Kategorien
Aktuell Archive Musik Reportagen Rezensionen

Metallica: 72 Jahreszeiten, Covid und ein Krieg in Europa

Etwas weniger als sieben Jahre sind seit der Veröffentlichung des letzten Metallica-Studioalbums ‘Hardwired … to Self-Destruct’ am 18. November 2016 vergangen. Und was für ein prophetischer Titel das damals war. Das Album erschien in demselben Jahr, in dem Trump das Weiße Haus zum ersten Mal eroberte, der Brexit das große Britannien in ein fremdenfeindliches und in sich zerstrittenes Inselchen transformierte und in dem der Wind der Veränderung sich erneut zu einem Orkan aufblies. Sieben weltgeschichtlich turbulente Jahre später melden sich Metallica mit einem neuen Album zurück. Das trägt den Titel „72 Seasons“ und hat es in sich: es ist wütend, zeugt von Bitterkeit, Frustration und Ohnmacht, aber auch von distanzierter Reflexion. So viel sei schon jetzt gesagt, wer Fan der frühen Metallica ist, von Alben wie ‚And Justice for All‘ oder ‚The Black Album‘, der wird mit ‚72 Seasons‘ besonders gut bedient sein.

Dem Album liegt ein Konzept zugrunde, das James Hetfield wie folgt erklärt: „Die 72 Seasons (Jahreszeiten) sind die ersten 18 Jahre unseres Lebens, die Phase unseres Lebens, in der sich unser wahres oder falsches Selbst formt. In diesem Zeitraum lehren uns Eltern, soziales Umfeld, Kindergärten und Schulen, wer und was wir sind und wie wir sein sollen. Vieles, was wir als Erwachsene erleben, ist eine Wiederholung oder Reaktion auf diese Kindheitserfahrungen. Bleiben wir Gefangene der Kindheit oder befreien wir uns von ihren Fesseln?“ Für Hetfield ist das fortlaufende Studium dieser anerzogenen Grundüberzeugungen höchst interessant, nicht zuletzt deshalb, weil sie letztlich bestimmen, wie wir die Welt sehen und erfahren.

Theorien des Selbst finden wir vor allem in der Psychologie, aber auch in Philosophie und Soziologie, und von Plato über Bourdieu bis hin zu Goffman oder May versuchen sich Theoretiker und Laien an der Beantwortung der ganz großen Frage: Wer bin ich, was bin ich und wie bin ich geworden, wer und was ich bin? Während Goffmans Performativity Theory das Selbst als Schauspieler identifiziert, die auf wechselnde Bühnen ihre jeweils wechselnden Rollen spielen und Goffman in letzter Konsequenz die Existenz eines Selbst an sich infrage stellt, ist für Hetfield das Selbst die Arena, in der Menschen die bittersten inneren und äußeren Konflikte austragen.

Das Selbst ist die Arena, in der Menschen die bittersten inneren und äußeren Konflikte austragen.

In den überragenden Texten des Albums, einige davon vielleicht die besten, die Metallicas Frontmann je geschrieben hat, setzt er sich so mit existenziellen Fragen in einer enervierenden Intensität auseinander. Wie die Texte reflektiert auch die Musik eine Zeit, in der die Welt aus den Fugen geraten ist. Was Kirk Hammett gern zugesteht.

Der Gitarrist hat im April 2023 in seiner Residenz im sonnigen Hawaii zum Telefon gegriffen, um ein wenig über „72 Reasons“ zu plaudern. 30 Minuten hat die Plattenfirma zugestanden, weit über 50 Minuten sollten es am Ende werden.

Geschrieben wurden die Songs des Albums zu einer Zeit, in der auch Metallica sich auf sich selbst zurückgeworfen fanden, inmitten einer Pandemie, die die Welt zum vorübergehenden Stillstand brachte. Ob die veränderten Umstände einen Einfluss auf die Arbeit der Band gehabt haben?

Aber unbedingt“, bestätigt der Gitarrist die naheliegende Vermutung, und fährt fort: „Diese ganze Lockdown-Sache war ein ziemlicher Tiefschlag, und ich war wirklich besorgt, ob wir ein paar Jahre in unserer Karriere verlieren würden oder nicht. Wir haben gründlich über die Situation nachgedacht und schließlich beschlossen, das Beste aus der Lage zu machen und mit dem Schreiben von Songs zu beginnen. Gott sei Dank konnten wir die Zeit nutzen und mussten nicht ohnmächtig zusehen, wie zwei Jahre einfach den Bach runtergingen.“

Wie der Rest der Covid-erschütterten Welt, mussten sich die Metallica-Musiker ebenfalls über Nacht mit Videokonferenz-Software wie Zoom, Teams oder Jitsi vertraut machen. Für Kirk Hammett eine ganz neue Erfahrung.

Bis dahin war Zoom für mich nur ein altes Kinderprogramm im Fernsehen. Doch dann sprachen plötzlich alle von Zoom, aber diesmal war es der Name dieser Video-Konferenz-Software. Daran musste ich mich erst einmal gewöhnen. Der Typ, der diese Software entwickelt hat, tat dies genau zum rechten Zeitpunkt und dürfte inzwischen von seinen Erträgen recht gut leben können.

Der schnelle Hausbesuch oder die gemeinsame Arbeit im Übungsraum gehörten damit zunächst einmal einer besseren Vergangenheit an. Stattdessen wurde notverordnet im Eigenheim gewerkelt und Ideen wurden in Zoom-Konferenzen debattiert und vorgespielt. Kreativität, das Schreiben von Songs, wurde zum Ausweg aus der Ausnahmesituation und ermöglichte es den Musikern zudem, diese zu reflektieren.

Grundsätzlich haben wir unsere Arbeitsweise gar nicht so stark verändert, nur war sie diesmal weniger aus freien Stücken so, sondern eher durch die Umstände erzwungen. Wir waren froh, dass die Technologie es uns ermöglichte, unsere Kreativität sinnvoll und konstruktiv auszuleben. Das Schreiben von Songs gab uns Halt in einer Zeit, in der die Welt wirklich aus den Fugen geraten schien.

Kirk Hammett, das sei am Rande erwähnt und ist eigentlich eine andere Geschichte, nutzte die Zwangspause nicht nur, um am neuen Metallica-Album zu arbeiten, sondern auch, um sein superbes Soloalbum ‚Portals‘ zu schreiben, aufzunehmen und zu veröffentlichen.

Während COVID bin ich ins Studio gegangen und habe mein eigenes Soloalbum produziert, ich habe mich einfach auf meine Erfahrungen aus der Vergangenheit verlassen, die ich in jahrelanger Arbeit im Studio gesammelt habe. Deshalb konnte ich die Verantwortung für die Produktion meiner eigenen Musik, den Sound und das Abmischen ohne Probleme übernehmen. Ich wusste genau, was zu tun war und wie.

Was er damit ebenso sagt: Mit gut 40 Jahren Studio-Erfahrung auf dem Buckel können die Musiker längst jedem Producer auf Erden mehr als nur das Wasser reichen. Dennoch hat sich die Band dafür entschieden, bei den Aufnahmen von „72 Seasons“ erneut mit Greg Fidelman als Produzent zu arbeiten, der sich die Producer-Credits brüderlich mit Hetfield und Ulrich, den treibenden Kräften hinter Metallica, teilt. Welchen Beitrag konnte Fidelman in einem solchen Szenario überhaupt leisten, in dem ihm die Musiker an Erfahrung und Kompetenz ebenbürtig waren und in dem er zudem mit starken und selbstbewussten Charakteren arbeiten musste. Oder, anders gefragt, braucht die Band überhaupt noch einen Produzenten?

Wenn’s ums rein Fachliche geht, erklärt Hammett, dann wohl eher nicht. Dass sie es alle drauf haben, hätten sie schon ausreichend unter Beweis gestellt, Rob Trujillo nicht zuletzt bei Ozzy Osbourne. Überhaupt, Robert Trujillo. Dass etwas anders lief bei der Arbeit an „72 Seasons“ macht Hammett auch am Beispiel Trujillo fest. Der Bassist hat gleich an drei Tracks mitgeschrieben, einer davon, ‚Screaming Suicide‘, ist einer der stärksten und eindringlichsten Titel auf dem Album. Die anderen beiden sind ‚Sleepwalk My Life Away‘ und ‚You Must Burn‘.

