Wodka mit Sekt! Die Wirkung kommt, mit leichter Zeitverzögerung, der einer Atombombe gleich!

Schmutz!

Wir werden im Dezember einige große Konzerte in Moskau spielen. Anschließend geht’s zurück nach New York, wo die Plattenfirma einen Präsentationsgig für uns arrangiert hat, als Vorprogramm eines Major-Actes und vor etlichen tausend Leuten. Das wird am 21. Januar sein…“  Originalton Gorki Park, bevor sich Alex Belov und ein Bandkollege dann mit einer jungen Ballettänzerin aus Leningrad aus dem Staub machen.

Russische Frauen sind extrem anspruchsvoll, die schafft ein Mann alleine nicht. Deshalb teilen wir uns den Spaß meist zu Dritt…“ erklärt ein völlig übernächtigter Gorki Park-Gitarrist am nächsten Morgen. Sexismus und Mysoginie sind auch in Moskau leider Rock’n’Roll-Alltag.

Weiter zur nächsten großangelegten Pressekonferenz.. Diesmal ist die schreibende sowjetische Presse geladen. Kramer-Guitars erläutern noch einmal ausführlich ihre Pläne, in der UdSSR eine Gitarrenfabrik aufzubauen und solchermaßen die Versorgung sowjetischer Musiker mit akzeptablen Gitarren zu akzeptablen Preisen sicherzustellen. Angepeilt ist ein Joint-Venture mit Stas Namins Musik-Center… Zur Erklärung: Derzeit muss ein sowjetischer Gitarrist noch bis zu 20.000 Rubel für eine professionelle E-Gitarre mit westlichem Standard hinblättern. Das entspricht guten 60.000 Mark oder drei bis fünf Jahresgehältern!!! Kein Wunder, dass die Kramer-Pläne in der Szene Begeisterung auslösen.

Immer wieder unterbrochen von kritischen Fragestellern, erklären anschließend Doug McGhee und Mister Polygram noch einmal detailliert, was sie sich so alles für 1989 vorgenommen haben, Jon Bon Jovi gibt letzte Statements und dann ist es auch schon soweit, Bon Jovi und das MTV-Kamerateam brechen auf in Richtung Flughafen und Germany, wo sie einige Tage später zusammen mir Craaft und Lita Ford auf unseren Bühnen agieren werden. Wir bleiben noch bis zum nächsten Morgen, bis es dann auch für uns heißt: „Doswidanja Moskwa.“

Aber wer weiss, vielleicht fliegen wir ja bald mal wieder hin, in die UdSSR. Schließlich gibt’s da bis heute noch keine Musikzeitung…

Nachbemerkung:

Ich flog in der Tat wieder nach Moskau, im August 1989. Und den Metal Hammer gab’s dann kurz darauf tatsächlich auch in russischer Sprache, allerdings unter dem Titel Pop/ Metal Hammer,  ein Joint Venture mit einer sowjetischen Pop-Gazette. Der Deal war sinister, und dass es schon in der UdSSR eine rege Mafia gab, die von den Brüchen und Umbrüchen der Gesellschaft besonders profitierte, sollten wir bald darauf auch lernen.

C 2022 Muzik/Quest, Edgar Klüsener (Erstveröffentlichung in Metal Hammer 12/88)

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Peter Gabriels Neue Welten

Im Herbst 1994 interviewte ich Peter Gabriel in seinen Real World Studios im idyllischen Bath. Während des Interviews erklärte er seine Sicht auf die Zukunft der Musik. In der hatten CDs, DVDs und andere solide Medien keinen Platz mehr. Die Zukunft sei, so seine Überzeugung, der Daten-Highway. Wohlgemerkt, wir schreiben das Jahr 1994, befinden uns also in einer Zeit in der Deutschland – wie der Rest der Welt – noch weitgehend offline existierte. Und wer doch schon im Netz unterwegs war, das gerade erst zum World Wide Web wurde, war zumeist Kunde proprietärer Online-Dienste wie CompuServe, AOL, T-Online oder Web.de. Die Geschwindigkeiten, die mit den damaligen Modems erzielt wurden, reichten nicht, Songs oder gar Videos zu streamen. Von den Kosten ganz zu schweigen. Und dennoch entwickelt Peter Gabriel schon damals ein Szenario, das den heutigen Kunden von Netflix, Spotify und Konsorten nur allzu vertraut sein dürfte. Eine weitere Zeitgeschichte, die übrigens im Dezember 1994 im Ruhrgebiets-Magazin Marabo erschien.

Nicht unbedingt nur wegen seiner Musik, eher auch wegen seiner technischen Neugier und Weitsicht zählt Peter Gabriel zur Speerspitze der internationalen Popmusik. Zur Weihnachtszeit deshalb der Tipp von Erzonkel Gabriel: Keine Tonträger kaufen – bald kommt der Daten-Highway…

Der Meister wirkt abgespannt und übernächtigt. Aber er macht gute Miene zum lästigen Promo-Spiel. Eine Horde europäischer Journalisten ist in die beschauliche Ruhe der Real-World-Studios eingefallen, um Neues in Erfahrung zu bringen über das Live-Album „Secret World“ und die Video-Zusammenarbeit mit dem franko-kanadischen Regisseur Robert Lepage. Viel spannender wird es, als die Rede auf neue Kommunikations-Technologien kommt, mit denen sich der Meister schon länger befasst. Eher beiläufig kommentiert Peter Gabriel eine Entwicklung, die seit geraumer Zeit die Vorständler der großen Plattenfirmen um den wohlverdienten Schlaf bringt: „Die Tage der traditionellen Tonträger sind bereits gezählt„, sagt er. „Und auch die CD-ROM ist kaum mehr als ein zwar interessantes, letztlich aber doch nur kurzes Zwischenstadium in dieser Entwicklung.

Egal, welche verschlungenen Informations-Pfade die technologische Entwicklung fürderhin auch nehmen wird, Peter ist gewappnet. Der frühere Genesis-Säger hat sich längst etabliert als Speerspitze der multimedialen Kreativ-Avantgarde. Im idyllischen Box im Südwesten Englands hat er in einer alten Mühle einen kleinen Konzern aufgebaut, der für die digitale Zukunft bestens gerüstet scheint. Unter den Dächern der Mühle und der dazugehörigen Gesindehäuser findet man ein ultramodernes HiTech-Tonstudio, ein Videostudio sowie die Büros der Gabriel-Firmen Womad und Real World. Vor allem letztere hat in jüngster Vergangenheit Furore gemacht. Hier entstand unter der kreativen Federführung Peter Gabriels eine multimediale CD-ROM, an der sich seither alle anderen Künstler mit ihren Produkten messen lassen müssen. Meistens zu deren Nachteil.

Doch der Meister ist bereits wieder einen Schritt weiter. Zwar wirkt er im Moment ein wenig abgespannt, doch belebt sich seine Stimmung sofort, als er auf künftige technologische Entwicklungen zu sprechen kommt. „Die Zukunft gehört„, begeistert er sich, „Music on demand.“ Und meint damit eine völlig neue Art des Musikkonsums, die sich in den USA bereits langsam durchzusetzen beginnt. Der Musikfreund geht nicht mehr in den nächsten Schallplattenladen, um sich dort die neueste CD seines Lieblingskünstlers zu besorgen, sondern wählt sich vom heimischen PC aus direkt in eins der Datennetze ein. Dort findet er eine reichhaltig sortierte Musikbibliothek. Er geht die Liste der Künstler durch, findet schließlich einen Song, den er immer schon hören wollte und lädt sich diesen dann auf seine Festplatte. „Das ist der Tod der klassischen Tonträger”, betont Peter Gabriel noch einmal.

Er selbst hat längst die Schaufel des Totengräbers in die eigenen Hände genommen. Denn Real World arbeitet bereits an diversen Projekten, die das virtuelle Universum der weltweiten Datennetze mit ihren bislang kaum erforschten Möglichkeiten erkunden sollen. Er ist bereit für die Zukunft und will diese mitgestalten. Ob das für die Tonträgerindustrie in gleichem Maß gilt, muss sich erst noch zeigen.

Erstveröffentlichung: Marabo 12/1994

Beitragsbild/Image: Steven Toole, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

C 2022 MuzikQuest/Edgar Klüsener

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Ein kleines bisschen Horrorschau: Mit den Toten Hosen in Litauen…

In den späten Achtzigern fegte ein Sturm durch Europa, der alte Gewissheiten über den Haufen warf und Systeme zerbröckeln ließ. Der Eiserne Vorhang, seit Kriegsende die beinahe unüberwindliche Barriere im Herzen Europas, rostete rapide und die Löcher in ihm wurden immer größer, bis er schließlich mit dem Berliner Mauerfall endgültig in Fetzen riss. Eine willkommene Folge war die Öffnung des bis dahin beinahe hermetisch abgeschlossenen Osten Europas für westliche Popkultur – und damit für deutsche Bands. Im September 1988 reiste ich mit den Toten Hosen in die Sowjetrepublik Litauen, wo die Düsseldorfer für das Lituanika-Festival gebucht worden waren. Das Festival stand ganz im Zeichen des sich immer offener präsentierenden litauischen Nationalismus, der sich alle Freiheiten nahm, die ihm Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestroika erlaubte. Lituanika vermittelte eine erste Ahnung davon, dass das Überleben der UdSSR selbst auf dem Spiel stand, dass die zumindest teilweise Auflösung der Union eine zunehmend realistische Option wurde. Diese Reise war meine zweite in die UdSSR, weitere sollten folgen und werden als weitere Zeitgeschichten in Kürze ebenfalls hier veröffentlicht. Doch zunächst einmal stehen Vilnius und Kaunas auf dem Programm. Außerdem die heute leider völlig zu Unrecht vergessene Band Blittzz aus Erfurt, die damals noch unter ihrem alten Namen Prinzz auftrat. Ach ja, zuerst veröffentlicht wurde diese Story in der Oktober Ausgabe des Metal Hammer.

Nach Russland, so hieß es, rolle der Zug mit den Toten Hosen und der Band Ülo an Bord. Von Düsseldorf über Duisburg und quer durch die DDR bis zum Ostberliner Hauptbahnhof – erste Stationen einer Reise, die streckenweise einer konzertierten Vernichtungsaktion für Dosenbier (reichlich vorhanden) und andere Alkoholika glich. Nur war nicht Russland das Ziel, sondern die Sowjetrepublik Litauen, von Stalin im Zweiten Weltkrieg gewaltsam in die Union eingegliedert. Ab Berlin sollten wir einen eigenen Waggon haben, so hatte es geheißen, einen Liegewagen noch dazu. Bis Berlin wurde daher auch kaum geschlafen, stattdessen gegenseitiges Beschnuppern und Kennenlernen.

Beginnen wir also mit Ülo, den „duften Typen aus dem Ruhrgebeat…“

Sänger, Texter, Manager und Organisator Klaus Üdingslohmann (verstorben 2021), kurz Ülo genannt, weiß schon, welches Image auf seine Band am besten passt. Duisburg, Stahl, Kohle und Schimanski … Ruhrpott in Rheinkultur. Als Ruhrgebeat-Band hat sich Ülo in der Vergangenheit bereits solidarisch mit der Region gezeigt. Die Band eröffnete im Februar dieses Jahres das Duisburger ‚AufruhrFestival‘, eine Solidaritätsveranstaltung für die Rheinhausener Stahlwerker, bei auch die Toten Hosen mit von der Partie gewesen waren. Außerdem dabei war Ülos lokaler Konkurrent Peter Bursch mitsamt seiner Bröselmaschine. Mit Ülo hatte, nebenbei bemerkt, alles angefangen.

Vorhang zu und Zwischenspiel

Im Mai 1988 hatte es Ülo erstmals nach Vilnius, Hauptstadt der Sowjet-Republik Litauen und Partnerstadt Duisburgs verschlagen. Auf Einladung der Litauer übrigens, die die Band vorher in Duisburg live begutachtet hatten. Vor gut 25.000 Leuten hatten Ülo aufgespielt und zu gefallen gewusst. So war die Einladung nur folgerichtig. Als zweiten Vertreter schickte die Stadt Duisburg noch das musikalische Aushängeschild Nr. 1 Peter Bursch und’ seine Bröselmaschine auf die Reise – allerdings auf getrenntem Transportweg. Mit Ülo fuhren dagegen die Toten Hosen, deren Vinylerzeugnisse die Litauer unbedingt live umgesetzt erleben wollten. Soweit die Vorgeschichte.

Vorhang auf zum zweiten Akt….

Berlin, Hauptstadt der DDR, also Ost. „Endstation, alles aussteigen!“ Fenster und Türen auf und das Gepäck in Rekordgeschwindigkeit auf den Bahnsteig befördert. „Ähhh, hallo, ähhh…das ist der falsche Bahnhof, ähhh, wir müssen noch’n bisschen weiter. Und der Zug fährt gleich wieder los!

Waaaaaassss???

Der Zeitrekord vom Ausladen wurde beim Wiedereinladen gebrochen. Eine kurze Zeit später dann doch endlich die Ankunft auf dem Hauptbahnhof Berlin (Ost), die vorläufige Endstation. Gute zwei Stunden Aufenthalt und die Frage, wohin mit dem ganzen Gepäck???

Die DDR- Bahnsteigbeamten boten ihren Aufenthaltsraum als Gepäckaufbewahrung an, eine Offerte, die bedenkenlos angenommen wurde. Bedenkenlos? Nun, nicht ganz, schließlich befanden sich unter all der Bagage auch einige Gegenstände von Wert. Vor allem die Paletten Dosenbier seien da genannt, denen denn auch die Hauptsorge galt.

Meinste wirklich, wir können denen unbesorgt dat ganze Bier dalassen?“ Faust, Interim-Mixer der Toten Hosen und die wohlbeleibte gute Seele des Unternehmens, ein wandelndes Warenhaus, das mit allem aufwarten kann (Toilettenpapier? Kein Problem. Aspirin? Grippetabletten? Alles in Fausts Vorräten. Wurst, Eier, Stullen? Faust hat es.) beäugt misstrauisch den Abtransport der Bierpaletten. „Ob wir die wohl noch mal wiedersehen werden?

Soviel vorweg: Wir sollten sie wiedersehen, vollzählig und unbeschädigt. Womit die gute Laune auf der Weiterfahrt gerettet war. Zunächst war jedoch Frühstück in Ost-Berlin angesagt. Also S-Bahn bis zum Alexanderplatz und dann die Suche nach einer frühmorgens bereits geöffneten Lokalität. Die Cafeteria des riesigen Inter Hotels bot sich scheinbar an, erwies sich aber schnell als vergebliche Hoffnung, da der Reisegruppe der Eintritt verwehrt wurde („Haben Sie reserviert? Sind Sie Gäste des Hotels?“). Auch der dezente Hinweis „Wir zahlen in harter Währung, in Westmark“ fruchtete nicht. Gottseidank war auf der anderen Straßenseite noch ein Lokal geöffnet….

Etliche Tassen Kaffee später gings dann weiter Richtung Warschau, sowjetische Grenze und Litauen. Im eigenen Waggon diesmal, ein Liegewagen, ums genauer zu sagen. Zugestiegen waren in diesen außerdem die Westberliner New Waver Boom Operators, die an Trinkfestigkeit und Partymentalität den Punk- und Mainstreamrockern von den Toten Hosen und Ülo in nichts nachstehen sollten. Zur Ost-West-Mixtur wurde die Reisegellschaft schließlich, weil sie den Liegewagen mit einer Abschlussklasse aus der DDR-Stadt Gera teilte.

Vorhang zu und Zwischenspiel…

Lituanika 1988 (Linkziel in litauischer Sprache) war die offizielle Bezeichnung des gut einwöchigen Festivals in der Republik Litauen, zu dem der inzwischen auf einen beachtlichen Umfang angewachsene Tross unterwegs war. Das Lituanika Festival war konzipiert als reines Rockfestival mit Punk-, Thrash-, Heavy Metal – und New Wave-Bands aus den baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen, aus Finnland, den Niederlanden, anderen Teilen der UdSSR und aus West- und Ostdeutschland.

Lituanika stand und steht aber auch für Litauen, für eine erstarkende nationale Bewegung in der nicht ganz freiwilligen Sozialistischen Sowjetrepublik, die in den 30er Jahren dem Hitler-Stalin-Pakt zum Opfer gefallen und völkerrechtswidrig von der Sowjetunion annektiert worden war.

Der Club Lituanika, Veranstalter und Organisator des Festivals, ist eine private Organisation, hervorgegangen aus der Jugendorganisation der KPdSU, der Komsomol, und zugleich stark involviert in die nationale Bewegung. Somit hatte das Festival von Anfang an eine politische Dimension, an der niemand, auch die beteiligten Bands, auf Dauer vorbeikam.

Vorhang auf und weiter im Text…

,,Könne mer n Autojramm ham???

Sächselnde Jungmädchenstimmen zu nachtschlafender Zeit im geschlossenen Abteil?

Als wir euch,“ gemeint sind die Toten Hosen, ,,aufm Bahnhof gesehn ham, da hat’s in der Klasse ne Diskussion gegehm. Die meisten meintn, dass ihr irjendwie nachgemacht ausseht, so Möchtejern-Panx und so…

Katrin aus Gera ist inzwischen von der Authentizität der Toten Hosen überzeugt, ebenso ihre Schulkameradinnen und -kameraden.

Deutsch-deutsche Diskussionen mit dem Tenor „…bei uns iss dat so und so —- jaaaa, bei uns iss dat jenau so…. Oder auch nicht und ganz anders…“ beherrschen in den folgenden Stunden die Gespräche auf dem Gang. Zumindrest was die männlichen Schüler angeht. Die weiblichen zogen die Atmosphäre des Ülo-Abteils … ähem, lassen wir das.

Die konzertierte ost-westliche Biervernichtungsaktion, von der Flasche Jägermeister mal ganz zu schweigen, nahm ihren unerbittlichen Lauf. Gegen Morgen allerdings herrschte Ruhe im Abteil, unterbrochen nur durch gelegentliche Schnarchtöne. Und durch Legionen von Grenzbeamten, Zöllnern und anderen Offiziellen, die in Fünfminuten-Abständen die Pässe kontrollierten, das Gepäck kontrollierten, die Pässe kontrollierten … von geruhsamem Schlaf konnte schon bald keine Rede mehr sein.

Weiter ging’s nach Vilnius. Dort angekommen, warteten schon Alge auf Ülo und Wita auf die Toten Hosen. Die jungen Damen sprachen flüssig Deutsch, zumindest Alge, und waren als Betreuerinnen und Verantwortliche für das körperliche und geistige Wohl ihrer Schutzbefohlenen wahre Engel – zumindest Alge.

Vorhang zu, Zwischenspiel…

Mindaugas Cerniauskas:

Das letzte große Festival dieser Art hatte 1980 in der georgischen Hauptstadt Tiflis stattgefunden. Danach gab es bis 1986 kein unionsweites Rockfestival mehr, lediglich Jokale oder regionale Veranstaltungen dieser Art wurden von den Behörden mehr oder weniger erlaubt. Als eine Gruppe litauischer Komsomol-Mitglieder 1986 daran ging, das erste Lituanika-Festival zu organisieren, stieß sie schon in der Anfangsphase der Vorbereitungen auf teilweise erbitterten Widerstand im Komsomol und in der Partei. Einige der eingeladenen Bands wurden als anti-sowjetisch eingestuft und ihre Teilnahme am Festival schlicht verboten.

Aha….

Die Veranstalter ließen sich von all dem nicht irritieren und machten einfach weiter. Mit dem Resultat, dass schließlich das ganze Projekt Lituanika zu einem anti-sowjetischen Ereignis erklärt wurde. Es fand trotzdem statt und wurde ein voller Erfolg. Ebenso wie das Nachfolgefestival im Jahre 1987, das allerdings im Vorfeld noch heißer umkämpft war als das 86er Festival und unter anderem zu einem vorübergehenden Ausschluss des Präsidenten des Clubs Lituanika, Mindaugas Cerniauskas, aus der Partei führte.