Aber zurück zu Greg Fidelman, dessen Rolle, und ihre Wichtigkeit, Kirk Hammett wie folgt beschreibt: „Greg ist der Mann, der die Übersicht hat. Er ist bei jedem Schritt dabei, er überwacht alles. Wir kommen rein und erledigen unseren Teil, machen unsere Parts, und Greg sorgt dafür, dass alles konsistent ist, dass wir alle auf derselben Ebene sind und alles gut zusammenpasst. Er ist sehr wertvoll geworden, weil er bereit ist, die unverschämt lange Zeit zu investieren, die es braucht, um ein Metallica-Album aufzunehmen und fertigzustellen. Das ist wahrlich kein schneller Prozess, sondern einer, der Monate, manchmal Jahre dauert. Greg Fidelman ist derjenige, der die Geduld, die Mittel, die Intuition und den Fokus hat, um sicherzustellen, dass alles musikalisch zusammenkommt und stimmig ist. Und das ist keine leichte Aufgabe. Für mich ist er der König, wenn es um den Aufnahmeprozess geht.“

Lars Ulrich (Pic Gage Skidmore, CC BY-SA 3.0,)

Die Metallica Musiker, insbesondere James Hetfield und Lars Ulrich, sind selbstbewusste und willensstarke Persönlichkeiten, die genau wissen, was sie wollen und ihre eigenen Vorstellungen haben. Um als Produzent in diesem Umfeld bestehen zu können, ist diplomatisches Geschick wohl ebenfalls eine gefragte Qualität.

Absolut,“ bestätigt Kirk Hammett, „Umso mehr, wenn wir alle weit voneinander entfernt arbeiten und interagieren müssen. Greg bringt uns zusammen, hat einen konkreten Plan, was zu tun ist, und er kann uns auf das Wesentliche fokussieren. So müssen wir uns nur auf drei oder vier Dinge konzentrieren, die an diesem Tag erledigt werden müssen, und schon haben wir es geschafft. Anstatt uns durch 200 oder mehr Details quälen zu müssen, um schließlich diese drei oder vier Dinge zu finden, aber völlig ermüdet und erschöpft zu sein, wenn wir endlich so weit sind. Mit anderen Worten: Er hat sich also durch eine Menge Lärm gekämpft, um ein Signal zu finden.

Es ist offensichtlich, dass Band und Produzent sich über die Jahre hinweg gut kennengelernt haben und dass Metallica Greg Fidelman nicht nur vertrauen und seine fachliche Kompetenz anerkennen, sondern ihn zudem als Autoritätsperson akzeptieren.

Er muss sich auskennen, und er muss gute Sounds, gute Mischtechniken und eine gute Produktion beherrschen. Denn jeder von uns könnte sich hinsetzen“, wiederholt Kirk Hammett, „und den Job erledigen, falls nötig. Die Frage ist allerdings, ob wir das an diesem Punkt unseres Lebens und unserer Karriere überhaupt noch wollen. Zehn Monate lang zehn Stunden am Tag im Studio sitzen? Das war okay, als wir in unseren Dreißigern oder Vierzigern waren, aber das ist jetzt etwas anderes. So viele andere Sachen spielen heute eine Rolle in unserem Leben. Wir haben alle Familien. Wir alle haben Verantwortung. Da ist es sehr hilfreich, dass wir Greg an diesem Punkt unseres Lebens haben. Er ist vertrauenswürdig, er hat, wie ich schon sagte, denselben Instinkt wie wir. Wir vertrauen seinem Gehör und seinem Gespür. Es hilft unserer Perspektive, wenn wir jemanden wie Greg um uns haben. Wir profitieren von seinen Ideen, er weiß, was funktioniert und was nicht. Das ist großartig. Ich sage das nur ungern und es klingt wie ein Klischee, aber er ist das neue fünfte Mitglied von Metallica.“

Metallica haben es Fans und Kritikern in der Vergangenheit manchmal nicht einfach gemacht. Immer wieder haben sie bewusst musikalisches Neuland betreten und sich auf Experimente eingelassen, die nicht alle nachvollziehen konnten. Die Zusammenarbeit mit Lou Reed war so eins, die in dem Album „Lulu“ (2011) mündete und die Metallica-Gemeinde und Kritiker in Lager teilte, die einander beinahe unversöhnlich gegenüberstanden. Die einen hassten das Album, eine an Alban Bergs unvollendete Oper ‚Lulu‘ angelehnte Vertonung von Frank Wedekinds Tragödien ‚Erdgeist‘ und ‚Die Büchse der Pandora‘, die anderen liebten es und sahen es als ein Meisterwerk moderner Musik. Für meinen britischen Kollegen JR Moores war es gar eins der zwei wichtigsten je veröffentlichten Alben (das andere ist laut John „Metal Machine Music“). Ich würde zwar nicht so weit gehen wie John, aber gehöre dennoch zu denen, die das Album für einen sträflich unterbewerteten Meilenstein halten. Nach Experimenten oder selbstironisch- autobiographischem Material wie dem Country-Blues ‚Mama Said‘ vom „Load“-Album sucht (oder hofft) man auf „72 Seasons“ vergeblich. Stattdessen ist das Album roh, düster und aggressiv geraten, die oben schon erwähnten Reminiszenzen an „And Justice for all….“ und „The Black Album“ sind unüberhörbar.

Absicht? Eher nicht, erklärt Kirk Hammett, und fügt hinzu, dass man in der Vergangenheit zwar oft mit dem Vorsatz ins Studio gegangen sei, ein Album aufzunehmen, das an die alten Tage erinnere, doch dass diesmal ein anderes Anliegen im Vordergrund gestanden habe, die Rückbesinnung auf die eigenen musikalischen Vorbilder nämlich: „Wir sahen uns nur an und sagten ein Wort oder fünf Wörter: Neue Welle. Neue Welle des britischen Heavy Metal. Okay, sechs Wörter. Und genau das haben wir dann getan. Ich hatte Diamond Head im Sinn und Tygers of Pan Tang, Motörhead, Angel Witch oder Jaguar, Du weißt schon, so was in der Art. „And Justice for All“ oder das „Black Album“ war das Letzte, was ich Sinn hatte, um ehrlich zu sein. Umso überraschender ist es dann für mich, dass jetzt von allen Seiten die Vergleiche mit gerade diesen beiden Alben auf uns hereinprasseln. Eine schöne Überraschung allerdings.“

Die in den Songs durchklingenden Emotionen wie Wut und Frustration seien jedoch nicht der fernen Vergangenheit geschuldet, sondern den Krisen der Gegenwart, fährt Kirk Hammett dann fort: „Ich sehe dieses Album als eine Reaktion auf alles, was in den letzten drei Jahren in den Vereinigten Staaten passiert ist. Diese drei Jahre in diesen verdammten Staaten waren völlig verrückt. Sie waren unvorhersehbar, chaotisch, frustrierend und haben jeden wütend gemacht.

Die Rede ist hier nicht nur von COVID-19, erzwungener Isolation, und Impfdebatten, sondern auch von Donald Trumps versuchtem Staatsstreich, dem Sturm aufs Kapitol, dem gewalttätigen Auseinanderdriften Amerikas in zwei Lager, die sich zunehmend unversöhnlich gegenüberstehen und, schließlich, der völlig veränderten internationalen Lage.

 „Ich habe das Gefühl, dass diese Songs all diese Emotionen in sich vereinen. All diese Emotionen, denke ich, haben sich in diesem Album in unseren Köpfen festgesetzt. Und es ist immer unbewusst oder unterbewusst, denn man kann sich nicht hinsetzen und sagen, okay, ich bin verdammt sauer. So funktioniert das nicht. Man setzt sich einfach hin, macht den Kopf frei und spielt. Und die Emotionen, die dann rauskommen, sind echte, wahre, ehrliche Emotionen. Und die Emotionen, die herauskamen, waren groß und wütend, frustrierend, chaotisch. Ich denke, die Musik fängt das ein. Deshalb überrascht es mich in der Nachschau auch nicht, dass sich auf dem Album keine einzige Ballade findet, nichts, das auch nur annähernd ruhig ist, schön und anrührend. Dieses ganze Album ist ungemein intensiv, wütend, aggressiv, feindselig, konfrontativ. Purer Heavy Metal eben, so wie wir es verdammt noch mal mögen. Und wenn die Vergangenheit mir recht gibt, wenn wir etwas mögen, dann stehen die Chancen gut, dass unsere Fans es auch mögen.“

Obgleich sich auf dem Album keine einzige Ballade findet, verbergen sich in den Songs doch viele kleine und einige ganz große Melodien. Eine von der letzteren Sorte findet gegen Ende von ‚Room Of Mirrors‘, eine wunderschöne Gitarrenharmonie, die an Thin Lizzy erinnert, an Gary Moore, vielleicht sogar an Wishbone Ash. Ein bewusstes Zitat?