Cerniauskas: „Der Komsomol hatte rund 800 Unterschriften gegen das Festival und gegen das ZK der litauischen KP gesammelt, welches dem Projekt ursprünglich durchaus wohlwollend gegenüber gestanden hatte. Nach dieser Aktion änderte sich die Einstellung des ZK und die Konservativen ergriffen die Initiative. Ich wurde aus der Partei ausgeschlossen...“

Das Festival fand trotzdem statt, wurde ein noch größerer Erfolg und Mindaugas wieder in die Partei aufgenommen. Der Komsomol jedoch hatte seine Monopolstellung in der Jugendarbeit endgültig verloren, der Club Lituanika, nach wie vor mit Mindaugas als Präsident, arbeitet seitdem selbständig – und das seit Verabschiedung eines neuen Gesetzes in diesem Jahr auch völlig legal.

Vorhang auf zum Höhepunkt….

Das soll unser Hotel sein ???????!!!!”

Ähhhh, jjjaaa…”

Das „Hotel entpuppte sich als riesiger Betonkomplex der Marke „Jugendherberge der schlechtesten Sorte’. Ülo und die Toten Hosen beschlossen: Da kriegt uns keiner rein und kampierten erst einmal vor dem Gebäude, während Wita, Alge, Trini Trimpop und Ülo die Lage peilten. Die ersten Nachrichten aus dem Inneren der Gebäude bestätigten nur den niederschmetternden äußeren Eindruck: „Also, Toiletten gibt’s nur als Gemeinschaftsklos, und Duschen oder Badewannen haben wir überhaupt noch nicht entdecken können.

Laut Vertrag war das Interhotel zugesichert worden. Als dann noch bekannt wurde, dass alle anderen Bands mit ausreichendem Komfort und in Stadtnähe untergebracht worden waren, schlug die Stimmung endgültig um.

Mit dem Bescheid „Entweder ein anderes Hotel oder Fahrkarten Richtung Deutschland !” wurde den Betreuerinnen die Marschrichtung vorgegeben. Und siehe da: Plötzlich gab es doch ein freies Hotel in der Innenstadt, mit Duschen und Toiletten.

Hallo Peter.”

Hallo Jungs..!

Der erste Hotelgast, der uns über den Weg lief, war Ülos Lokalkonkurrent und Gitarrenguru Peter Bursch, der samt Band Bröselmaschine gerade von den Proben aus der nahegelegenen Sporthalle zurückkam.

Der Rest des Tages, wir schreiben übrigens den 14.9.1988, war frei. Duschen, schlafen, Stadtbesichtigung und schließlich ein Besuch in der Sporthalle … jeder tat das, wonach ihm gerade zumute war.

Die Sporthalle hat durchaus amerikanische Ausmaße und faßt, über den Daumen gepeilt, 15.000 Leute,.Die Stimmung war gut in der Halle und gab somit schon einen Vorgeschmack auf das, was die Toten Hosen und Ülo an den folgenden. Tagen erwarten würde. Vor allem Honey B & T-Bones, eine finnische Band, räumten voll ab mit ihrem traditionellen Blues-Rock und brachten das Publikum, einzelne anwesende Soldaten eingeschlossen, streckenweise gar zum Tanzen,

Sieger des Abends sollte dem Vernehmen nach allerdings die DDR-BandPrinzz gewesen sein, die wir selbst erst zwei Tage später auf dem Kaunas-Festival live erleben konnten. Prinzz, gegründet 1981 in Erfurt, waren ursprünglich das DDR-Äquivalent einer NdW-Band mit deutschen Texten, hatten sich aber kurz vor dem Gig in Vilnius endgültig für eine wesentlich härtere Gangart entschieden. Um diesen Schritt nach außen zu dokumentieren, hatten sie sich in Blitzz umbenannt, mussten in Vilnius aber mit neuer Musik noch unter altem Namen auftreten. 

Am nächsten Morgen war für die Toten Hosen Soundcheck angesagt, und damit kam Fausts große Stunde. John Caffery, der eigentliche Toningenieur der Hosen, hatte daheim bleiben müssen, und so musste Faust, ansonsten eigentlich der Fahrer und das wandelnde Warenhaus der Band, einspringen. Zum ersten Mal seit fast drei Jahren saß Faust wieder hinter dem Mischpult der Hosen — und warf erstmal alle Einstellungen über den Haufen.

Zudem kämpfte Faust mit dem ins Mischpult eingebauten Limiter. Über eine gewisse Lautstärke, die natürlich zu leise war, kam er einfach nicht hinaus.

Kann man dat Ding nich einfach außer Gefecht setzen???

Neee, dann würden wir glatt die Boxen durchblasen…

Na und ???

Außerdem passen die Jungs da oben wie die Schießhunde auf auf ihre Anlage!!!“

Scheiße! Dann eben den Gesamtsound ’n bisschen runterfahren!“

Vorhang auf zum vorletzten Akt…

Die nach wie vor illegale litauische Nationalhymne a capella, und Katedra hatten gewonnen. Das Publikum hielt brennende Feuerzeuge in die Höhe, sang lauthals mit und applaudierte anschließend minutenlang. Die litauischen Lokalmatadoren, ansonsten eine reinrassige Thrashband, musikalisch wie technisch top und besser als 90 Prozent aller westlichen Kollegen (sorry Jungs und Mädels, aber leider wahr), zeigten, wo es in Litauen zur Zeit lang geht. Der Zug rollt in Richtung Unabhängigkeit; wo er allerdings enden wird, ist zur Zeit absolut noch nicht klar.

Wesentlich schlechtere Karten hatte an diesem Abend die Leningrader, und damit russische, Band O (Nol) gehabt, die, obwohl ebenfalls verdammt gut, wenn auch eher in der traditionellen Punkecke angesiedelt, vom Publikum ausgesprochen kühl behandelt worden war. Sie waren halt Russen und damit, gleich ob gut oder‘ schlecht, von vornherein unbeliebt.

Nach Katedra und der litauischen Hymne dann die Toten Hosen. Die waren zwar auch nicht litauisch, aber der frühere – und ebenfalls berechtigte – Hass auf alles Deutsche scheint inzwischen in Litauen vergessen zu sein. Spätestens mit „Disco in Moskau“ war die Schlacht um die Gunst des Publikums an allen Fronten gewonnen.

Campino war in Hochform, suchte den Kontakt mit dem Publikum, fand ihn und peitschte es regelrecht auf. Die Ansagen auf Englisch, die Texte deutsch, die Landessprache litauisch: Babylon live in Vilnius. Das heißt, nicht ganz: Eine Sprache verstanden sie alle gleich gut, Rock ’n’ Roll heißt die, und verbreitet ist sie – für alle Kids verständlich – rund um diesen gottverdammten Globus.

Die Hosen waren in Hochform, wenn auch die Pyramide mit dem Absturz des Sängers endete und sich mit einem Male alles auf den Bühnenbrettern wälzte.

Veranstalter und Publikum waren sich einig: Beste Band des Tages waren die Toten Hosen aus Westdeutschland und verliehen der Gruppe einen entsprechenden Preis,

Davon abgesehen, für viele Metaller immer noch nicht selbstverständlich, sind die Toten Hosen, und das haben sie in Vilnius nachdrücklich unter Beweis gestellt, tatsächlich eine Rockband. Sie vereinen in ihrer Musik Elemente traditionellen Punks der 70er Jahre (Sex Pistols, frühe Clash, Sham96, T.V. Smith oder The Damned) und amerikanischen Garage-Rocks mit Heavy-Rock-Einflüssen. Im Gegensatz zum Gros der zeitgenössischen Heavy Metal-Genossen zeigen sich die Hosen allerdings in ihren Texten sehr viel bewusster und reflektieren gelebte Alltagswirklichkeiten. Die neue LP „Ein kleines bisschen Horrorschau“ sei schon aus diesen Gründen wärmstens empfohlen.

Nach dem Gig stand Party auf dem Programm, zu der sich auch Prinzz, die Vertreter des DDR-Metals, angesagt hatten.

Vorhang zu, letztes Zwischenspiel,..

Also, das freut mich ja wirklich. Da sind DDR-Mädchen, die nich auf Bundie-Pässe und Westmark abfahren, sondern sich tatsächlich mal mit unseren eigenen Jungs abgeben. Das is wirklich ungewöhnlich.“

Lutz, Soundengineer der DDR-Band Prinzz, kommt aus dem Staunen nicht mehr raus,

Die Mädchen übrigens waren schon bekannt aus D-Zug-Zeiten und Ülo-Waggons. Losgelöst von Lehrpersonal und Aufsichtspersönchen hatten sie sich zum Festival eingefunden und hingen nun mit den Jungs von Prinzz rum. Bis auf eine, mit der Campino ins Gespräch gekommen war und die dann später, als die Frage nach dem freien Bett aufkam, kameradschaftlich von einem Angehörigen des Ülo-Trosses auf einer unbelegten Matratze untergebracht wurde.

Als DDR-Band hat man es ansonsten tatsächlich schwer, vor allem, wenn man wie Prinzz (Blitzz) Heavy Metal spielt und dann auch noch englische Texte singt.

Es gibt da noch ’n anderes Problem: Bei uns im Osten wollen die Fans nur nachgespielte Sachen von X oder Y aus dem Westen, also internationale ‚Standards. Material von einer DDR-Band? Nee, danke, kein Interesse. Wir spielen aber nur eigenes Material, so dass es ziemlich schwer ist, vom heimischen Publikum überhaupt akzeptiert zu werden.” Inzwischen werden Prinzz in der DDR immer stärker akzeptiert, von den Fans wie von den Medien. Tatsächlich sind sie zur Zeit eine der interessantesten deutschen Metal-Bands (Ost und West) überhaupt, was nicht zuletzt auch ein Verdienst der Sängerin Kerstin ist. Prinzz Gitarrist Flatsch bekam sein Mädchen aus der DDR mit ins Bett, allerdings : „Ich muss wohl irgendwie zu besoffen gewesen sein, gelaufen ist da jedenfalls nix.“

Gelaufen ist übrigens auch bei den Toten Hosen nix, obwohl Kiki und Bollock (Tourneeleiter und Chefroadie) häufiger mal die Anfrage „Ficken???“ starteten…

Dafür floss, trotz Prohibition und dank Schwarzmarkt, der Hochprozentige in Strömen.

Vorhang auf zum Finale

Die Party lief im Studentenheim von Vilnius, genauer gesagt in den Räumlichkeiten, die der Club Lituanika mit Videoanlage, und zwei Fernsehern ausgestattet hatte, über die die Konzerte des Abends noch einmal flimmerten. Zum Inventar gehörte außerdem eine sehr guten Discotheken-Anlage. Das Ganze ähnelte einem typisch westlichen Club, zumal auch das gesamte Equipment aus westlichen bzw. fernöstlichen Markenfabriken stammte.

Kaunas, die zweite Stadt, in der die Toten Hosen auf die Bühne sollten, ist nach Vilnius die bedeutendste Metropole Litauens, war zeitweise Hauptstadt Litauens und ist heute ein wichtiges kulturelles, wirtschaftliches und industrielles Zentrum der Sowjetrepublik. Knapp 100 Kilometer legen zwischen den beiden Metropolen des baltischen Staates. In Kaunas fand eine Nebenveranstaltung der Lituanika ’88 statt, die ebenso ausverkauft war wie das Hauptprogramm in Vilnius.

Entsprechend tot waren nach dieser Party denn auch einige Mitreisende am nächsten Morgen, als es hieß: Der Bus nach Kaunas wartet! Mit beträchtlicher Verspätung ging es auf die Autobahn, nicht allzuweit, denn nach etwa 50 Kilometern strandete der Bus samt Besatzung irgendwo im litauischen Nirgendwo. Motor überhitzt, Kühlwasser weg, das klang nach Kühlerleck. So war es tatsächlich. Die große Zeit der Improvisation begann. Während einige Mitglieder der Reisegruppe ihr Heil im Autostopp suchten, lagerten andere friedlich am Straßenrand. Der Fahrer begab sich derweil samt Kanister in die umliegenden Felder und suchte eine Wasserquelle.

Irgendwann ging’s tatsächlich weiter. In der Sporthalle Kaunas eingetroffen gab’s ein bemerkenswertes Bild zu sehen: Die Lichttraverse war auf die Bühne gekracht. Was nicht weiter verwunderte, wenn man genauer hinsah, Die Befestigungen waren offensichtlich dem Gewicht der Traverse nicht gewachsen gewesen. Dennoch sollte sie wieder hochgezogen werden – was allerdings auf erbitterten Widerstand aller anwesenden Drummer stieß. Die Traverse nämlich hing genau über dem Stuhl des Schlagzeugers. Die Traverse blieb unten und das Festival nahm seinen Lauf. Die Boom Operators (West Berlin) traten auf und hinterließen einen phantastischen Eindruck. Die Band ist unbedingt sehenswert – wenn man eine interessante Mischung aus New Wave und Rock zu schätzen weiß. Ähnlich gilt für die niederländische Band Kadaverbak, die nach ihnen dran waren. Dann schlug die Stunde für Prinzz. Obwohl Sängerin Kerstin stark erkältet auf die Bühne kletterte, legten die Ostmetaller einen brillanten Gig hin. Musikalisch ist Prinzz irgendwo zwischen Metallica und Alice Cooper (dessen ‚School’s Out’ sie coverten) anzusiedeln. Ihren ganz eigenen Charakter verdankt die Musik der Band aber der außergewöhnlichen Stimme und Bühnenpräsenz von Frontfrau Kerstin Radtke. Zu dem Zeitpunkt hatte die Band sich bereits von Prinzz zu Blitzz umbenannt, trat aber noch unter dem alten Namen auf.

Von Prinzz zu den Toten Hosen. Die hatten zunächst mal die Roadcrew in die Stadt jagen müssen: „Jungs, wir brauchen BIER!“

Die Jungs waren Gottseidank rechtzeitig zum Auftritt wieder zurück — mit Bier.

Auf der Bühne schließlich wieder Hosen in Bestform, eine beeindruckende Liveband, die vor Publikum alle Register zieht und dementsprechend auch an diesem Tag die Halle in einen Hexenkessel verwandelte, nicht zuletzt weil sie mit Campino einen Frontmann mit enormem Charisma ihaben, dem sich live kaum jemand entziehen kann; dem er dann selbst allerdings auch fast zum Opfer fiel, als er sich in die Menge begab. Kiki und Bollock hatten einige Mühe, ihn aus einer Traube von Kids zu befreien und ihn wieder heil auf die Bühne zu bringen – mit nacktem Oberkörper, das T-Shirt war ihm vom Leibe gezogen worden. Nach dem Auftritt ging’s zurück nach Vilnius und noch einmal zur Party, wo es in etwa so abging wie am Vorabend.

Vorhang zu, Saallichter an…

Wo sind denn …???

Bier holen !

Aber der Zug…

Die schaffen das schon noch rechtzeitig…

Sie schafften es rechtzeitig, beladen mit einigen Paletten feinsten Dosenbiers.

Sollten wir nicht ein eigenes Abteil haben?

Ja.“

Wat machen denn dann die ganzen Leute hier drin???

Kein eigenes Abteil. Der Schaffner tat sein bestes, alle halbwegs unterzubringen. Er schaffte es nicht ganz. Die Rückfahrt also in einer gemischten russisch-deutschen Abteilbesetzung, die zum guten Ende zu einigen sehr interessanten Kontakten und Gesprächen führte. Wen kümmerte es da noch, dass von Warschau an das eigene Abteil für die Toten Hosen völlig leer am Zug hing, während wir uns im vollgepackten Liegewagen drängelten, den Schaffner aus seiner Kabine warfen und diese zur Spielhölle umfunktionierten?

Ärgerlich war es allerdings doch etwas, als wir in Ost-Berlin, inzwischen völlig übermüdet und kaputt, endlich von dem eigens für uns angehängten Kurswagen erfuhren…

C 2022 MuzikQuest/ Edgar Klüsener, Erstveröffentlichung in Metal Hammer 10/1988

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Seltenes Nirvana Interview in voller Länge ( Kurt Cobain, Dave Grohl und Krist Novoselic)

Auf Youtube sind mittlerweile etliche Kopien eines Interviews präsent, das ich am 18. Oktober 1993 mit Nirvana in ihrer Heimatstadt Seattle geführt hatte. Das Interview sollte ursprünglich für das Fachblatt Musik Magazin, das kurzlebige Indie-Magazin C.O.R.E., die Musik Woche, Marabo, die Westfälische Rundschau, und einige andere Publikationen sein. Kurzfristig meldete dann auch noch BRAVO TV Interesse an und heuerte vor Ort einen Kameramann an, der das Interview dann mitschnitt.

Nirvana hatten an diesem Tag bereits eine Reihe von Interviews gegeben, und nicht alle waren gut gelaufen, ich war also auf das Schlimmste vorbereitet. Doch die Band gab sich locker und redselig, auch wenn ein windiger Balkon des Edgewater Hotels nicht unbedingt die beste Interview Location war.

Obwohl bereits mehrere Kopien des Interviews online sind, habe ich es bis heute versäumt, es auch auf meinem eigenen Channel verfügbar zu machen. Zeit also, das versäumte nachzuholen. Hier ist der Link zum Interview:

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Und hier der Link zur vollständigen Transkription.

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PRIMAL SCREAM, Manchester, 9. Juli 2022

Es ist ein perfekter Sommertag für ein perfektes Primal Scream Konzert in einer perfekten Umgebung. Die Castlefield Open Air Arena liegt im ehemaligen Kanalhafenbecken Manchesters, zu Füßen der alten römischen Befestigung Castra Mancunium, der die Stadt ihren Namen verdankt. Hinter der Bühne sind Hausboote angedockt und ein Wirrwarr von Eisenbahn-, Tram- und Autobrücken überzieht das Hafenbecken, während der industriellen Revolution einer der wichtigsten Transportknotenpunkte Englands. Als Walt Disco, die erste von insgesamt drei Vorbands, die Bühne betreten, brennt die Sonne von einem wolkenlos blauen Postkartenhimmel auf eine zu diesem Zeitpunkt bestenfalls halb gefüllte Arena. Die Band aus Glasgow hat unlängst ihr Debütalbum ‚Unlearning‘ veröffentlicht, das von der Kritik weitgehend wohlwollend aufgenommen worden ist. Musikalisch bedienen sich Walt Disco freizügig im Glamrock-Repertoire der Siebziger und Achtziger und reichern die Anleihen mit Goth- und New Wave-Elementen und einer gehörigen Prise Punk an. Das funktioniert überraschend gut. Live spielt die Band bewusst provozierend mit Gender-Klischees, und Sänger James Potter wirbelt im durchsichtigen purpurfarbenen Kleid über die Bühne. Mit hochenergetischen Songs wie ‚Cut Your Hair‘ oder ‚I Had The Perfect Life‘ heizen Walt Disco das Publikum an, das sie am Ende dafür auch kräftig feiert. Den Namen Walt Disco sollte man sich merken.

Eigengewächs aus Manchester – Singer/Songwriter Lone Lady, Pic: Edgar Klüsener/2022

Als nächste spielt LoneLady auf. Hinter dem Namen verbirgt sich die Sängerin, Gitarristin , Songwriterin und Produzentin Julie Campbell aus Manchester. Während ihres Sets füllt sich die Arena weiter. Sie und ihre zwei MitmusikerInnen haben hier ein Heimspiel, und sie machen das Beste daraus. Ihre post-punkigen elektronischen Stücke haben einen industriellen Hauch, der perfekt zur postindustriellen Atmosphäre Castlefields passt. Dennoch, Teile des Publikums nutzen die Gelegenheit, die der Lo-Fi Funk Set des Trios bietet, um sich an den Bier- und Würstchenständen mit Proviant für die anstehende Hauptattraktion zu versorgen.