Ach,“ lacht Kirk, „wir sind alle seit frühester Jugend glühende Thin Lizzy-Fans. Wenn also ein Gitarrenpart mal nach Gary Moore klingt, egal ob von mir oder James gespielt, dann ist das durchaus eine Hommage, manchmal eine bewusste, manchmal eine unbewusste, aber wir stehen beide unbedingt dazu.“

James Hetfield, Showcase in London 1998, pic: Edgar Klüsener

Die Texte nehmen die grundlegenden Stimmungen der Musik auf und kanalisieren sie. Wie schon so oft sind sie selbstreflexiv, spiegeln die innere Zerrissenheit Hetfields wieder, den Kampf gegen die eigenen Dämonen, lassen aber Raum für unterschiedliche Interpretationen. Hetfield selbst schweigt sich meist aus über seine Texte und deren Bedeutungen, und die anderen Musiker fragen ihn auch nicht danach, sondern respektieren die Haltung. Für Kirk Hammett schließt diese Akzeptanz von James Hetfields Rolle als alleiniger Texter ein, dass er nur dann Texte für seine eigenen Songbeiträge schreibt, wenn er von Hetfield explizit dazu aufgefordert wird. Doch obwohl Hetfield seine Texte nicht erklärt, begreifen seine Mitmusiker ihre Bedeutung oft intuitiv: „Einige der Texte sind für mich offensichtlich; ich weiß worüber er singt, weil ich James kenne. Er ist mein Bruder, also verstehe ich viele der Anspielungen, die er macht.“

Lyrics wie die von ‚Screaming Suicide‘ oder dem mächtigen ‚Crown of Barbed Wire‘ haben eine poetische Qualität, die seinen Bandkollegen in Kirk Hammetts Augen erneut als herausragenden – und immer noch sträflich unterbewerteten – Lyriker bestätigen.

Ich habe schon oft gesagt, dass James ein Dichter ist, der ein Gespür für Sprache hat und definitiv eins für den Rhythmus und die Bedeutung hinter den Worten. Bei diesem Album sind es vor allem die Texte, die mich umhauen. Aber nicht nur die Texte, sondern auch die Phrasierung am Anfang und am Ende des Liedes. Ich denke, James‘ Gesangsleistung auf diesem Album ist mit das Beste, was er je gemacht hat. Es war das erste Mal, dass er in seinem eigenen Haus gesungen hat. Mit ein paar Mikrofonen, ein paar Mikrofon-Vorverstärkern und ein paar Kompressoren, direkt in Logic oder Pro Tools oder was auch immer er benutzt. Und er sagte, dass es einfach einen großen Unterschied in der Performance macht, wenn man entspannt ist und zu Hause aufnimmt. Und ich sagte zu ihm: Das merkt man, Bruder, denn es ist verdammt gut.“

Was auffällt, sind die Anleihen bei religiöser Symbolik in einigen Songs wie ‚Crown of Barbed Wire‘ oder der bereits ausgekoppelten Single ‚Lux Æterna‘. Das ‚ewige Licht‘ (Lux aeterna), auf das Hetfield hier Bezug nimmt, brennt Tag und Nacht in christlichen Kirchen wie in Synagogen am Tabernakel und zeigt die Gegenwart Christi (im Christentum) und Gottes (im Judaism) an.

Dass der Sänger und Gitarrist eine spirituelle Ader hat, gesteht Hammett durchaus zu: „Nun, James hat einen spirituellen Aspekt, genau wie ich einen spirituellen Aspekt in mir habe. Der spirituelle Aspekt von James basiert auf dem Christentum, während mein spiritueller Aspekt eher im Osten und im Nondualismus angesiedelt ist. Wir koexistieren und treffen uns oft in unserer Spiritualität. Aber wir haben unterschiedliche Ansätze und unterschiedliche Ansichten. Wann immer er also über etwas Spirituelles oder Christliches nachdenkt, respektiere ich es vollkommen. Und wenn es das ist, worüber er singen will, dann soll es so sein.“

Das bereits thematisierte neue Chaos in der Welt beschränkt sich natürlich nicht nur auf die USA. In Europa hat Putins expansionistisches Streben nach der Restauration alter Sowjetmacht die alte Nachkriegsordnung, und damit eine 70jährige europäische Friedenszeit (nein, den Balkankrieg haben wir nicht vergessen, aber er hat die Nachkriegsordnung weit weniger erschüttert), endgültig über den Haufen geworfen und Krieg wieder Alltag werden lassen. Der Aufstieg Chinas zur zweiten Supermacht hat die globalen Machtverhältnisse gravierend verändert, und die Demokratie als Form der politischen Selbstorganisation ist weltweit, auch im Herzen Europas, auf dem Rückzug. Kalte und heiße Kriege haben selbstverständlich Auswirkungen auf eine Band, die ihre Fans auf allen Seiten der Frontlinien hat. Konzerte in Kiew oder Moskau dürften für Metallica vorläufig nicht mehr auf dem Programm stehen.

Als besonders schmerzhaft allerdings empfindet Kirk Hammett, dass „…es für uns so aussieht, als würden unsere Fans gegen unsere Fans kämpfen. Das ist es, was hier passiert. Ja, ich weiß, es geht um mehr als das. Es sind Menschen, die gegen Menschen kämpfen. Aber für mich kommt ein persönliches Element hinzu. Wenn ich es als einen blutigen Kampf von Metallica-Fans gegen andere Metallica-Fans betrachte, bricht es mir das Herz.“

Dass der Status und die damit verbundene Prominenz nicht nur ein Segen sind, hat Kirk Hammett schon vor langer Zeit erkannt. Seine mentale Gesundheit hatte lange unter dem öffentlichen Druck gelitten, mit dem er sich als Metallica Musiker auseinandersetzen musste. Einen Halt fand er schließlich in seiner Hinwendung zur Spiritualität: „Es ist wichtig, sich mit etwas verbinden zu können, das größer ist als man selbst. Es ist wichtig zu wissen, dass der Anfang und das Ende des Universums nicht bei einem selbst beginnt. Wenn du wie ich psychische Probleme hast, aber auch eine Berühmtheit bist, dann müssen die Realitäten irgendwann miteinander kollidieren und in eine Krise münden. Ich hatte zahlreiche Krisen in meinem Leben. Meine Spiritualität und Nüchternheit halten mich heute auf dem Boden der Tatsachen. Spiritualität gibt mir das Gefühl, dass ich immer noch Teil der menschlichen Rasse bin. Sie hält mich davon ab, mich über oder unter allen anderen zu sehen. Am Ende ist alles außer der Musik irgendwie nur Blödsinn. Wenn man wirklich spirituell ist, durchschaut man den ganzen Scheiß. Deshalb denke ich, dass Religion und Spiritualität wichtig sind, besonders wenn man sich in einer Situation befindet, in der die Menschen von einem Inspiration, Führung und Positivität erwarten.“

Das Thema geht Kirk hörbar nahe. Treffend beschrieben haben diese Erfahrung seiner Meinung nach die Musiker von Black Sabbath, als sie ihr Greatest Hits Album schlicht ‚We Sold Our Souls To Rock‘n’Roll benannte: „Es ist wirklich großartig, 100 Millionen Alben zu verkaufen und all diese Ressourcen zu haben und in der Lage zu sein, ein anständiges Haus für deine Mutter zu kaufen und eine schöne Gitarre zu haben. Aber verdammt, Mann, wie viele meiner Freunde, die ich in den frühen 80ern um mich hatte, haben es nicht bis hierher geschafft? Eine Menge, Bruder. Viele meiner Freunde, die eine Überdosis nahmen, begingen Selbstmord. Es ist eine brutale Branche. Und im Nachhinein ist Sex, Drogen und Rock ’n‘ Roll der größte Mythos und so schädlich für die Gesundheit und das Wohlergehen und die verdammte Entwicklung eines Menschen. Ich wünsche, ich hätte es besser gewusst, als ich jung war und damals Sex, Drogen und Rock’n’Roll einfach ignoriert. Wenn man das jahrzehntelang gemacht hat, ist man am Ende eine ziemlich leere Hülle, und dann muss man seine Seele suchen und kommt schließlich zu dem Schluss, dass Sex, Drugs and Rock’n’Roll nur eine seltsame verdammte Mythologie ist. Worauf es am Ende nur ankommt, ist ausschließlich die Musik.“

Musik soll denn auch weiter im Vordergrund stehen, von Herzen kommende, wütende, manchmal an der Welt verzweifelnde und oft frustrierte Musik, wie sie so nur von Metallica kommen kann. Die Band hat mit „72 Seasons“ ein Album vorgelegt, das sosehr den gegenwärtigen Zeitgeist beschreibt wie schon seit langem keine Veröffentlichung mehr.

Edgar Klüsener

Kategorien
Aktuell Musik Rezensionen Zeitgeschichten

PRIMAL SCREAM, Manchester, 9. Juli 2022

Es ist ein perfekter Sommertag für ein perfektes Primal Scream Konzert in einer perfekten Umgebung. Die Castlefield Open Air Arena liegt im ehemaligen Kanalhafenbecken Manchesters, zu Füßen der alten römischen Befestigung Castra Mancunium, der die Stadt ihren Namen verdankt. Hinter der Bühne sind Hausboote angedockt und ein Wirrwarr von Eisenbahn-, Tram- und Autobrücken überzieht das Hafenbecken, während der industriellen Revolution einer der wichtigsten Transportknotenpunkte Englands. Als Walt Disco, die erste von insgesamt drei Vorbands, die Bühne betreten, brennt die Sonne von einem wolkenlos blauen Postkartenhimmel auf eine zu diesem Zeitpunkt bestenfalls halb gefüllte Arena. Die Band aus Glasgow hat unlängst ihr Debütalbum ‚Unlearning‘ veröffentlicht, das von der Kritik weitgehend wohlwollend aufgenommen worden ist. Musikalisch bedienen sich Walt Disco freizügig im Glamrock-Repertoire der Siebziger und Achtziger und reichern die Anleihen mit Goth- und New Wave-Elementen und einer gehörigen Prise Punk an. Das funktioniert überraschend gut. Live spielt die Band bewusst provozierend mit Gender-Klischees, und Sänger James Potter wirbelt im durchsichtigen purpurfarbenen Kleid über die Bühne. Mit hochenergetischen Songs wie ‚Cut Your Hair‘ oder ‚I Had The Perfect Life‘ heizen Walt Disco das Publikum an, das sie am Ende dafür auch kräftig feiert. Den Namen Walt Disco sollte man sich merken.

Eigengewächs aus Manchester – Singer/Songwriter Lone Lady, Pic: Edgar Klüsener/2022

Als nächste spielt LoneLady auf. Hinter dem Namen verbirgt sich die Sängerin, Gitarristin , Songwriterin und Produzentin Julie Campbell aus Manchester. Während ihres Sets füllt sich die Arena weiter. Sie und ihre zwei MitmusikerInnen haben hier ein Heimspiel, und sie machen das Beste daraus. Ihre post-punkigen elektronischen Stücke haben einen industriellen Hauch, der perfekt zur postindustriellen Atmosphäre Castlefields passt. Dennoch, Teile des Publikums nutzen die Gelegenheit, die der Lo-Fi Funk Set des Trios bietet, um sich an den Bier- und Würstchenständen mit Proviant für die anstehende Hauptattraktion zu versorgen.

Bevor es dann endlich Zeit für Primal Scream ist, sind zunächst noch The Mysterines aus dem benachbarten Liverpool an der Reihe. Inzwischen ist die Menge sichtlich angewachsen und freie Plätze sind in der Arena zunehmend schwerer zu finden. Seit sein Debütalbum im März in den Top Ten der Albumcharts gelandet ist, wird das Quartett aus der Klopp- und Beatles-Stadt in britischen Musik-Medien als ganz heißer Tipp gehandelt, und schon der Opener ‚Life‘s A B*tch (But I Like It So Much) macht klar, dass was dran ist am Mysterines-Hype. Als Anheizer sind die vier großartig, ihr grunge-lastiger und manchmal hypnotisch schwerer Rock sowie die großartige Performance von Gitarristin und Sängerin Lita Metcalfe heizen die ohnehin schon fantastische Stimmung in der inzwischen proppenvollen Arena um einige weitere Grade an. Nach dem letzten Akkord der Mysterines zeigt lang anhaltender und teils frenetischer Applaus, dass die Liverpooler auch in Manchester gewonnen haben.

Die mittlerweile 8.000, eine bunte und erwartungsfrohe Mischung der Generationen, sind endgültig bereit für die Hauptattraktion.

Punkt 21 Uhr baut sich zunächst der fünfköpfige Gospel-Chor auf einem Podest im Hintergrund der Bühne auf, vom Band ertönt ‚I Belong to Glasgow‘ von Andy M. Stewart. Dann schreitet Bobby Gillespie gemächlich an den Bühnenrand. Er trägt einen maßgeschneiderten Anzug in den psychedelischen Farben von ‚Screamadelica‘, des Albums, das dem einstmaligen Indieact Primal Scream 1991 den Durchbruch in den Massenmarkt gebracht hatte. Die kurze Tournee, die die Schotten in diesem Jahr spielen, steht ganz im Zeichen des dreißigjährigen Jubiläums von ‚Screamadelica‘.

Bobby Gillespie und der Gospel Chor. Pic: C Edgar Klüsener 2022
Mr Charisma: Bobby Gillespie (Pic: Edgar Klüsener, 2022)

Gillespie wird mit tosendem Beifall und Sprechchören empfangen. Dann geht’s los. „Wir zelebrieren die heilige Dreifaltigkeit des Rock’n’Roll’“ adressiert er die Menge. „Seid ihr bereit?“ Ein ohrenbetäubendes ‚Ja‘ ist die Antwort der versammelten Gemeinde. Ab geht die Post mit dem gospelinspirierten ‚Movin‘ On Up’, dessen Zeilen anfangs zögerlich, dann zunehmend lauter von der Menge mitgesungen werden. Bobby Gillespie tänzelt leichtfüßig über die Bühne – kaum zu glauben, dass der Mann bereits 60 ist –, und seine Gestik erinnert in Momenten an die eines charismatischen Predigers. Nur dass seine Botschaften im Rahmen einer fundamental-christlichen Kongregation sicherlich ebenso fehl am Platze wären wie die kaum verklausulierten Referenzen zu drogeninduzierten psychedelischen Sinneserfahrungen. Stilistisch ließen sich Primal Scream mit dem Release von ‚Screamadelica‘ nicht mehr in eine vordefinierte Ecke drängen. Mit dem Album brachen die Schotten seinerzeit aus dem Hinterstübchen der Indierock-Klischees aus und öffneten sich für Gospel, Acid House, Dance, R&B und die Rave-Subkultur, die im England der späten Achtziger und frühen Neunziger ihre Hochblüte hatte. Dass das heute noch so frisch und unverbraucht klingt wie vor drei Jahrzehnten, belegt nicht nur der sehr hohe Anteil der unter-Dreißigjährigen im Publikum, sondern auch die Ekstase, in die sich die Menge steigert, je länger das Konzert fortdauert. Es folgen ‚Slip Inside This House‘ und ‚Don‘t Fight It, Feel It’. Letzteren Song widmet Gillespie Denise Johnson. Die Sängerin aus Manchester hatte auf dem Screamadelica Album gesungen und ist auf dem Höhepunkt der Pandemie im Alter von 56 Jahren gestorben.

Es folgt ein weiterer magischer Moment. In der Ansage geht Gillespie auf den Krieg in der Ukraine ein, auf die tiefen Risse die die britische Nation spalten, aber auch die Gesellschaften der USA, Frankreichs und anderer Nationen. Die Aufforderung ‚Come Together‘ ist in Brexit- und Johnson Zeiten so zeitgemäß wie wohl selten zuvor in den vergangenen 30 Jahren und wird zur zelebrierten Hymne für zumindest einen ebenso wunderschönen wie flüchtigen Sommerabend, in dem der zerrissenen Welt vor den Toren der Arena mit Eintracht begegnet wird. Zusammenschluss statt Zersplitterung bis zum Ende des Konzerts. Das weitere Programm besteht aus ‚Inner Flight‘, ‚Screamadelica‘, ‚I‘m Coming Down’, ‚Damaged‘, ‚Higher Than The Sun‘ und ‚Shine Like Stars‘.

Primal Scream haben sichtlich Spaß an ihrem Vortrag, und die pure Spielfreude schwappt von der ersten Sekunde an über auf die dichtgedrängte Menge vor der Bühne. Die Band ist eingespielt, die Show, illuminiert mit aufwändigen Lichteffekten und Videoprojektionen, die in vielen subtilen Variationen den psychedelischen Farbenrausch von ‚Screamadelica‘ wiederbeleben und interpretieren, spricht alle Sinne an. Die Musiker beweisen ihre technischen und musikalischen Qualitäten. Vor allem Bassistin Simone Butler wird schon seit Jahren zu den Besten ihres Faches gezählt und Gitarrist Andrew Innes besticht auch in Manchester mit präzisem Riffing und gefühlvollen Soli.

Vor allem aber ist es Frontmann Bobby Gillespie, der die Show trägt. Entertainer, Magier, Mr. Charisma höchstpersönlich. Er zieht das Publikum in seinen Bann und etabliert von der ersten Minute eine intensive Wechselbeziehung zwischen Bühne und Auditorium.

Um 22:15 Uhr beenden Primal Scream den Set und verlassen die Bühne. Weil die Arena sich in einem Wohngebiet befindet, gibt es strikte Vorgaben: Punkt 22:30 sollen die Lichter an und die Verstärker aus sein. Nach zwei Minuten schlurft Bobby Gillespie auf die Bühne zurück.

Vom Band erklingt das Intro zu ‚Loaded‘:

We wanna be free, we wanna be free to do what we wanna do. And we wanna get loaded. And we wanna have a good time. And that’s what we’re gonna do. We’re gonna have a good time. We’re gonna have a party!”

Und eine Party wird es, Curfew hin, Vorschriften her. Auf ‚Loaded‘ folgen ‚Swastika Eyes‘ mit Videoreferenzen zu Trump, Johnson und Putin und schließlich ‚Jailbird‘. Und das ist’s dann endlich und eigentlich immer noch viel zu früh, 10:30 Uhr, Show vorbei. Denkste! An Aufhören denkt hier niemand, stattdessen bittet Gillespie eine lokale Legende auf die Bühne, Gary ‚Mani‘ Mounfield, ehemals Bassist der Stone Roses und, von 1997 bis 2008, Vorgänger von Simone Butler bei Primal Scream. Spätestens jetzt ist es purer Rock’n’Roll, der die wie ein Amphitheater aufgebaute Arena zum Toben brachte. ‚Rocks Off‘, der finale Song ist pures Dynamit und beendet schließlich eine sensationelle Vorstellung von Primal Scream in Manchester.