Bevor es dann endlich Zeit für Primal Scream ist, sind zunächst noch The Mysterines aus dem benachbarten Liverpool an der Reihe. Inzwischen ist die Menge sichtlich angewachsen und freie Plätze sind in der Arena zunehmend schwerer zu finden. Seit sein Debütalbum im März in den Top Ten der Albumcharts gelandet ist, wird das Quartett aus der Klopp- und Beatles-Stadt in britischen Musik-Medien als ganz heißer Tipp gehandelt, und schon der Opener ‚Life‘s A B*tch (But I Like It So Much) macht klar, dass was dran ist am Mysterines-Hype. Als Anheizer sind die vier großartig, ihr grunge-lastiger und manchmal hypnotisch schwerer Rock sowie die großartige Performance von Gitarristin und Sängerin Lita Metcalfe heizen die ohnehin schon fantastische Stimmung in der inzwischen proppenvollen Arena um einige weitere Grade an. Nach dem letzten Akkord der Mysterines zeigt lang anhaltender und teils frenetischer Applaus, dass die Liverpooler auch in Manchester gewonnen haben.

Die mittlerweile 8.000, eine bunte und erwartungsfrohe Mischung der Generationen, sind endgültig bereit für die Hauptattraktion.

Punkt 21 Uhr baut sich zunächst der fünfköpfige Gospel-Chor auf einem Podest im Hintergrund der Bühne auf, vom Band ertönt ‚I Belong to Glasgow‘ von Andy M. Stewart. Dann schreitet Bobby Gillespie gemächlich an den Bühnenrand. Er trägt einen maßgeschneiderten Anzug in den psychedelischen Farben von ‚Screamadelica‘, des Albums, das dem einstmaligen Indieact Primal Scream 1991 den Durchbruch in den Massenmarkt gebracht hatte. Die kurze Tournee, die die Schotten in diesem Jahr spielen, steht ganz im Zeichen des dreißigjährigen Jubiläums von ‚Screamadelica‘.

Bobby Gillespie und der Gospel Chor. Pic: C Edgar Klüsener 2022
Mr Charisma: Bobby Gillespie (Pic: Edgar Klüsener, 2022)

Gillespie wird mit tosendem Beifall und Sprechchören empfangen. Dann geht’s los. „Wir zelebrieren die heilige Dreifaltigkeit des Rock’n’Roll’“ adressiert er die Menge. „Seid ihr bereit?“ Ein ohrenbetäubendes ‚Ja‘ ist die Antwort der versammelten Gemeinde. Ab geht die Post mit dem gospelinspirierten ‚Movin‘ On Up’, dessen Zeilen anfangs zögerlich, dann zunehmend lauter von der Menge mitgesungen werden. Bobby Gillespie tänzelt leichtfüßig über die Bühne – kaum zu glauben, dass der Mann bereits 60 ist –, und seine Gestik erinnert in Momenten an die eines charismatischen Predigers. Nur dass seine Botschaften im Rahmen einer fundamental-christlichen Kongregation sicherlich ebenso fehl am Platze wären wie die kaum verklausulierten Referenzen zu drogeninduzierten psychedelischen Sinneserfahrungen. Stilistisch ließen sich Primal Scream mit dem Release von ‚Screamadelica‘ nicht mehr in eine vordefinierte Ecke drängen. Mit dem Album brachen die Schotten seinerzeit aus dem Hinterstübchen der Indierock-Klischees aus und öffneten sich für Gospel, Acid House, Dance, R&B und die Rave-Subkultur, die im England der späten Achtziger und frühen Neunziger ihre Hochblüte hatte. Dass das heute noch so frisch und unverbraucht klingt wie vor drei Jahrzehnten, belegt nicht nur der sehr hohe Anteil der unter-Dreißigjährigen im Publikum, sondern auch die Ekstase, in die sich die Menge steigert, je länger das Konzert fortdauert. Es folgen ‚Slip Inside This House‘ und ‚Don‘t Fight It, Feel It’. Letzteren Song widmet Gillespie Denise Johnson. Die Sängerin aus Manchester hatte auf dem Screamadelica Album gesungen und ist auf dem Höhepunkt der Pandemie im Alter von 56 Jahren gestorben.

Es folgt ein weiterer magischer Moment. In der Ansage geht Gillespie auf den Krieg in der Ukraine ein, auf die tiefen Risse die die britische Nation spalten, aber auch die Gesellschaften der USA, Frankreichs und anderer Nationen. Die Aufforderung ‚Come Together‘ ist in Brexit- und Johnson Zeiten so zeitgemäß wie wohl selten zuvor in den vergangenen 30 Jahren und wird zur zelebrierten Hymne für zumindest einen ebenso wunderschönen wie flüchtigen Sommerabend, in dem der zerrissenen Welt vor den Toren der Arena mit Eintracht begegnet wird. Zusammenschluss statt Zersplitterung bis zum Ende des Konzerts. Das weitere Programm besteht aus ‚Inner Flight‘, ‚Screamadelica‘, ‚I‘m Coming Down’, ‚Damaged‘, ‚Higher Than The Sun‘ und ‚Shine Like Stars‘.

Primal Scream haben sichtlich Spaß an ihrem Vortrag, und die pure Spielfreude schwappt von der ersten Sekunde an über auf die dichtgedrängte Menge vor der Bühne. Die Band ist eingespielt, die Show, illuminiert mit aufwändigen Lichteffekten und Videoprojektionen, die in vielen subtilen Variationen den psychedelischen Farbenrausch von ‚Screamadelica‘ wiederbeleben und interpretieren, spricht alle Sinne an. Die Musiker beweisen ihre technischen und musikalischen Qualitäten. Vor allem Bassistin Simone Butler wird schon seit Jahren zu den Besten ihres Faches gezählt und Gitarrist Andrew Innes besticht auch in Manchester mit präzisem Riffing und gefühlvollen Soli.

Vor allem aber ist es Frontmann Bobby Gillespie, der die Show trägt. Entertainer, Magier, Mr. Charisma höchstpersönlich. Er zieht das Publikum in seinen Bann und etabliert von der ersten Minute eine intensive Wechselbeziehung zwischen Bühne und Auditorium.

Um 22:15 Uhr beenden Primal Scream den Set und verlassen die Bühne. Weil die Arena sich in einem Wohngebiet befindet, gibt es strikte Vorgaben: Punkt 22:30 sollen die Lichter an und die Verstärker aus sein. Nach zwei Minuten schlurft Bobby Gillespie auf die Bühne zurück.

Vom Band erklingt das Intro zu ‚Loaded‘:

We wanna be free, we wanna be free to do what we wanna do. And we wanna get loaded. And we wanna have a good time. And that’s what we’re gonna do. We’re gonna have a good time. We’re gonna have a party!”

Und eine Party wird es, Curfew hin, Vorschriften her. Auf ‚Loaded‘ folgen ‚Swastika Eyes‘ mit Videoreferenzen zu Trump, Johnson und Putin und schließlich ‚Jailbird‘. Und das ist’s dann endlich und eigentlich immer noch viel zu früh, 10:30 Uhr, Show vorbei. Denkste! An Aufhören denkt hier niemand, stattdessen bittet Gillespie eine lokale Legende auf die Bühne, Gary ‚Mani‘ Mounfield, ehemals Bassist der Stone Roses und, von 1997 bis 2008, Vorgänger von Simone Butler bei Primal Scream. Spätestens jetzt ist es purer Rock’n’Roll, der die wie ein Amphitheater aufgebaute Arena zum Toben brachte. ‚Rocks Off‘, der finale Song ist pures Dynamit und beendet schließlich eine sensationelle Vorstellung von Primal Scream in Manchester.

C 2022 by Edgar Klüsener

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Folklore-Label Kalan Müzik: Hasan Saltiks musikalischer Widerstand

Ein anderer Blick über die Grenzen hinweg, diesmal in die Türkei, wo Hasan Saltik 1991 das spannende Label Kalan Müzik aus der Taufe gehoben hatte. Da hatten in der Türkei gerade mal wieder die Militärs im Namen des Kemalismus die Macht übernommen hatte. Hasan Saltik war Teil des demokratischen Widerstands gegen die Militätdiktatur und machte es sich zur Aufgabe, die Kulturen und Sprachen der unterdrückten Minderheiten in der Türkei zu dokumnetieren und ihnen eine Stimme zu geben. Daran hielt er auch fest, als die Türkei sich wieder zu einer säkulären Demokratie wandelte, die in die EU strebte. Und weiter, als Erdogan dann die Demokratie von innen heraus auszuhöhlen begann und seitdem das Land weiter in Richtung nationalistisch-islamischer Diktatur drängt, die die Türkei zur alten Größe des Osmanischen Reiches zurückführen möchte. Hasan Saltik blieb auch gegen Erdogans Regime im kulturellen Widerstand. Diese Geschichte erschien zuerst am 12. April 2004 in SPIEGEL online.

Seit kurzer Zeit öffnet sich die türkische Gesellschaft für ihre ethnischen Minderheiten. Dass die Kultur der Kurden, Syrianer oder Ladinos jetzt wieder entdeckt wird, ist auch ein Verdienst des ehemaligen Widerständlers Hasan Saltik, der sich mit seiner Plattenfirma Kalan Müzik den musikalischen Artefakten Anatoliens widmet.

Ursprünglich war Hasan Saltik einfach nur auf Protest aus, auf Widerstand mit allen klingenden und singenden Mitteln. Das war in den achtziger Jahren. In der Türkei war da gerade mal wieder das Militär an der Macht, bestrebt, das säkular-nationalistische Erbe Kemal Atatürks gegen die erstarkende islamistische Reformbewegung zu verteidigen. So zumindest damals die Lesart der Generäle. Dass die Junta bei der Gelegenheit auch gleich noch beinahe ungehemmt gegen rebellische Kurden, linke Intellektuelle, aufbegehrende Arbeiter und unbotmäßige Künstler vorgehen konnte, war ein zwar nicht explizit geplanter, aber den Generälen durchaus willkommener Nebenaspekt der Diktatur.