C 2022 by Edgar Klüsener

Kategorien
Aktuell Musik Rezensionen Zeitgeschichten

Freiheit wird zur Einsamkeit: Weißer Schnee, Schwarze Nacht

Diese kleine Auseinandersetzung mit dem Text des Liedes ‚Weißer Schnee, Schwarze Nacht‘ der Band Ihre Kinder erschien in dem 2011 von Erik Waechtler und Simon Burke herausgegebenen Band ‚Lyrix: Lies Mein Lied – 33 1/3 Wahrheiten über deutschsprachige Songtexte‘. Im Westen Deutschlands waren Ihre Kinder die Pioniere deutschsprachiger Rockmusik, die unter anderen Udo Lindenberg dazu inspirierten, es ebenfalls mal mit der bis dahin arg diskreditierten Muttersprache zu versuchen. 

Der silberne Löffel kocht für sie ab; der Gürtel schnürt ihr die Vene ab; sie drückt die Nadel tief in ihr Blut; dann schießt sie ab und versinkt in der Glut“.

Mit dieser trockenen, teilnahmslosen Beschreibung des kurzen Wegs zum flüchtigen Frieden mit der Welt hatte die Gruppe Ihre Kinder 1972 einen Song in deutscher Sprache über Drogenkonsum geschrieben. Die Nürnberger waren die erste westdeutsche Rockband, die konsequent auf deutsche Texte setzte. Sie schrieben poetische Lieder, eine Art psychedelischer deutscher Beatlyrik, konnten aber auch sehr eindeutig und präzise sein, wenn sie politische Themen aufgriffen. Musikalisch deckten sie eine enorme Bandbreite ab, das Spektrum reichte von akustischem Folk über satten Blues und orientalisch angehauchten Psycho-Pop bis hin zu hammerhartem Rock. Deutsch war da als Rockidiom noch weitestgehend diskreditiert, die Sprache seicht-rosafarbener Schlagerromantik. Englisch hingegen war cool, die Sprache neuer Freiheiten und Träume. Deutsch war nicht nur vorbelastet, es schien nach 1945 auch extrem provinziell. Und so radebrechten in deutschen Jugendzentren und Vorortkneipen hunderte von hoffnungsvollen Nachwuchsrockern englische Lyrics, die weder sie noch ihr Publikum so recht verstanden. Dass die westdeutsche Musikindustrie ähnlich fühlte und dachte, dass ihr allein schon bei der Vorstellung grauste, Rockmusik könne auch mit deutschen Texten funktionieren, belegt die Geschichte der Nürnberger.

Das erste Album der Band wurde von deutschen Plattenfirmen zunächst mal als viel zu unkommerziell abgelehnt. Rockmusik, das war die vorherrschende Meinung in der Tonträgerbranche, konnten Engländer und Amerikaner viel besser. Und dann noch deutsche Texte? Wozu gab’s schließlich englisch?

Am Ende bewies dann doch eine Plattenfirma Mut: Philips brachte das Album heraus, allerdings so halbherzig, dass es beinahe sang- und klanglos unterging. Immerhin, Hermann Zentgraf, der zuständige A&R-Mann bei Philips brachte die Gruppe anschließend bei dem Münchener Independent-Label Kuckuck unter und ebnete ihr damit den weiteren Weg im Wirtschaftswunderland.

Ihr drittes Album trug als Titel schlicht die Seriennummer, war in ein Jeanscover verpackt und die Originalausgabe erzielt heute unter Sammlern Höchstpreise. Es war zugleich das stärkste Album der aus heutiger Sicht Bestbesetzung der Band. Bei Ihre Kinder herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Nur Gitarrist, Sänger und Komponist Ernst Schultz, der Schlagzeuger Muck Groh und der Sänger Sonny Hennig konnten als Kernbesetzung gelten. Das Jeansalbum bescherte dem Kuckuck-Label seinen ersten Hit und war zugleich das wütendste und bissigste Album der Nürnberger. Auf ihm findet sich auch die Ballade „Weißer Schnee, schwarze Nacht“.

Ihr viertes Album „Werdohl“, benannt nach einer grauen Industriestadt in den idyllischen Tälern des Sauerlandes, sollte auch schon das letzte sein.

Nach „Werdohl“ wurde es ruhig um Ihre Kinder. Aber ihr Vorbild hatte bereits Schule gemacht. Udo Lindenberg, der sich ausdrücklich auf die Nürnberger als Vorbilder beruft, war der erste, der Rock mit deutschen Texten endgültig etablierte, viele weitere sollten folgen.

„Weißer Schnee, schwarze Nacht“ war ein Novum: ein deutscher Rocksong über Drogengebrauch, der weder sensationslüstern überzeichnend war noch Drogen als Mittel zur Bewusstseinserweiterung und als bewussten Protest gegen die als kalt und autoritär empfundenen Strukturen des frühen Nachkriegsdeutschland verherrlichte. Ebensowenig bediente der Song die längst auch in Deutschlands Gegen- und Jugendkultur verbreiteten und anerkannten stereotypischen Klischees des „Sex&Drugs&Rock’n’Roll“-Lebensstiles.

Ihre Kinder

Die sechziger und frühen siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren im Westen Deutschlands das Jahrzehnt, in dem politisches Engagement sinnlich wurde, in dem der Aufstand gegen die Welt der Väter und deren düsteres Erbe auch ein Aufstand gegen eine Realität wurde, die als kalt, bedrückend und erschreckend eindimensional empfunden wurde. Die Auseinandersetzung fand in den Straßen ebenso statt wie in den Köpfen, und sie wurde mit vollem Körpereinsatz geführt; Sinnlichkeit und Erotik wurden ebenso zu Waffen der Auseinandersetzung wie Haschisch, LSD und Heroin.

„Turn on, tune in, drop out“ (Schalte ein, stimme dich ein, steig aus), hatte der amerikanische Psychologie-Professor und LSD-Prophet Timothy Leary Mitte der sechziger postuliert und LSD zur Allzweckwaffe in der Befreiung des Bewusstseins erklärt. Die amerikanische Hippiebewegung hatte den Slogan mit wachsender Begeisterung aufgenommen. Die Vermengung aus entstehender globaler Popkultur anglo-amerikanischer Prägung mit wachsendem politischen Unwohlsein einer ganzen Generation war explosiv. Eine ganze Generation wechselte, so schien es, auf die Überholspur. Live fast, die young (Lebe schnell, stirb jung) war ein anderer Slogan, den vor allem Rockmusiker ernst zu nehmen schienen.

Ian Dury fasste das Credo schließlich kurz und knapp zusammen:Sex and drugs and rock and roll ; Is all my brain and body need ; Sex and drugs and rock and roll ; Are very good indeed“ (Sex und Drogen und Rock’n’Roll ; Ist alles was mein Gehirn und mein Körper brauchen ; Sex und Drogen und Rock’n’Roll ; sind in der Tat sehr gut)“.

Sex, Drogen, Rock’n’Roll – das stand für ein Leben im Ausnahmezustand, für grenzenlose Freiheit, neue Erfahrungen, für Lust und Exzess. Ein Leben am Abgrund, in den man durchaus stürzen konnte – was den Spaß am Risiko eher noch erhöhte.

Ihre Kinder waren eine Rockband, und damit waren Drogen beinahe zwangsläufig Teil auch ihres Lebensumfeldes. Sie wussten genau, worüber sie schrieben. Der Song richtete sich an ein Publikum, das ebenfalls verstand.

Die eingangs beschriebene Prozedur ist jedem Junkie bestens vertraut und schnell in Fleisch und Blut übergegangen. Das Abkochen des Heroins, häufig vermischt mit ein bisschen Zitronensäure, im Löffel, das Aufziehen der wässrigen Lösung in die Spritze, das Abschnüren der Blutzufuhr knapp über dem Ellenbogen mit einem Ledergürtel, das Suchen nach einem Stück heiler, noch nicht verhärteter Vene, der Einstich, der Abdruck, der kurze, heiße Kick wenn die Droge an den Rezeptoren andockt, und dann die wohlige Taubheit gegenüber der Welt, das Abschalten für einige Momente.

1968 waren Junkies immer noch ein relativ seltenes Phänomen in Westdeutschland, zumeist nur in den ganz großen Städten zu finden. Die veröffentlichte Meinung reagierte ebenso sensationsgeil wie hysterisch auf die langsam aber stetig steigende Zahl von Heroinsüchtigen; absurde Horrorstories dominierten die Schlagzeilen, sachliche Berichterstattung fand kaum statt. Stattdessen wurden von Haschisch über LSD bis zu Heroin alle Drogen über einen Kamm geschoren und gleichermaßen verteufelt. In „Weißer Schnee, schwarze Nacht“ ist davon nichts zu finden. Nüchterne Vertrautheit mit dem Subjekt zieht sich durch den ganzen Text. In den ersten Zeilen des Liedes wird zunächst die Szene gesetzt:

Die Wände sind grau und das Zimmer ist kahl; Der Boden ist feucht und das Licht eine Qual, ein Mädchen braucht keine Liebe mehr, ohne Schnee ist ihr Leben leer.

Ein Mädchen hat sich für den Schnee, damals ein weit geläufigeres Synonym für Heroin als heute, entschieden, und Schnee ist längst der Mittelpunkt ihres Lebens. Die Kargheit des Raumes, der Mangel selbst an einfachem Komfort versinnbildlicht die Tragweite der Entscheidung. Und eine solche, eine freiwillig getroffene, war es irgendwann mal. Nun ist der Schnee alles, was sie noch hat. Die Freiheit, die die sie gesucht haben mag, den Ausweg aus einem Leben, das wenig versprechend erschien, der Durst nach Abenteuer – all das spielt keine Rolle mehr. Sie mag es nicht wahrhaben wollen, immer noch an ein Spiel glauben, aber alles was zählt, ist am Ende nur noch der Schnee. Er gibt ihr alles. Doch sie zahlt einen Preis dafür. Und der Preis wird benannt:

Freiheit wird zur Einsamkeit; Sie glaubt nicht was kommt und sie glaubt nicht was war; Sie stirbt ihr Leben, bevor sie es überhaupt sah“.

Warum wird das namenlose Mädchen zum Junkie? Warum der Griff zur Droge? Der Text stellt diese Frage nicht, beantwortet sie aber. Die Suche nach Freiheit ist ein Grund. Die Lust aufs Experiment, auf die spielerische Erforschung der Grenzen dieser Freiheit ein anderer. „Das ist Leben für sie,“ heißt es, und weiter: „Doch sie glaubt an ein Spiel.“ Keine Rede von den sozialen Gründen, die in die Drogenabhängigkeit führen können, von der Armut und Ausweglosigkeit, die das Leben sozialer Randgruppen in modernen Großstädten bestimmt, für die die Droge ein Teil des beklemmenden Alltags im Abseits ist. Stattdessen der Verweis auf den anfangs spielerischen Umgang mit dem Schnee, auf die angenommene Funktion der Droge als Mittel und Weg zu Freiheit und Ekstase. Und die bittere Schlussfolgerung, dass was als unbefangenes Spiel mit dem Feuer begann, am Ende in schwarzer Nacht endete. Spätestens hier wird der Text zur Parabel auf die drogenbefeuerte Protest-, Pop-, Hippie- und Rock’n’Roll-Kultur der Sechziger und frühen Siebziger Jahre.

„Weißer Schnee, Schwarze Nacht“ ist von daher auch ein Abgesang auf die Träume und Ideale einer Jugendbewegung, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ihre Unschuld und Naivität endgültig verloren hatte. Die Erkenntnis, dass tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen nicht auf die Schnelle zu haben sind und dass das Erschließen neuer Bewusstseinszustände und alternativer Realitäten auch als ganz banale Flucht in eine eher noch düsterere Wirklichkeit münden kann, mochte sich zwar 1972 längst noch nicht in nennenswerter Weise durchgesetzt haben, Ihre Kinder gaben sich aber schon da skeptisch. Die Freiheit, eine sehr egozentrische Auffassung von Freiheit, die die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse, Sehnsüchte und Wünsche über alles stellt, wird da zur Einsamkeit der Einzelkämpfer, der Verlorenen. Die enttäuschten Träume und Ideale münden in eine desillusionierte Resignation, in der kein Platz mehr ist für Glaube, Begeisterung oder Hoffnung. Die Party mag noch weiter gehen, am Ende aber winkt ein prächtiger Kater.

„Weißer Schnee, schwarze Nacht“ ist ein merkwürdiger Song. Er propagiert nicht, noch verurteilt er; der so typisch deutsche erhobene Zeigefinger bleibt in entspannter Ruhestellung. Er beschreibt eine freie Wahl und ihre Folgen, die Ernüchterung, die noch jedem Rausch folgt. Zugleich hinterfragt er, ohne zu werten, ideologische und kulturelle Ideen-Konstrukte, die Drogen als Mittel zur Selbstbefreiung, zur Förderung oder gar Entfesselung der Kreativität anpreisen.

Als die Band das Lied 1972 erstmals veröffentlichte, schien die kleine Akustik-Ballade mit ihren nüchternen Beschreibungen und dem melancholischen Unterton seltsam zeitfern, zollte so gar nicht dem Zeitgeist Tribut. Gerade diese skeptische Distanz jedoch ist es, die „Weißer Schnee, Schwarze Nacht“ auch 39 Jahre später in einer in vielerlei Beziehungen radikal veränderten Welt noch anrührend und authentisch klingen lässt.

 

 

Erstabdruck: 2011, Copyright 2011/2022 Edgar Klüsener

Klüsener, E. (2011). Freiheit wird zur Einsamkeit. In E. Waechtler & S. Bunke, eds. Lyrix: lies mein Lied: 33 1/3 Wahrheiten über deutschsprachige Songtexte. Freiburg: Orange Press, pp. 91–96.

Kategorien
Archive Musik Rezensionen Videotipps

Spellings ‚The Turning Wheel‘ – Ein Hauch von Kate Bush und beschwingter Melancholie

Hinter dem Künstlernamen Spelling verbirgt sich die kalifornische Künstlerin  Chrystia Cabral, die am 29. Juni ihr zweites Album The Turning Wheel veröffentlichen wird. Der Nachfolger von „Mazy Fly“ aus dem Jahr 2019 dreht sich um Themen wie menschliche Einheit, die Zukunft, göttliche Liebe und die rätselhaften Höhen und Tiefen des Karnevals namens Leben.

„The Turning Wheel“ sollte ursprünglich im September 2020 erscheinen, aber die erzwungene Pause erwies sich letztlich als Segen. Die Verzögerungen eröffneten Spelling letztlich die Möglichkeit, sich mehr ihren Texten zu widmen. „The Turning Wheel“ zeigt eine deutliche Entwicklung des lyrischen Stils, von der eher beschwörenden und abgekürzten Herangehensweise ihrer früheren Arbeiten hin zu einer expansiveren, narrativen Produktion. 

https://youtu.be/TnuG9jvRcHk

„The Turning Wheel“ ist in zwei Hälften aufgeteilt – „Above“ und „Below“. Üppig schimmernde Streichquartett-Klänge verbinden sich mit eindringlichen Banjo- und wandernden Fagott-Leads, während das Album von der jubilierenden, warmen und verträumten Stimmung der „Above“-Stücke zu den eher kühlen Klängen der „Below“-Songs übergeht. Diese Entwicklung wird durch Spellings Gesangsstil unterstrichen, der das theatralische und folkloristische Herz ihres Songwritings betont.

Der starke Titeltrack des Albums erinnert (zufällig?) in Stil und visueller Inszenierung – ein Hauch von Yorkshire Dales Romantik inbegriffen – an die britische Ikone der 80er, Kate Bush, insbesondere an deren Klassiker ‚Wuthering Heights‘. Die Reminiszenz ist allerdings alles andere als ein Plagiat. Der Song zeichnet sich durch eine beschwingte, romantisierende und hauchzart melancholische Leichtigkeit aus, die anrührt und beeindruckt.

Für die Produktion und musikalische Umsetzung des Albums hat Spelling mit einem 31köpfigen Ensemble zusammengearbeitet. Das Ergebnis kann sich sehen und hören lassen. The Turning Wheel ist sicherlich eine der wichtigeren Veröffentlichungen des Sommers 2021.

Jonathan Gold

(der Text beruht zum Teil auf einer überarbeiteten Pressemitteilung von Cargo Records)

Titelbild: Photography by Aidan Jung

Kategorien
Aktuell Musik Nachrichten Rezensionen Videotipps

Legs On Wheels: Krautig, psychedelisch, abgedreht

Ein Hauch von Kraut Rock, Amon Düül II auf Speed vielleicht, jede Menge psychedelischer Rock, und in diesem Kontext überraschend einprägsame Melodiefetzen – Legs on Wheels treiben die Corona Pandemie und Lockdown induzierte Verrücktheit zu neuen Höhepunkten. Die Combo aus dem verregneten Nordwesten Brexitanniens zelebriert den aus den Fugen geratenen Alltag aber nicht nur musikalisch, sondern setzt in ihren Videos auch visuelle Glanzlichter. Das Video zum aktuellen Song ‚Milktop Mandy‘ ist eine Reise in psychedelische Wunderwelten, die von Dada ebenso inspiriert sind wie von Timothy Leary, dem Sergeant Pepper Movie und Salvador Dali. Zum Beginn des Videos sitzt der Sänger völlig bekleidet in der gefüllten Badewanne und schrubbt seine Achselhöhlen mit einer langstieligen Bürste. Die ersten Zeilen des Songs klingen sehr nach den Beatles und verraten damit schon einiges über einen der Einflüsse der Band. Doch dann wird es bunt und, na ja, krautrockig, erinnert an Amon Düül II, aber natürlich auch an britischen Psychedelic Rock der 60er Jahre.

https://youtu.be/0RAtCgblxhY

Britische Musiker hat es hart erwischt. Der Brexit macht Touren in der EU, bis dato für viele Künstler eine ihrer Haupteinnahmequellen, extrem kompliziert und für viele so teuer, dass sie sich nicht mehr lohnen. Der Markt vor ihrer Haustür ist ihnen weggebrochen, seitdem Brexitannien die Tür hinter sich zugeschlagen hat. Und dann kam zu allem Überfluss noch der Covid-19 bedingte Lockdown, die von der Zwangsquarantäne bedingte Untätigkeit. So unangenehm bis katastrophal die Folgen von beiden für das wirtschaftliche Gedeihen der Musiker sind, so kreativ gehen sie doch mit ihnen um und brechen zunehmend erstarrte Hör-und Präsentationsformen auf, die in einer anderen Wirklichkeit noch relevant erschienen, Legs on Wheels ist nur ein Beispiel dafür.