Hasan Saltik war einer der Unbotmäßigen. Er leistete Widerstand auf seine Art und veröffentlichte linke Protestmusik. Zunächst ausschließlich türkische, dann auch kurdische und armenische. Die Veröffentlichungen seines Istanbuler Underground-Labels waren schon bald nicht nur landesweit quer durch alle Bevölkerungsschichten gefragte Äußerungen des musikalischen Widerstandes, sie begründeten auch eine Firma, die mittlerweile weltweit Kultstatus hat: Kalan Müzik.

Kalan Album: The Colours of Anatolia

Hasan Saltik erinnert sich beinahe wehmütig zurück an diese Tage:

„Wir waren immer sehr schnell. Die Zeitspanne, die die Behörden benötigten, um eine Platte zu verbieten, reichte in den meisten Fällen, um die komplette Auflage zu verkaufen, bevor die Verfügung bei uns ankam. Die Leute wussten von der bevorstehenden Veröffentlichung, warteten oft schon seit Wochen gespannt darauf, und wenn sie dann kam, stürmten sie die Läden.“

Resultat: Auflage verkauft, Hasan zufrieden. Platte rechtskräftig verboten und Weitervertrieb unterbunden, Militär zufrieden. Ärgerlich war das Spielchen natürlich trotzdem für Saltik, der in manchen Monaten mehr Tage vor Gericht als in seinem Büro verbringen musste.

Als das Militär schließlich in die Kasernen zurückkehrte und die Türkei sich erneut zu einer Demokratie wandeln ließ, gründete Saltik 1991 als Nachfolgerin des Underground-Labels die Plattenfirma Kalan Müzik und erweiterte seine Produktpalette. Schon zu Zeiten der Junta hatte er neben linker türkischer Protestmusik auch Platten in kurdischer Sprache herausgebracht – ein klarer Verstoß gegen das Jahrzehnte lang gesetzlich verankerte Grundprinzip des türkischen Nationalstaates, das die Existenz von nicht-türkischen Minderheiten in Anatolien schlicht leugnete, und deshalb auch deren Sprachen und Kulturen nicht anerkannte. Minderheiten, die sich erdreisteten auf ihrer eigenen Sprache und Kultur zu bestehen, wurden im besten Falle ignoriert, in gravierenden Fällen – wie dem der Kurden – aber auch mit allen Mitteln verfolgt.

Hasan Saltik konzentrierte sich nun zunehmend auf die Musik dieser Minderheiten – und fand sich damit prompt erneut in Opposition zum mittlerweile wieder demokratischen türkischen Staat wieder, der nur sehr zögerlich bereit war – und es immer noch ist – seine ethnischen Minderheiten als eben solche zu akzeptieren.

Auf der Suche nach den fast schon verlorenen musikalischen und kulturellen Schätzen Anatoliens leisten Saltik und seine Mitarbeiter seitdem dennoch Erstaunliches.

Wer wie Hasan Saltik weniger an Scherben und Ruinen als vielmehr an lebendiger Überlieferung verschollener Kulturen interessiert ist, muss mühselig kreuz und quer durchs Land ziehen und in die hintersten Bergdörfer einfallen. Kulturelle Archäologie könnte man das nennen, und in der Tat beobachten Universitäten in mehreren europäischen Ländern und in der Türkei sehr gespannt, was das Kalan-Label so alles zu Tage fördert. Fündig wird Saltik immer wieder, obwohl es den Minderheiten in der Türkei über Jahrzehnte hinweg nicht nur verboten war, ihre Sprache zu sprechen, sondern auch Aufzeichnungen ihrer eigenen Sprache oder Musik zu besitzen.

Die Fundstücke werden aufwändig verpackt und dann auf einen Markt geschickt, der längst weltumspannend ist. Zu CDs wie dem Doppelalbum „Süryaniler“ liefert Kalan bis zu hundertfünfzig Seiten umfassende Büchlein mit. „Süryaniler“ ist eine Sammlung von religiösen und folkloristischen Liedern der Syrianer, die auch heute noch in der an Irak und Syrien angrenzenden Bergregion der Türkei leben und dort immer wieder unter der Verfolgung durch ihre kurdischen Nachbarn leiden müssen. In mehreren Sprachen informiert das Booklet über die Geschichte der Syrianer oder Syrischen Christen – die Syrische ist eine der ältesten christlichen Kirchen -, ihre Kultur und ihre Lieder. Akribisch analysiert der Text Einflüsse in die Musik und geht dabei weit in der Zeit zurück.

Akribisch baut das Kalan-Label sein musikhistorisches Archiv weiter und weiter aus. Manches Liedgut schien schon unrettbar verloren, wie die Musik der Ladinos, der sephardischen Juden, die 1492 aus Spanien vertrieben worden waren und im Osmanischen Reich eine neue Heimat gefunden hatten. Ihre Sprache ist ein seltsam antiquiert klingendes Spanisch, wie es um die Zeit von Cervantes auf der iberischen Halbinsel gesprochen wurde, ihre Musik eine an- und aufrührende Melange aus klassischer iberischer Folklore, arabischen, türkischen und griechischen Elementen und einer Traurigkeit, die an den Fado Portugals erinnert. Auch „Yahudice“, das Ladino-Album, kommt mit dem Kalan-typischen sorgsam zusammengestellten Begleitbuch.

Mittlerweile wandelt sich das politische Klima in der Türkei erneut. Das Land nimmt Abschied vom rigorosen Nationalismus der Vergangenheit und wendet sich mit neu erwachtem Interesse der lange unterdrückten Vielfalt innerhalb der eigenen Grenzen zu. Das ist nicht zuletzt ein Verdienst von Kalan Müzik. Saltik:

„In den letzten Jahren unterstützen uns nicht nur die türkischen Massenmedien, auch Politiker und Angehörige der etablierten Gesellschaft orientieren sich neu und entdecken Anatoliens Geschichte und seine Kulturen wieder.“

In dem Maße, in dem die türkische Gesellschaft sich öffnete, wandelte sich auch der Anspruch der Plattenfirma an sich selbst. Aus der linken Untergrundklitsche wurde das etablierte Plattenlabel, das mit schöner Regelmäßigkeit musikhistorische Kleinodien ausbuddelt und zum Bewahrer der anatolischen Kulturen geworden ist. Dass diese sich nun selbst wieder entdecken, erfüllt Saltik mit besonderer Freude:

„Die ethnischen Kulturen Anatoliens mögen lange Zeit unterdrückt gewesen oder gar vom Aussterben bedroht gewesen sein, doch nun sind sie wieder sehr lebendig. Es sind vor allem junge Menschen, die neugierig auf die eigenen Wurzeln geworden sind und von sich aus die eigene Geschichte und Kultur weiter erforschen.“

So wie Kardes Türküler, eine Gruppe hoch begabter junger Musiker, die die verschiedenen Volksmusiken Anatoliens neu entdeckt und auf ihre Weise arrangiert und interpretiert. Ihnen kommt es vornehmlich darauf an, die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, zu zeigen, dass die verschiedenen Kulturen sehr viel mehr miteinander verbindet als nur der gemeinsame Lebensraum. Eher nebenbei ist die Gruppe dabei zu einem der großen Kassenmagneten Kalans geworden. Auch im Ausland.

 

Überhaupt finden die Produktionen aus dem Hause Kalan längst auch grenzüberschreitend Beachtung. Was Saltik zwar freut, ihn aber auch gelegentlich verärgert. Insbesondere immer dann, wenn seine Produktionen von westlichen Kritikern oder Händlern der Sparte „World Music“ zugeschlagen werden. Der Terminus sei Ausdruck herablassender angelsächsischer Arroganz, schimpft er dann, und bezeuge einen latenten Rassismus, der die anglo-amerikanische Popkultur gegen den Rest der Welt stelle und geflissentlich ignoriere, dass der Rest der Welt schon Kultur gehabt habe, als in Nordeuropa noch die Erdhöhle als Eigenheim diente.

Dabei outet sich Saltik bei Gelegenheit gern als waschechter Rockfan, der seit frühester Jugend auf Led Zeppelin und Pink Floyd steht. Dass Kalan Müzik trotzdem keine anatolischen Rockgruppen im aktuellen Programm hat, hat daher auch weniger mit seinen musikalischen Vorlieben als vielmehr mit seiner Einschätzung zeitgemäßer türkischer Rockmusik zu tun: „Ich habe einige Male versucht, türkische Rockgruppen zu fördern. Doch türkische Musiker sind einfach noch nicht so weit. Die überwiegende Mehrheit kopiert einfach blind englische oder amerikanische Gruppen, es fehlt die Eigenständigkeit.“

Zufrieden ist Hasan Saltik mit dem Erreichten noch lange nicht. „Die kulturelle und geschichtliche Vielfalt und Bedeutung Anatoliens ist immens, aber in Europa und Amerika kaum bekannt. Wir wollen dem Rest der Welt ein wenig davon vermitteln, was Anatolien und den Mittleren Osten kulturell ausmacht.“ Das klingt, als sei von Kalan Müzik noch viel zu erwarten.

Hasan Saltik starb am 2. Juni 2021. Mit ihm hat die Türkei einen herausragenden Kurator ihrer viefältigen – und oft unterdrückten – linguistischen, religiösen, ethnischen und kulturellen Traditionen verloren. Das Label Kalan Müzik setzt die Arbeit in seinem Sinn weiter fort.

Eine Kalan- Veröffentlichung aus dem Jahre 2020:

 

C 2004/2022 Edgar Klüsener, Erstveröffentlichung in SPIEGEL Online, 12.04.2004

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Rockmusik in Israel: Auf der Suche nach einer neuen Identität

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hatte ich den Journalismus für einige Jahre beinahe völlig  an den Nagel gehängt und stattdessen an der University of Manchester ein BA(Hons)-Studium in Contemporary Middle Eastern Studies begonnen. Beim BA sollte es nicht bleiben, es folgte der MA und schließlich der PhD. Das Interesse an populärer Musik hatte ich natürlich nicht verloren (was eh unmöglich ist, wenn man in einer Stadt wie Manchester lebt), aber das Studium schärfte den Blick für popkulturelle Entwicklungen in Regionen am Rande oder außerhalb der Grenzen westlicher kultureller, ökonomischer und kultureller Dominanz. Genauer angeschaut hatte ich mir damals Entwicklungen in Iran, der Türkei und Israel. Die erste Zeitgeschichte hat Rockmusik in Israel zum Thema. 

Maor Appelbaum ist der Sänger, Hauptkomponist und Bassist einer Rockband. Die Band heißt Sleepless, und sie ist aus Israel. Das erkläre einiges, meint Maor Appelbaum, vor allem die Intensität und Aggressivität von Sleepless. Denn Israel sei ein schnelles Land, ein Land, in dem musikalische Stile und Trends sich in rasantem Tempo verändern. Ein Land unter Druck, in dem keine Zeit sei für Beschaulichkeit und für Langeweile. In dem Interview mit einem amerikanischen Fanzine führt er weiter aus:

„Leben in Israel ist ein Leben im Hier und Jetzt, wir können nichts auf morgen verschieben. Dieses Land ist großartig für aggressive Musik, weil es unter ständigem Druck ist, umgeben von Feinden. Und manchmal sind wir selbst unsere größten Feinde.“

 

Maor Appelbaum

Rockmusik ist seit den späten Sechzigern die dominante Musikform Israels. International erfolgreicher mag schräger Pop á la Dana International sein, oder auch israelischer Goa Trance, aber Rock, und seit kurzem HipHop, sind die Musikformen, die den israelischen Alltag prägen. Was überrascht und die zionistischen Väter des Staates wahrscheinlich in ihren Gräbern rotieren lässt. Denn die hatten eine andere Musikkultur im Sinne gehabt, eine, die nicht an englischen und amerikanischen Klängen ausgerichtet, sondern ganz eindeutig und unverkennbar jüdisch, zionistisch, israelisch sein sollte. Das Problem, dass die Gründungsväter hatten, war ein Identitätsproblem. Die Bevölkerung des künftigen Staates Israel war schon vor der Staatsgründung extrem heterogen. Die Sephardim, europäische Juden, hatten mit den Ashkenazim, den ‚orientalischen‘ Juden, die aus dem Iran, aus Marokko, Tunesien und anderen Gegenden des Nahen und Mittleren Ostens nach Palästina strömten, nur wenige historische, kulturelle und sprachliche Gemeinsamkeiten. Eine umfassende kulturelle, nationale und politische Identität musste buchstäblich erfunden werden.

Rockmusik eingemeindet

Die Zionisten versuchten genau das. Sie propagierten Hebräisch als die offizielle Landessprache, und sie machten sich daran, eine Folklore-Tradition zu begründen, die unter dem Namen „Lieder des Landes Israel“ (Shirey Eretz Yisrael) bekannt werden sollte. Das Ziel war es, die Fragmente unterschiedlichster Kulturen durch eine israelische Kultur zu ersetzen, die durch eine gemeinsame Sprache, Literatur und Volksmusik definiert werden konnte. Seinen Höhepunkt erlebte dieses Unterfangen in den Dreißigern und Vierzigern des vorigen Jahrhunderts, den entscheidenden beiden Jahrzehnten vor der Staatsgründung. Die Ideologie der ‚Nation im Werden‘ schuf den Mythos einer Pionier-Jugend, die das Land der Vorväter zurückforderte. Viele der Lieder beschrieben daher in romantischer Verklärung die neuen, geheimnisvollen und mythischen Landschaften, in denen die Neueinwanderer nun lebten.

Hand in Hand mit der Schaffung einer neuen, israelischen Identität ging die bewusste Ablehnung westlicher Kultur als fremdartig und potenziell feindlich. Als dann in den späten Fünfzigern des vergangenen Jahrhunderts der Rock’n’Roll aus Amerika nach Israel überschwappte, standen die Zionisten vor einem erheblichen Problem. Rock’n’Roll war westlich, amerikanisch, global und extrem populär auch unter Israels Jugend – das genaue Gegenteil also von der eingeborenen Kultur, der israelischen Identität, die die Gründungsväter zu etablieren hofften. Das Dilemma wurde gelöst, indem Rock’n’Roll schlicht eingemeindet wurde. Rock mit hebräischen Texten musste es sein, mit Inhalten, die Bezug hatten zur israelischen, jüdischen, zionistischen Realität des Landes. Der Ansatz ist auch von anderen Ländern her bekannt, die um ihre kulturelle Identität bangten. Frankreich kämpft noch immer gegen die Windmühlen anglo-amerikanischen Popimperialismus und quotiert seine Radioprogramme entsprechend. In Israel war die Sache auch deshalb brisant, weil die ersten, die zum Rock’n’Roll konvertierten, Kids vom Rande der Gesellschaft waren, Jugendliche aus den Siedlungen und Vorstädten der Mizrahim, die sich in der von den europäischen Juden dominierten Gesellschaft zurückgesetzt fühlten. Aus ihrer Mitte kamen Bands wie Ha-shmeni ve-haraz-im oder The Goldfingers, zu deren Konzerten beachtlichen Zuschauermengen, oft zwei- oder dreitausend Fans, strömten. Diese Beatgruppen folgten weitgehend den englischen und amerikanischen Vorbildern und sangen auch in englischer Sprache. Die Etablierung von Randkulturen im neuen Staate Israel war genau das, was die zionistischen Gründungsväter möglichst vermeiden wollten. Die Folge war eine ausgedehnte Kampagne gegen die als vulgär und zwielichtig bezeichneten Elemente, deren Bindung zum nationalen Kollektiv in Frage gestellt wurde.


Israelischer Neonazi-Rock

Anders sah die Sache ein wenig später aus, als israelische Musiker begannen, Rockmusik mit hebräischen Texten zu schreiben. Musiker wie Arik Einstein, Shmulik Kraus, Shalom Hanoch oder die Band Kaveret israelisierten Rock in den Siebzigern und verankerten ihn im Mainstream des israelischen Musiklebens, aus dem er seitdem nicht mehr wegzudenken ist. Aber auch heute noch existieren verschiedene Rockkulturen mehr zwie- als einträchtig nebeneinander. Vor allem die russischen Einwanderer haben sich eine ganz eigene Rockkultur geschaffen, die eher an russischen Heavy Metal-Bands orientiert ist und sich deutlich vom Mainstream abgrenzt. Russische Einwanderer sind es auch, die Israel das nur vordergründige Paradoxon einer antisemitischen Neonazi-Rockszene beschert haben, ein Phänomen, das mittlerweile auch die Knesset (das israelische Parlament) beschäftigt hat. Seit 1975 hat Israel weit über eine Million Einwanderer aus den Staaten der früheren Sowjetunion aufgenommen, die meisten davon Juden. Doch unter ihnen eben auch 200 – 300.000 ökonomische Migranten, so die Schätzungen des Innenministeriums, die sich lediglich als Juden ausgegeben haben, und von denen eine Minderheit, obwohl Bürger Israels, antisemitisches Gedankengut offen äußert. Die musikalischen Vorbilder für die israeli-russischen Neonazis sind vor allem russische Rechtsaußen-Bands wie die dem neofaschistischen Politiker Schirinowski nahe stehenden Metal Korrosija, aber auch britische Blood & Honor-Kapellen wie Skrewdriver und neuerdings deutsche Nazikapellen.


Auf dem Weg zur Nahost-Normalität – Orphaned Land

By © Markus Felix (talk to me) – Own work, CC BY-SA 3.0, 

„Israel ist ein Land der Extreme“, sagt Kobi Farhi. Kobi ist Sänger einer Band namens Orphaned Land. Orphaned Land ist eine sehr bekannte Rockgruppe in Israel und allmählich auch in Europa, vor allem in Deutschland.

„Israel ist ein Schmelztopf der Kulturen. Diese unterschiedlichsten Kulturen, die den Staat Israel bilden, hatten in der Vergangenheit oft kaum etwas gemein. Keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Kultur. Eine echte multikulturelle Gesellschaft, so extrem wie vielleicht nirgendwo sonst in der Welt. Diese Vielseitigkeit ist spannend und kann sehr fruchtbar sein, wenn man sich ihr öffnet.“

Seine Band versucht diese Öffnung, will bewusst raus aus den Randgruppen-Nischen ebenso wie aus der Mainstream-Zwangsjacke. Sie bezieht nahöstliche Elemente in ihre Musik ein, singt in Arabisch, Hebräisch, Latein oder Englisch, mischt griechische Musik mit europäischem Heavy Metal, arabischen Melodien oder westlicher Klassik. Orphaned Land ist musikalisch ziemlich einzigartig. Außerdem überschreitet die Gruppe Grenzen, die gerade in diesen Tagen eigentlich unüberwindbar scheinen. Und das gelingt zu einem erstaunlichen Grad. Orphaned Land dürfte die einzige israelische Rockband sein, die auch eine breite Fanbasis in den arabischen Ländern hat. Zu einem Konzert, das die Band in der Türkei gab und das für das israelische Fernsehen dokumentiert wurde, kamen nicht nur Fans aus der Türkei selbst, sondern auch aus den arabischen Ländern, vor allem aus Syrien.

Überraschend? Nicht wirklich, findet Kobi. Denn Orphaned Land sei mehr als nur eine israelische Rockband. Orphaned Land, erläutert er, „…reflektiert eine übergeordnete kulturelle Identität, eine Nahost-Identität, in der sich arabische Jugendliche ebenso wiedererkennen wie junge Israelis. Der Nahe Osten ist, seit jeher ein gewaltiger Schmelztigel und Israel das Heilige Land für die drei großen monotheistischen Weltreligionen. Die Band selbst zeigt den Facettenreichtum Israels, der Region. Unsere Musiker stammen aus dem Irak, aus dem Jemen, aus Kenya…“.

Orphaned Land propagiert eine übergreifende moderne Nahost-Rock-Kultur, die Israels mühsam entstandenen kulturellen Identitäten ebenso reflektiert wie die der arabischen Nachbarn von Syrien bis Ägypten. Augenfällig wurde der besondere Stellenwert der Band im Nahen Osten während der jüngsten Auseinandersetzung zwischen Hisbollah und Israel, als sich aus den bombardierten Städten Libanons junge Orphaned Land-Fans im Bandforum meldeten und sich mit israelischen, türkischen und westlichen Besuchern über den Wahnsinn dieses Konflikts austauschten.

Inzwischen ist die Band Vorreiter geworden in einer vorerst noch zaghaften inner-israelischen Debatte um den eigenen Standort in einer Region, die endgültig auch zur kulturellen Heimat wird.

© 2006 / 2022 Edgar Klüsener/MuzikQuest
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Foo Fighters, King’s College, 3. Juni 1995: Das europäische Debüt

Titelbild: By Jo – originally posted to Flickr as Foo Fighters Live 21, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3911891

Gerüchte hatte es bereits seit längerem gegeben, dass Dave Grohl eine neue Band gegründet hatte. Seit kurzem stand auch der Name fest: Foo Fighters. Am 3. Juni 1995 dann spielte die Band ihr europäisches Debütkonzert im Londoner King’s College vor einem neugierigen und erwartungsfrohen Publikum. Ich war damals Chefredakteur einer kurzlebigen Musikzeitschrift namens CORE und von der Plattenfirma mit einer Reihe anderer Musikjournalisten zum Konzert eingeflogen worden. Das vorweggenommene Fazit des Konzertberichts: Von dieser Band wird man noch einiges hören. Wie wahr……

Das Auditorium im Londoner King’s College ist nur per Fahrstuhl zu erreichen. Durch ein kleines Labyrinth von Gängen führt der Weg in den zweigeschossigen Saal, an dessen Stirnwand eine kleine Bühne aufgebaut ist, vollgepackt mit Verstärkern, einem Schlagzeug, Mikrofonen und Monitorboxen. Der Bühne genau gegenüber windet sich eine Treppe hinauf zur Balustrade, in deren hinteren Bereichen zwei Bars, auf jeder Raumseite eine, aufgebaut sind. Warmes Bier gibt’s da, aber auch besser gekühltes nichtalkoholisches Gesöff. Zu Studentenpreisen, versteht sich, schließlich befinden wir uns in einem College, irgendwo in London. Durch die breiten Fensterfronten fällt der Blick auf die Themse, deren Wasser von behäbigen Frachtkähnen durchpflügt wird. Rund 800 junge Männer und Frauen füllen den Raum auf beiden Ebenen aus und harren der Dinge, die der Abend noch bringen soll. Die Foo Fighters stehen auf dem Programm, eine Band aus den USA. Mehr weiß kaum jemand. Die Band hat noch keine Platte veröffentlicht, ihre Songs sind noch nicht im Radio gespielt worden, Videos gibt’s eben sowenig. Trotzdem ist die gespannte Erwartung fast körperlich fühlbar. Denn die Foo Fighters, und das weiß jeder, der an diesem Frühjahresabend den Weg ins College-Auditorium gefunden hat, mögen zwar totale Newcomer sein, hinter dem Namen jedoch verbirgt sich ein Drittel von Nirvana. Foo Fighters ist die Band von Dave Grohl, dem Schlagzeuger jener Band aus Seattle, die erst die Charts im Handstreich genommen hatte und dann zur traurigen Legende wurde, weil Sänger und Gitarrist Kurt Cobain sich mit einem gezielten Schuss das Hirn aus dem Schädel geblasen hatte.

Photo aus einem Video-Interview entnommen, das ich mit Nirvana 1994 in Seattle geführt hatte.

Das heißt, eigentlich sind bei den Foo Fighters zwei Viertel von Nirvana präsent. Denn auch Pat Smear, jener Gitarrist, den das Trio für seine letzte Welttournee in die Band geholt hatte, ist mit von der Partie. Doch im Vordergrund steht eindeutig Dave Grohl. Das Licht geht aus, die Spannung steigt noch einmal erheblich. Vier Musiker betreten die Bühne von der Seite her, greifen ihre Instrumente oder nehmen hinter diesen Platz. Und die erste große Überraschung ist fällig. Denn der, der sich hinter dem Schlagzeug niederlässt, ist NICHT Dave Grohl. Der steht vielmehr in der Mitte am Bühnenrand, fasst mit einer Hand das Mikrofon, während die andere lässig den Hals einer elektrischen Gitarre hält. Der Schlagzeuger hat sich zum Gitarristen gewandelt. Na, wenn das mal gut geht! Rechts neben ihm hat sich mit der zweiten Gitarre Pat Smear aufgebaut, am linken Bühnenrand tänzelt nervös Basser Nate Mendel auf und ab. Und hinter seinem Ensemble aus Trommeln und Becken reckt sich ein letztes Mal vor dem ersten Einsatz ein gewisser William Goldsmith.
,,Hi, wir sind die Foo Fighters“, stellt Dave Grohl sich und seine Mitstreiter kurz vor und drischt dann auch schon auf seine Gitarre ein. ,This Is A Call‘ heißt der erste Song, der gleich für drei weitere Überraschungen gut ist. Die erste: Dave Grohl geht mit den sechs Saiten ebenso gut, wenn nicht gar besser um wie in früheren Tagen mit den Trommelstücken. Die zweite: er singt selbst. Und zwar verdammt gut. Drittens: die Musik erinnert stark an Nirvana. Was einige Fragen aufwirft. Zum Beispiel die: Könnte es sein, dass Dave Grohl weit maßgeblicher am Songwriting seiner ex-Band beteiligt gewesen sein, als es nach außen hin den Anschein hatte? Die folgenden Titel ,I’ll Stick Around‘ und ,Big Me‘ verstärken diesen Verdacht nur. Ebenso andere Tracks, die die Band an diesem Abend runterzockt, Songs wie ,Watershed‘, Exhausted‘ oder ,Alone And Easy Target‘. Die Antwort darauf wird Dave Grohl hoffentlich irgendwann selbst geben. Zurzeit allerdings verweigert er sich noch standhaft allen Versuchen, mit ihm ins Gespräch zu kommen. ,,Keine Interviews“, lautet die kategorische Absage auf alle entsprechenden Anfragen. Die Begründung liefert er gleich nach:

,,Foo Fighters ist eine brandneue Band. Über uns gibt’s derzeit noch nichts zu sagen. Worüber sollen wir also in Interviews mit den Journalisten reden?“

Und meint damit wohl:

,,Egal, mit wem ich im Moment auch sprechen würde, das Gespräch würde mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit schon nach wenigen Minuten auf Kurt Cobain und Nirvana kommen. Beides aber hat mit dem, was ich jetzt mache, herzlich wenig zu tun.“

Hinzu kommt noch, dass er schon in früheren Tagen Interviews in der Regel herzlich wenig abgewinnen konnte. Das Reden hatte er nahezu immer Kurt Cobain und Krist Novoselic überlassen, sich selbst auf wenige kurze Statements beschränkt. Eins davon, vielleicht das wichtigste, war:

,,Ich mag diesen übersteigerten Medienrummel nicht. Die Medien tendieren dazu, Personen zu Karikaturen zu verzerren und schaffen so ein Bild von Musikern, das am Ende kaum noch etwas mit den Menschen und noch weniger mit deren Musik zu tun hat.“

Auf der Bühne stellt Dave Grohl unter Beweis, dass er das Zeug zu einem herausragenden Frontmann hat. Er sucht und findet den direkten Draht zum Publikum, ist ständig in Bewegung, malträtiert die Gitarre, stöhnt und schreit ins Mikro. Doch wie gut der Mann als Sänger tatsächlich ist, zeigt sich erst bei jenen Songs, die von seltsam melancholischen Harmonien geprägt sind. Er interpretiert sie auf eine Art, die direkt unter die Haut geht. Der Mann hat Charisma, keine Frage. Und die Band steht ihm in nichts nach, zieht in jeder Phase voll mit, ist tight und kommt auf den Punkt. Die Foo Fighters strahlen eine eigentümliche Mischung aus ungestümer Energie, Aggressivität und Melancholie aus, bestechen jedoch vor allem durch ihre ungebärdige Spielfreude und eine mitreißende Performance, an der nichts gekünstelt oder gar einstudiert wirkt. Insgesamt zwölf Lieder spielt die Band, Lieder, die eine breite stilistische Palette abdecken. Die Bandbreite reicht von rohem Neopunk über schräge und leicht psychedelisch anmutende Klangcollagen bis hin zu eindringlichen kleinen Songs, die vage in einer amerikanischen Folkrock-Tradition stehen, wie sie von Musikern wie Neil Young geprägt wurde.

Das Ende des Konzertes kommt viel zu früh. Als das Saallicht angeht, bleibt als stärkster Eindruck, dass hier eine Band aufgespielt hat, die einen eindeutig eigenen und unverwechselbaren Charakter hat. Und die Erkenntnis, dass Dave Grohl in der Vergangenheit wohl schwer unterschätzt worden ist. Denn der Mann ist nicht nur ein guter Drummer, sondern mehr noch ein überzeugender Gitarrist, Sänger und Performer. Außerdem, die vielleicht größte Überraschung, ein enorm talentierter und versierter Songschreiber. Was nahezu zwangsläufig die Frage nach seinem tatsächlichen Einfluss auf die Musik von Nirvana aufwirft. Eins ist an diesem Abend auf jeden Fall klargeworden: Von den Foo Fighters werden wir noch einiges zu hören bekommen. An dieser Band wird wohl kaum ein Weg vorbeiführen.

C 1995/2002 Edgar Klüsener

Die komplette Setlist 3. Juni 1995, King’s College, London.

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