MQ 2021/ Edgar Klüsener

Kategorien
Archive Musik Nachrichten Rezensionen

Dirkschneider & The Old Gang: Alte Helden leben länger

Man könnte es eine Accept-Reunion ohne Wolf Hoffmann nennen. Muss man aber nicht, denn was sich da aus der Heavy Metal-Geschichte in die Gegenwart stiehlt, erinnert personell zwar mehr als nur ein wenig an glorreiche Solinger Zeiten, ist aber letztlich doch klar ein anders gelagertes Projekt. Rund um Udo Dirkschneider, so unverwüstlich wie schon seit Dekaden und mit bewundernswerter Sturheit nach wie vor eine relevante Reibeisenstimme, hat sich mit den früheren Accept-Kumpanen Stefan Kaufmann und Peter Baltes, seinem trommelnden Sohn Sven und dem früheren U.D.O.- Gitarristen Matthias ‚Don‘ Dieth’ sowie Sängerin Manuela Bibert eine außerordentliche Truppe gesammelt. Die Besetzung allein ist schon vielversprechend und deutet ein Projekt an, dessen wahre Größenordnung in Zukunft wohl noch für einige Überraschungen gut sein wird. Erste Hinweise auf die fantastische musikalische Qualität offenbaren die beiden unter Lockdown-Bedingungen produzierten Videos für ‚Arising (Face of A Stranger)‘ und ‚Where Angels Fly‘, die derzeit auf Youtube für Furore sorgen. Weitere Nachrichten zum Projekt folgen in Kürze.

Youtube Video ‚Face Of A Stranger‘):

Youtube Video ‚Where Angels Fly‘

Kategorien
Aktuell Musik Nachrichten Rezensionen

Der Wind der Veränderung bläst immer weiter

Am 27. November veröffentlichen die Scorpions eine Sonderausgabe von „Wind Of Change“. Der Song hat mittlerweile 30 Jahre auf dem Buckel und ist spätestens seit dem Mauerfall zur Hymne der friedlichen Revolution geworden, die in den Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts Europa von Grund auf umgekrempelt hat. Die Box enthält eine CD, eine Vinylversion, die Partitur und, das eigentliche Schmuckstück, ein hochwertig aufgemachtes 84-seitiges Buch mit festem Einband. Das Buch, geschrieben von MuzikQuest-Chef Edgar Klüsener und illustriert mit exklusiven Fotos aus dem Archiv von Didi Zill und Klaus Meine, erzählt weit mehr als ‚nur‘ die Geschichte des Songs. Es nimmt den Leser mit auf eine Reise durch das Europa der Nachkriegsjahrzehnte, dessen zwei Hälften, gespalten durch den beinahe undurchdringlichen Eisernen Vorhang, sich in scheinbar unversöhnlicher Systemfeindschaft bis an die Zähne bewaffnet gegenüberstanden. Die Geschichte des Songs wird so auch zur Geschichte des Kontinents, erzählt vom Wind der Veränderung, der sich vom lauen Lüftchen zum Orkan steigerte und am Ende die bestehende Ordnung hinweg blies. Wie der Song erzählt auch das Buch von der Hoffnung, die Europa Ende der Achtziger und in den frühen Neunzigern erfüllte. Doch auch seitdem bläst der Wind der Veränderung ständig weiter, hat die Hoffnungen verweht, neue geschürt und stürmt nun durch eine Welt, die sich weiter radikal verändert. Tatsächlich, so das Fazit des Buches, ist ‚Wind Of Change‘ daher immer noch so aktuell wie in jenem Sommer des Jahres 1989, in dem Klaus Meine den Text zu dem Lied aufschrieb.

Die Scorpions, auch das macht das Buch klar, waren damals wie kaum eine andere Rockband dazu prädestiniert, einen Song wie ‚Wind of Change‘ glaubhaft zu schreiben. Ihre Karriere begann, als die Erinnerung an deutsche Massenmorde und Kriegsverbrechen in Europa noch ebenso taufrisch waren wie das Entsetzen vor dem kaltblütigen Blutdurst der selbsternannten Herrenmenschen. Wer damals als Deutscher Grenzen überqueren wollte, egal ob nach Holland, Frankreich oder Polen, musste das in Demut tun. Die Scorpions verstanden das wohl. Sie repräsentierten ein neues Deutschland, das die Schuld der Väter nicht verneinte und sich um Verständigung bemühte. Das wurde gerade auch in der Sowjetunion angenommen, dem Land das neben Polen mit Abstand am schrecklichsten unter den Naziverbrechen gelitten hatte.

Das Buch zeigt die Zusammenhänge auf und so wird es nachvollziehbar, warum ‚ausgerechnet‘ eine deutsche Hardrockband die Hymne der friedlichen Revolution geschrieben hat, die am Ende auch zum Fall jener Mauer führte, die Deutschland geteilt hatte.

Für die exzellente englische Übersetzung zeichnet Stefan Glietsch verantwortlich.

Kategorien
Aktuell Archive ENGLISH Meinung Rezensionen Uncategorized

Why you can’t win an argument with a populist

In “The 7 Steps from Democracy to Dictatorship” Ece Temelkuran exemplifies the stifling efficiency of populist reasoning with a fictitious dialogue between Greek philosopher Aristotle and a populist. The debate starts with Socrates’ famous syllogism ‘All humans are mortal. Socrates is human. Therefore, Socrates is mortal.”

The dialogue demonstrates the simple but highly successful and extremely hard to counter strategy of populist (un)reasoning. The textbook may have originally been written by Joseph Goebbels, but the likes of Boris Johnson, Nigel Farage, Steve Bannon, Victor Orbán, Erdogan, Donald Trump, Gauweiler and their fellow populist travellers have since improved upon it, making brutally effective use of social media. Some core elements of populist arguments demonstrated in Temelkuran’s dialogue below include:

  • Claiming ownership of terminology (concepts, words, meaning)
  • Representing oneself as the REAL people and thus as in opposition to the corrupt elites and the establishment.
  • Painting the opposite as a member of these elites (even if they aren’t).
  • Ignoring the subject of the conversation and instead discussing something entirely different and irrelevant.
  • Attacking the person to discredit their arguments.
  • Demanding proof for scientific facts which are proven, thus implying that any existing proof is somewhat tainted.
  • Disregarding everything that does not conform to their own view of the world as fake and lies,  proposing ‘alternative’ facts.

Aristotle: All humans are mortal.

Populist: That is a totalitarian statement.

Aristotle: Do you not think that all humans are mortal?

Populist: Are you interrogating me? Just because we are not citizens like you, but people, we are ignorant, is that it? Maybe we are, but we know about real life.

Aristotle: That is irrelevant.

Populist: Of course it’s irrelevant to you. For years, you and your kind have ruled this place, saying the people are irrelevant.

Aristotle: Please answer my question.

Populist: The real people of this country think otherwise. Our response is something that cannot be found on any elite papyrus.

Aristotle: (Silence)

Populist: Prove it. Prove to me that all humans are mortal.

Aristotle: (Nervous Smile)

Populist: See! You can’t prove it. (Confident grin, a signature trait that will be exercised constantly to annoy Aristotle). That’s all right. What we understand from democracy is that all ideas can be represented in the public space, and they are respected equally. The gods say…

Aristotle: This is not an idea, it’s a fact. And we are talking about mortal humans.

Populist: If it were left up to you, you’d kill everybody to prove that all humans are mortal, just like your predecessors did…..

Temelkuran lets the argument continue further, the eventual outcome should be clear by now, though. Aristotle finds himself utterly defeated and highly confused by the apparent irrationality of his opponent who refuses to play by the accepted rules of rational and informed debate. As yet, all of us who still believe in the validity of research, of established facts, of objectivity and rationality find ourselves in the very same place as Aristotle when confronted with populist rhetoric, internet trolls, tweeting presidents or flat-earthers.

Ece Temelkuran’s analysis of the global rise of populism, populist communication strategies and their successes in constructing alternative realities is a masterpiece. Rarely was a book as urgent and necessary as ‘The 7 Steps from Democracy to Dictatorship.’

Edgar Klüsener

Temelkuran, E. (2019). How to lose a country: the seven steps from democracy to dictatorship. London: 4th Estate.

Kategorien
Musik Rezensionen Videotipps

Kurz vorgestellt: EWIAN

EWIAN
OF THOSE WHO DROWN TO LIVE

Passende Schubladen und Schablonen lassen sich auch für das mittlerweile vierte Album OF THOSE WHO DROWN TO LIVE des Bonner Komponisten und Künstlers Ewian nicht so einfach aus dem Zylinder zaubern. In einer Zeit, die von der Diktatur der Kategorien geprägt ist, muss das nicht zwangsläufig ein Nachteil sein. Die konsequente Weigerung, sich marktkonformen Klischees und Stereotypen zu ergeben und das Beharren auf musikalischer Kreativität, selbst wenn diese sich nicht oder nur äußerst widerstrebend in gängige Formate zwingen lässt, kann für geneigte Hörer sehr reizvoll sein. Und reizvoll ist OF THOSE WHO DROWN TO LIVE sehr wohl. Die insgesamt zwölf Titel laden ein zu einer Reise durch vielfältige Klanglandschaften, hier beherrscht von mystisch-esoterischen Stimmungen und träumerischen Harmonien, dort von treibenden Rhythmen, abgehackten Gitarrenakkorden und einprägsamen Melodien. Was alles Songs eint, ist ein Anklang von Melancholie, der manchmal in Melodramatik abzugleiten droht, die Grenze aber nie ernsthaft überschreitet. Vom Titelstück ‚Drown to Live‘ bis zum finalen ‚See You in Heaven‘ wird deutlich, dass sich durch das Album eine klare Dramaturgie zieht. Die Songs beziehen sich aufeinander und entfalten ihre volle Wirkung dann, wenn sie im Zusammenhang gehört werden. Dem gesamten Werk liegt ein klares Konzept zugrunde, dem sich die Musik in all ihrer Vielfalt unterordnet. Um die Vielfalt zu beschreiben, greifen wir nun doch auf Kategorien zurück und bemühen unter anderen TripHop, Ambient, Shoegaze, klassische Kompositionen und Alternative Rock – all diese Etiketten taugen jedoch nur zu ungefähren Einordnung und weit weniger zur Beschreibung.
Das Album steht im Übrigen nicht für sich, sondern ist selbst eingebunden in ein umfassenderes Werk, das zwölf Videos – eins für jeden Song – einschließt. Album und Videos zusammen erschließen und erzählen am Ende die volle Geschichte, an der Christensen und seine Mitstreiter mehr als drei Jahre lang gearbeitet haben. Das nachfolgende Video zu ‚Interludium‘ demonstriert die enge Verbindung zwischen filmischer Erzählung und Musik.

Das Album wurde im Juni von Timezone veröffentlicht.

Kategorien
Musik Rezensionen

Living Colour

Manchester, Club Academy, 30. September 2017

Die Innenstadt von Manchester ist in eine Festung verwandelt worden. Polizeihubschrauber kreisen über dem Zentrum, Hauptverkehrsstraßen sind verbarrikadiert, überall Polizisten, nicht wenige davon mit einem Kaffee-Becher in der Hand. Den haben sie auch nötig, denn es ist erbärmlich nass. Manchester macht seinem Ruf als Regenhauptstadt der Insel mal wieder alle Ehre. Das Aufgebot gilt der Konservativen Partei von Premierministern Theresa May, die im Messezentrum für die nächsten vier Tage ihren Parteitag abhält. Der Club Academy ist nur knapp einen Kilometer entfernt vom Epizentrum des Geschehens und hier ist alles ruhig. Zumindest äußerlich. Innen hingegen zieht eine Band namens Stone Broken von einem Leder feinster Qualität. Das Quartett aus dem britischen Walsall war auf dem europäischen Festland zuletzt mit Glenn Hughes unterwegs und hat vor allem in Rotterdam einigen Eindruck hinterlassen. Dank der massiven Parteitags-Verkehrsbehinderung komme ich viel zu spät an und es bleiben mir nur die beiden letzten Songs der Band, doch selbst die reichen für einen angenehmen Nachgeschmack. Schlagzeugerin Robyn Haycock und ihre drei Jungs schöpfen aus dem unermesslichen Fundus der Rockgeschichte und werden in vielen Schubladen fündig.

Die Einflüsse reichen vom Seattle-Sound der Grungejahre über klassisch-bluesinspirierten Hammerrock der Siebziger bis hin zu sattem Heavy Metal der Machart Metallica. Weil Sänger Rich Moss zudem ein bisschen wie Chad Kroeger klingt, sind Vergleiche mit frühen Nickelback gar nicht so weit hergeholt, sollten allerdings mit einiger Vorsicht angestellt werden, denn die Unterschiede zu den Kanadiern sind gleichwohl erheblich. In Manchester kommen Stone Broken gut an, obwohl das Publikum eigentlich nur wegen Living Colour hier ist. Das wird sofort deutlich, als Doug Wimbish, Vernon Reid, Corey Glover und Will Calhoun nach kurzer Umbaupause pünktlich wie die Maurer auf die Bühne schreiten. Eine schnelle Begrüßung und schon geht’s los mit dem Robert Johnson-Cover ‚Preaching Blues‘,

bei dem Vernon Reid zum ersten Mal den Ausnahmegitarristen erahnen lässt, der er ohne Frage ist. Dann steigen die vier immer stärker aufs Gaspedal. „The Wall“ ist das nächste Stück und nahtlos geht‘s von da weiter mit dem Living Colour-Klassiker ‚Middle Man‘. Der erste richtige Höhepunkt ist allerdings die geniale Adaption des Notorious B.I.G.- Titels ‚Who Shot Ya?‘. Corey Glover leitet den Song mit einigen ebenso simplen wie erschreckenden Statistiken ein: „Alle fünf Stunden wird in den USA ein junger Afroamerikaner erschossen. Kugeln sind die häufigste Todesursache für afroamerikanische Männer in der Altersgruppe der unter 35jährigen. Zwischen 2001 und 2013 starben 406.496 Menschen an den Folgen von Schussverletzungen.“ Die Botschaft ist klar, Black lives matter, gerade in den USA, wo Polizeigewalt gegen junge Männer aus ethnischen Minderheiten endemisch ist. Die Botschaft kommt auch in Manchester an, vor allem beim afro-karibischen Teil des Publikums, für das zwar der Ge-und Missbrauch von Schusswaffen kaum eine Rolle spielt, wohl aber der institutionelle Rassismus der Polizei, der viele von ihnen beinahe automatisch zu Opfern von willkürlicher Polizeigewalt macht. Mittlerweile haben sich Living Colour endgültig auf Hochtouren gespielt und das Publikum zieht in vollem Umfang mit. Doug Wimbish setzt an zu einem furiosen Bass-Solo, das er mit trügerisch-spielerischer Leichtigkeit zu einem stilistischen Parforce-Ritt gestaltet. So ganz nebenbei demonstriert er zudem, was man so alles an atemberaubenden Klangzaubereien anstellen kann, wenn man den Bass sinnvoll mit digitaler Technologie verkuppelt.

Nun geht es Schlag auf Schlag. Auf das Bass-Solo folgt ein ebenso mächtiges wie inspiriertes Drumsolo, ebenfalls angereichert mit allerlei digitalen Zusatzsounds. Zwischendurch wurde noch eben Elvis für endgültig tot erklärt (‚Elvis Is Dead‘) und dabei der Presley-Klassiker ‚Hound Dog‘ gespielt. Die Zeit vergeht viel zu schnell, und als die Band schließlich zu ‚Cult of Personality‘ überleitet, wird klar, dass das Vergnügen, und ein solches war es von der ersten bis zur letzten Minute, bald vorbei sein wird. In der Tat, während der stürmische Beifall für ‚Cult of Personality‘ noch lautstark tobt, stellt Corey Glover die eher rhetorische Frage ‚Should I Stay Or Should I Go?‘, und dann erreicht der Hurricane, der auch als Living Colour bekannt ist, seinen unwiderstehlichen Höhepunkt. Das ist weit mehr als eine Hommage an Joe Strummer und The Clash, die Vier nehmen den Song auseinander, zerfetzen ihn in seine Einzelteile und setzen ihn virtuos neu zusammen. Sollte Joe Strummer an diesem Abend von seinem Stuhl im Rockolymp aus zugehört haben, er hätte wohl ebenso lautstark Beifall geklatscht wie das Publikum in der Club Academy, als der Song nach gut zehn Minuten endlich ausklang. Für eine Zugabe blieb danach keine Zeit mehr, und das war vielleicht auch gut so, denn noch besser hätte es wohl kaum werden können.

Die komplette Setlist mit weiteren Links zu Videos gibt’s auf Setlist.FM

Photo: By Jonathunder (Own work) [GFDL 1.2], via Wikimedia Commons

Edgar Klüsener

Die mobile Version verlassen

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen