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Folklore-Label Kalan Müzik: Hasan Saltiks musikalischer Widerstand

Ein anderer Blick über die Grenzen hinweg, diesmal in die Türkei, wo Hasan Saltik 1991 das spannende Label Kalan Müzik aus der Taufe gehoben hatte. Da hatten in der Türkei gerade mal wieder die Militärs im Namen des Kemalismus die Macht übernommen hatte. Hasan Saltik war Teil des demokratischen Widerstands gegen die Militätdiktatur und machte es sich zur Aufgabe, die Kulturen und Sprachen der unterdrückten Minderheiten in der Türkei zu dokumnetieren und ihnen eine Stimme zu geben. Daran hielt er auch fest, als die Türkei sich wieder zu einer säkulären Demokratie wandelte, die in die EU strebte. Und weiter, als Erdogan dann die Demokratie von innen heraus auszuhöhlen begann und seitdem das Land weiter in Richtung nationalistisch-islamischer Diktatur drängt, die die Türkei zur alten Größe des Osmanischen Reiches zurückführen möchte. Hasan Saltik blieb auch gegen Erdogans Regime im kulturellen Widerstand. Diese Geschichte erschien zuerst am 12. April 2004 in SPIEGEL online.

Seit kurzer Zeit öffnet sich die türkische Gesellschaft für ihre ethnischen Minderheiten. Dass die Kultur der Kurden, Syrianer oder Ladinos jetzt wieder entdeckt wird, ist auch ein Verdienst des ehemaligen Widerständlers Hasan Saltik, der sich mit seiner Plattenfirma Kalan Müzik den musikalischen Artefakten Anatoliens widmet.

Ursprünglich war Hasan Saltik einfach nur auf Protest aus, auf Widerstand mit allen klingenden und singenden Mitteln. Das war in den achtziger Jahren. In der Türkei war da gerade mal wieder das Militär an der Macht, bestrebt, das säkular-nationalistische Erbe Kemal Atatürks gegen die erstarkende islamistische Reformbewegung zu verteidigen. So zumindest damals die Lesart der Generäle. Dass die Junta bei der Gelegenheit auch gleich noch beinahe ungehemmt gegen rebellische Kurden, linke Intellektuelle, aufbegehrende Arbeiter und unbotmäßige Künstler vorgehen konnte, war ein zwar nicht explizit geplanter, aber den Generälen durchaus willkommener Nebenaspekt der Diktatur.

Hasan Saltik war einer der Unbotmäßigen. Er leistete Widerstand auf seine Art und veröffentlichte linke Protestmusik. Zunächst ausschließlich türkische, dann auch kurdische und armenische. Die Veröffentlichungen seines Istanbuler Underground-Labels waren schon bald nicht nur landesweit quer durch alle Bevölkerungsschichten gefragte Äußerungen des musikalischen Widerstandes, sie begründeten auch eine Firma, die mittlerweile weltweit Kultstatus hat: Kalan Müzik.

Kalan Album: The Colours of Anatolia

Hasan Saltik erinnert sich beinahe wehmütig zurück an diese Tage:

„Wir waren immer sehr schnell. Die Zeitspanne, die die Behörden benötigten, um eine Platte zu verbieten, reichte in den meisten Fällen, um die komplette Auflage zu verkaufen, bevor die Verfügung bei uns ankam. Die Leute wussten von der bevorstehenden Veröffentlichung, warteten oft schon seit Wochen gespannt darauf, und wenn sie dann kam, stürmten sie die Läden.“

Resultat: Auflage verkauft, Hasan zufrieden. Platte rechtskräftig verboten und Weitervertrieb unterbunden, Militär zufrieden. Ärgerlich war das Spielchen natürlich trotzdem für Saltik, der in manchen Monaten mehr Tage vor Gericht als in seinem Büro verbringen musste.

Als das Militär schließlich in die Kasernen zurückkehrte und die Türkei sich erneut zu einer Demokratie wandeln ließ, gründete Saltik 1991 als Nachfolgerin des Underground-Labels die Plattenfirma Kalan Müzik und erweiterte seine Produktpalette. Schon zu Zeiten der Junta hatte er neben linker türkischer Protestmusik auch Platten in kurdischer Sprache herausgebracht – ein klarer Verstoß gegen das Jahrzehnte lang gesetzlich verankerte Grundprinzip des türkischen Nationalstaates, das die Existenz von nicht-türkischen Minderheiten in Anatolien schlicht leugnete, und deshalb auch deren Sprachen und Kulturen nicht anerkannte. Minderheiten, die sich erdreisteten auf ihrer eigenen Sprache und Kultur zu bestehen, wurden im besten Falle ignoriert, in gravierenden Fällen – wie dem der Kurden – aber auch mit allen Mitteln verfolgt.

Hasan Saltik konzentrierte sich nun zunehmend auf die Musik dieser Minderheiten – und fand sich damit prompt erneut in Opposition zum mittlerweile wieder demokratischen türkischen Staat wieder, der nur sehr zögerlich bereit war – und es immer noch ist – seine ethnischen Minderheiten als eben solche zu akzeptieren.

Auf der Suche nach den fast schon verlorenen musikalischen und kulturellen Schätzen Anatoliens leisten Saltik und seine Mitarbeiter seitdem dennoch Erstaunliches.

Wer wie Hasan Saltik weniger an Scherben und Ruinen als vielmehr an lebendiger Überlieferung verschollener Kulturen interessiert ist, muss mühselig kreuz und quer durchs Land ziehen und in die hintersten Bergdörfer einfallen. Kulturelle Archäologie könnte man das nennen, und in der Tat beobachten Universitäten in mehreren europäischen Ländern und in der Türkei sehr gespannt, was das Kalan-Label so alles zu Tage fördert. Fündig wird Saltik immer wieder, obwohl es den Minderheiten in der Türkei über Jahrzehnte hinweg nicht nur verboten war, ihre Sprache zu sprechen, sondern auch Aufzeichnungen ihrer eigenen Sprache oder Musik zu besitzen.

Die Fundstücke werden aufwändig verpackt und dann auf einen Markt geschickt, der längst weltumspannend ist. Zu CDs wie dem Doppelalbum „Süryaniler“ liefert Kalan bis zu hundertfünfzig Seiten umfassende Büchlein mit. „Süryaniler“ ist eine Sammlung von religiösen und folkloristischen Liedern der Syrianer, die auch heute noch in der an Irak und Syrien angrenzenden Bergregion der Türkei leben und dort immer wieder unter der Verfolgung durch ihre kurdischen Nachbarn leiden müssen. In mehreren Sprachen informiert das Booklet über die Geschichte der Syrianer oder Syrischen Christen – die Syrische ist eine der ältesten christlichen Kirchen -, ihre Kultur und ihre Lieder. Akribisch analysiert der Text Einflüsse in die Musik und geht dabei weit in der Zeit zurück.

Akribisch baut das Kalan-Label sein musikhistorisches Archiv weiter und weiter aus. Manches Liedgut schien schon unrettbar verloren, wie die Musik der Ladinos, der sephardischen Juden, die 1492 aus Spanien vertrieben worden waren und im Osmanischen Reich eine neue Heimat gefunden hatten. Ihre Sprache ist ein seltsam antiquiert klingendes Spanisch, wie es um die Zeit von Cervantes auf der iberischen Halbinsel gesprochen wurde, ihre Musik eine an- und aufrührende Melange aus klassischer iberischer Folklore, arabischen, türkischen und griechischen Elementen und einer Traurigkeit, die an den Fado Portugals erinnert. Auch „Yahudice“, das Ladino-Album, kommt mit dem Kalan-typischen sorgsam zusammengestellten Begleitbuch.

Mittlerweile wandelt sich das politische Klima in der Türkei erneut. Das Land nimmt Abschied vom rigorosen Nationalismus der Vergangenheit und wendet sich mit neu erwachtem Interesse der lange unterdrückten Vielfalt innerhalb der eigenen Grenzen zu. Das ist nicht zuletzt ein Verdienst von Kalan Müzik. Saltik:

„In den letzten Jahren unterstützen uns nicht nur die türkischen Massenmedien, auch Politiker und Angehörige der etablierten Gesellschaft orientieren sich neu und entdecken Anatoliens Geschichte und seine Kulturen wieder.“

In dem Maße, in dem die türkische Gesellschaft sich öffnete, wandelte sich auch der Anspruch der Plattenfirma an sich selbst. Aus der linken Untergrundklitsche wurde das etablierte Plattenlabel, das mit schöner Regelmäßigkeit musikhistorische Kleinodien ausbuddelt und zum Bewahrer der anatolischen Kulturen geworden ist. Dass diese sich nun selbst wieder entdecken, erfüllt Saltik mit besonderer Freude:

„Die ethnischen Kulturen Anatoliens mögen lange Zeit unterdrückt gewesen oder gar vom Aussterben bedroht gewesen sein, doch nun sind sie wieder sehr lebendig. Es sind vor allem junge Menschen, die neugierig auf die eigenen Wurzeln geworden sind und von sich aus die eigene Geschichte und Kultur weiter erforschen.“

So wie Kardes Türküler, eine Gruppe hoch begabter junger Musiker, die die verschiedenen Volksmusiken Anatoliens neu entdeckt und auf ihre Weise arrangiert und interpretiert. Ihnen kommt es vornehmlich darauf an, die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, zu zeigen, dass die verschiedenen Kulturen sehr viel mehr miteinander verbindet als nur der gemeinsame Lebensraum. Eher nebenbei ist die Gruppe dabei zu einem der großen Kassenmagneten Kalans geworden. Auch im Ausland.

 

Überhaupt finden die Produktionen aus dem Hause Kalan längst auch grenzüberschreitend Beachtung. Was Saltik zwar freut, ihn aber auch gelegentlich verärgert. Insbesondere immer dann, wenn seine Produktionen von westlichen Kritikern oder Händlern der Sparte „World Music“ zugeschlagen werden. Der Terminus sei Ausdruck herablassender angelsächsischer Arroganz, schimpft er dann, und bezeuge einen latenten Rassismus, der die anglo-amerikanische Popkultur gegen den Rest der Welt stelle und geflissentlich ignoriere, dass der Rest der Welt schon Kultur gehabt habe, als in Nordeuropa noch die Erdhöhle als Eigenheim diente.

Dabei outet sich Saltik bei Gelegenheit gern als waschechter Rockfan, der seit frühester Jugend auf Led Zeppelin und Pink Floyd steht. Dass Kalan Müzik trotzdem keine anatolischen Rockgruppen im aktuellen Programm hat, hat daher auch weniger mit seinen musikalischen Vorlieben als vielmehr mit seiner Einschätzung zeitgemäßer türkischer Rockmusik zu tun: „Ich habe einige Male versucht, türkische Rockgruppen zu fördern. Doch türkische Musiker sind einfach noch nicht so weit. Die überwiegende Mehrheit kopiert einfach blind englische oder amerikanische Gruppen, es fehlt die Eigenständigkeit.“

Zufrieden ist Hasan Saltik mit dem Erreichten noch lange nicht. „Die kulturelle und geschichtliche Vielfalt und Bedeutung Anatoliens ist immens, aber in Europa und Amerika kaum bekannt. Wir wollen dem Rest der Welt ein wenig davon vermitteln, was Anatolien und den Mittleren Osten kulturell ausmacht.“ Das klingt, als sei von Kalan Müzik noch viel zu erwarten.

Hasan Saltik starb am 2. Juni 2021. Mit ihm hat die Türkei einen herausragenden Kurator ihrer viefältigen – und oft unterdrückten – linguistischen, religiösen, ethnischen und kulturellen Traditionen verloren. Das Label Kalan Müzik setzt die Arbeit in seinem Sinn weiter fort.

Eine Kalan- Veröffentlichung aus dem Jahre 2020:

 

C 2004/2022 Edgar Klüsener, Erstveröffentlichung in SPIEGEL Online, 12.04.2004

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Rockmusik in Israel: Auf der Suche nach einer neuen Identität

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hatte ich den Journalismus für einige Jahre beinahe völlig  an den Nagel gehängt und stattdessen an der University of Manchester ein BA(Hons)-Studium in Contemporary Middle Eastern Studies begonnen. Beim BA sollte es nicht bleiben, es folgte der MA und schließlich der PhD. Das Interesse an populärer Musik hatte ich natürlich nicht verloren (was eh unmöglich ist, wenn man in einer Stadt wie Manchester lebt), aber das Studium schärfte den Blick für popkulturelle Entwicklungen in Regionen am Rande oder außerhalb der Grenzen westlicher kultureller, ökonomischer und kultureller Dominanz. Genauer angeschaut hatte ich mir damals Entwicklungen in Iran, der Türkei und Israel. Die erste Zeitgeschichte hat Rockmusik in Israel zum Thema. 

Maor Appelbaum ist der Sänger, Hauptkomponist und Bassist einer Rockband. Die Band heißt Sleepless, und sie ist aus Israel. Das erkläre einiges, meint Maor Appelbaum, vor allem die Intensität und Aggressivität von Sleepless. Denn Israel sei ein schnelles Land, ein Land, in dem musikalische Stile und Trends sich in rasantem Tempo verändern. Ein Land unter Druck, in dem keine Zeit sei für Beschaulichkeit und für Langeweile. In dem Interview mit einem amerikanischen Fanzine führt er weiter aus:

„Leben in Israel ist ein Leben im Hier und Jetzt, wir können nichts auf morgen verschieben. Dieses Land ist großartig für aggressive Musik, weil es unter ständigem Druck ist, umgeben von Feinden. Und manchmal sind wir selbst unsere größten Feinde.“

 

Maor Appelbaum

Rockmusik ist seit den späten Sechzigern die dominante Musikform Israels. International erfolgreicher mag schräger Pop á la Dana International sein, oder auch israelischer Goa Trance, aber Rock, und seit kurzem HipHop, sind die Musikformen, die den israelischen Alltag prägen. Was überrascht und die zionistischen Väter des Staates wahrscheinlich in ihren Gräbern rotieren lässt. Denn die hatten eine andere Musikkultur im Sinne gehabt, eine, die nicht an englischen und amerikanischen Klängen ausgerichtet, sondern ganz eindeutig und unverkennbar jüdisch, zionistisch, israelisch sein sollte. Das Problem, dass die Gründungsväter hatten, war ein Identitätsproblem. Die Bevölkerung des künftigen Staates Israel war schon vor der Staatsgründung extrem heterogen. Die Sephardim, europäische Juden, hatten mit den Ashkenazim, den ‚orientalischen‘ Juden, die aus dem Iran, aus Marokko, Tunesien und anderen Gegenden des Nahen und Mittleren Ostens nach Palästina strömten, nur wenige historische, kulturelle und sprachliche Gemeinsamkeiten. Eine umfassende kulturelle, nationale und politische Identität musste buchstäblich erfunden werden.

Rockmusik eingemeindet

Die Zionisten versuchten genau das. Sie propagierten Hebräisch als die offizielle Landessprache, und sie machten sich daran, eine Folklore-Tradition zu begründen, die unter dem Namen „Lieder des Landes Israel“ (Shirey Eretz Yisrael) bekannt werden sollte. Das Ziel war es, die Fragmente unterschiedlichster Kulturen durch eine israelische Kultur zu ersetzen, die durch eine gemeinsame Sprache, Literatur und Volksmusik definiert werden konnte. Seinen Höhepunkt erlebte dieses Unterfangen in den Dreißigern und Vierzigern des vorigen Jahrhunderts, den entscheidenden beiden Jahrzehnten vor der Staatsgründung. Die Ideologie der ‚Nation im Werden‘ schuf den Mythos einer Pionier-Jugend, die das Land der Vorväter zurückforderte. Viele der Lieder beschrieben daher in romantischer Verklärung die neuen, geheimnisvollen und mythischen Landschaften, in denen die Neueinwanderer nun lebten.

Hand in Hand mit der Schaffung einer neuen, israelischen Identität ging die bewusste Ablehnung westlicher Kultur als fremdartig und potenziell feindlich. Als dann in den späten Fünfzigern des vergangenen Jahrhunderts der Rock’n’Roll aus Amerika nach Israel überschwappte, standen die Zionisten vor einem erheblichen Problem. Rock’n’Roll war westlich, amerikanisch, global und extrem populär auch unter Israels Jugend – das genaue Gegenteil also von der eingeborenen Kultur, der israelischen Identität, die die Gründungsväter zu etablieren hofften. Das Dilemma wurde gelöst, indem Rock’n’Roll schlicht eingemeindet wurde. Rock mit hebräischen Texten musste es sein, mit Inhalten, die Bezug hatten zur israelischen, jüdischen, zionistischen Realität des Landes. Der Ansatz ist auch von anderen Ländern her bekannt, die um ihre kulturelle Identität bangten. Frankreich kämpft noch immer gegen die Windmühlen anglo-amerikanischen Popimperialismus und quotiert seine Radioprogramme entsprechend. In Israel war die Sache auch deshalb brisant, weil die ersten, die zum Rock’n’Roll konvertierten, Kids vom Rande der Gesellschaft waren, Jugendliche aus den Siedlungen und Vorstädten der Mizrahim, die sich in der von den europäischen Juden dominierten Gesellschaft zurückgesetzt fühlten. Aus ihrer Mitte kamen Bands wie Ha-shmeni ve-haraz-im oder The Goldfingers, zu deren Konzerten beachtlichen Zuschauermengen, oft zwei- oder dreitausend Fans, strömten. Diese Beatgruppen folgten weitgehend den englischen und amerikanischen Vorbildern und sangen auch in englischer Sprache. Die Etablierung von Randkulturen im neuen Staate Israel war genau das, was die zionistischen Gründungsväter möglichst vermeiden wollten. Die Folge war eine ausgedehnte Kampagne gegen die als vulgär und zwielichtig bezeichneten Elemente, deren Bindung zum nationalen Kollektiv in Frage gestellt wurde.


Israelischer Neonazi-Rock

Anders sah die Sache ein wenig später aus, als israelische Musiker begannen, Rockmusik mit hebräischen Texten zu schreiben. Musiker wie Arik Einstein, Shmulik Kraus, Shalom Hanoch oder die Band Kaveret israelisierten Rock in den Siebzigern und verankerten ihn im Mainstream des israelischen Musiklebens, aus dem er seitdem nicht mehr wegzudenken ist. Aber auch heute noch existieren verschiedene Rockkulturen mehr zwie- als einträchtig nebeneinander. Vor allem die russischen Einwanderer haben sich eine ganz eigene Rockkultur geschaffen, die eher an russischen Heavy Metal-Bands orientiert ist und sich deutlich vom Mainstream abgrenzt. Russische Einwanderer sind es auch, die Israel das nur vordergründige Paradoxon einer antisemitischen Neonazi-Rockszene beschert haben, ein Phänomen, das mittlerweile auch die Knesset (das israelische Parlament) beschäftigt hat. Seit 1975 hat Israel weit über eine Million Einwanderer aus den Staaten der früheren Sowjetunion aufgenommen, die meisten davon Juden. Doch unter ihnen eben auch 200 – 300.000 ökonomische Migranten, so die Schätzungen des Innenministeriums, die sich lediglich als Juden ausgegeben haben, und von denen eine Minderheit, obwohl Bürger Israels, antisemitisches Gedankengut offen äußert. Die musikalischen Vorbilder für die israeli-russischen Neonazis sind vor allem russische Rechtsaußen-Bands wie die dem neofaschistischen Politiker Schirinowski nahe stehenden Metal Korrosija, aber auch britische Blood & Honor-Kapellen wie Skrewdriver und neuerdings deutsche Nazikapellen.


Auf dem Weg zur Nahost-Normalität – Orphaned Land

By © Markus Felix (talk to me) – Own work, CC BY-SA 3.0, 

„Israel ist ein Land der Extreme“, sagt Kobi Farhi. Kobi ist Sänger einer Band namens Orphaned Land. Orphaned Land ist eine sehr bekannte Rockgruppe in Israel und allmählich auch in Europa, vor allem in Deutschland.

„Israel ist ein Schmelztopf der Kulturen. Diese unterschiedlichsten Kulturen, die den Staat Israel bilden, hatten in der Vergangenheit oft kaum etwas gemein. Keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Kultur. Eine echte multikulturelle Gesellschaft, so extrem wie vielleicht nirgendwo sonst in der Welt. Diese Vielseitigkeit ist spannend und kann sehr fruchtbar sein, wenn man sich ihr öffnet.“

Seine Band versucht diese Öffnung, will bewusst raus aus den Randgruppen-Nischen ebenso wie aus der Mainstream-Zwangsjacke. Sie bezieht nahöstliche Elemente in ihre Musik ein, singt in Arabisch, Hebräisch, Latein oder Englisch, mischt griechische Musik mit europäischem Heavy Metal, arabischen Melodien oder westlicher Klassik. Orphaned Land ist musikalisch ziemlich einzigartig. Außerdem überschreitet die Gruppe Grenzen, die gerade in diesen Tagen eigentlich unüberwindbar scheinen. Und das gelingt zu einem erstaunlichen Grad. Orphaned Land dürfte die einzige israelische Rockband sein, die auch eine breite Fanbasis in den arabischen Ländern hat. Zu einem Konzert, das die Band in der Türkei gab und das für das israelische Fernsehen dokumentiert wurde, kamen nicht nur Fans aus der Türkei selbst, sondern auch aus den arabischen Ländern, vor allem aus Syrien.

Überraschend? Nicht wirklich, findet Kobi. Denn Orphaned Land sei mehr als nur eine israelische Rockband. Orphaned Land, erläutert er, „…reflektiert eine übergeordnete kulturelle Identität, eine Nahost-Identität, in der sich arabische Jugendliche ebenso wiedererkennen wie junge Israelis. Der Nahe Osten ist, seit jeher ein gewaltiger Schmelztigel und Israel das Heilige Land für die drei großen monotheistischen Weltreligionen. Die Band selbst zeigt den Facettenreichtum Israels, der Region. Unsere Musiker stammen aus dem Irak, aus dem Jemen, aus Kenya…“.

Orphaned Land propagiert eine übergreifende moderne Nahost-Rock-Kultur, die Israels mühsam entstandenen kulturellen Identitäten ebenso reflektiert wie die der arabischen Nachbarn von Syrien bis Ägypten. Augenfällig wurde der besondere Stellenwert der Band im Nahen Osten während der jüngsten Auseinandersetzung zwischen Hisbollah und Israel, als sich aus den bombardierten Städten Libanons junge Orphaned Land-Fans im Bandforum meldeten und sich mit israelischen, türkischen und westlichen Besuchern über den Wahnsinn dieses Konflikts austauschten.

Inzwischen ist die Band Vorreiter geworden in einer vorerst noch zaghaften inner-israelischen Debatte um den eigenen Standort in einer Region, die endgültig auch zur kulturellen Heimat wird.

© 2006 / 2022 Edgar Klüsener/MuzikQuest
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Frieden ist mehr als nur ein Wort: Music Against War

Kann Musik die Welt retten? Kann ein simples Lied den Unterschied machen zwischen Krieg und Frieden? Welche Rolle kann Musik spielen in einem Europa, das nach historisch beinahe beispiellosen 77 Friedensjahren plötzlich entsetzt feststellen muss, dass die Bestie Krieg auch in seinen Grenzen jederzeit wieder die blutigen Fänge zeigen kann. Noch ist er auf die vom britischen Historiker Timothy Snyder so treffend benannten ‚Bloodlands‘ konzentriert, die blutgetränkten Felder und Städte der Ukraine, die im vergangenen Jahrhundert bereits zweimal von deutschen und russischen Heeren gebrandschatzt, verwüstet und ausgeblutet worden sind. Doch wie jeder Krieg, hat auch dieser seine eigenen Gesetze, und wie noch jeder europäische Krieg der Vergangenheit, wird dieser ebenfalls das Antlitz des Kontinents dauerhaft verändern. Entziehen können wird sich ihm und seinen Folgen auf Dauer niemand. Hier nicht, in unseren Nachbarländern nicht, nirgendwo in Europa und darüber hinaus.

Was also kann Musik hier ausrichten? Kann sie die Herzen und Seelen ansprechen, in einer Welt am Rande eines weiteren Abgrundes? Kann sie die Geschicke der Menschen ändern oder zumindest erleichtern?

Ein klares Nein zu alledem“, wird der Zyniker nun mit sardonischem Lächeln antworten, „was für eine lächerliche und naive Vorstellung.“ Der selbsternannte Realist wird mit ernster Miene beipflichtend nicken.

Obwohl Musik die oft bewiesene Macht besitzt, Gefühle wie Trauer, Freunde, Lust oder Wut zu wecken und zu verstärken, kann ein einfacher Song wohl tatsächlich keinen Schutz bieten gegen kaltherzigen Massenmord, gegen Raketen, Panzer und Bomben, noch kann er etwas ausrichten gegen das blinde Wüten machthungriger Diktatoren und deren Lust auf Zerstörung.

Dennoch kann Musik, so ist nun einmal die Natur des Menschen, eine Rolle spielen, vor allem in Zeiten von bitteren Konflikten, in den Alptraum-Szenarien, die bestimmt sind von tödlichen Feindschaften, ungleicher Machtverteilung, ideologischer Raserei und scheinbar unüberwindbaren Gräben zwischen Menschen und Nationen.

Am Ende war es ein Lied, dass Soldaten des Zweiten Weltkriegs über alle Schlachtfelder, Frontlinien und Schützengräben hinweg anrührte, das sie ansprach und das sie zu lieben lernten. Die bitter-süße Ballade „Lili Marleen’ über einen Soldaten, der fernab der Heimat von seiner Liebsten träumt, wie sie einst unter der Laterne vor der Kaserne auf ihn wartete, wurde zuerst vom deutschen Soldatensender Belgrad ausgestrahlt und avancierte bald zum weltkriegsweiten Hit über alle Sprach- und sonstigen Grenzen hinweg. Die Atmosphäre des Songs, das grundlegende Sentiment sprach die Soldaten unmittelbar an. Es brachte eine Saite tief in ihrem Inneren zum Klingen, berührte ihre Menschlichkeit und schlug so Brücken zwischen Männern, und es waren fast ausschließlich Männer, die einander feindlich gegenüberstanden, gefangen im blutigen Alptraum mechanisierter und industrialisierter Massenschlächterei des Weltkrieges.

Dieser Krieg sollte der letzte gewesen sein auf europäischem Boden, darin waren sich die Nationen und ihre Führer nach 1945 weitestgehend einig. 77 Jahre hielt dieser, in Zeiten des Kalten Krieges oft brüchige, Konsensus. Doch nun wütet wieder ein bewaffneter Konflikt im Herzen Europas, der die Geister der grausigen Vergangenheit erneut heraufbeschwört. Lange hatten sich Europäer komfortabel in einem Zustand eingerichtet, der vielen wie ein ewig währender, unerschütterlicher Frieden erschien. Doch dieser Frieden war nie mehr als eine Illusion, eine traumgleiche Wirklichkeit, die in dieser Form nirgendwo sonst in einer Welt geteilt wurde, in der Blutvergießen und bewaffnete Konflikte nach wie vor zum Alltag gehörten und gehören. Viel zu schnell haben Europäer zudem vergessen, dass vor zweieinhalb Jahrzehnten auch auf dem Balkan ein zwar kurzer, trotzdem sehr blutiger Krieg getobt hatte. Ebenso wie schnell wieder vergessen wurde, wie selbstverständlich – und beinahe unwidersprochen – Russland der Ukraine 2014 die Krim entrissen hatte.

Mitten im Frieden haben wir uns zu sehr an die Geschichten und Bilder von Gewalt, Verwüstungen und unermesslichem menschlichen Leid gewöhnt, die uns per TV, Internet und Sozialen Medien frei Haus auf die großen und kleinen Bildschirme geliefert wurden und die mit einer kurzen Fingerbewegung weggewischt werden können. Wir haben die Bilder und Nachrichten aus Afghanistan, dem Jemen, Syrien oder Libyen zur Kenntnis genommen, irgendwie, aber dann beinahe sofort wieder vergessen. Der blutige Konflikt in der Ukraine hat unsere Wahrnehmung verändert. Er findet unangenehm nahe statt, quasi direkt vor unserer Haustür. Das unerträgliche Leid, dass wir nun täglich sehen, ist nicht mehr das irgendwelcher Menschen irgendwo anders auf dem Planeten, sondern das unserer europäischen Nachbarn. Für viele ist der Krieg in der eigenen Familie angekommen. Wir sind direkt betroffen, auch weil die Lebensmittelpreise steigen, der Benzinpreis und die Heizkosten. Vor allem aber, weil wir mit hineingezogen werden in diesen Konflikt, jeden Tag ein Stückchen weiter. Dennoch, wie lange wird es dauern, bis wir selbst von diesen Bildern genug haben und uns einmal mehr in den Zustand angenehmer Betäubung zurückziehen werden? Soll die Welt doch machen, was sie will, was geht mich das an?

Musik kann Brücken schlagen. Lili Marleen ist ein Beispiel dafür. Das außerordentliche Werk der israelischen Band Orphaned Land mag als ein anderes dienen. Die Gruppe ist unter israelischen und palästinensischen Jugendlichen gleichermaßen populär und versucht ganz bewusst mit ihrer Musik, aber auch in Wort und Tat, die Gegensätze zwischen beiden zu überwinden und wirbt für Verständnis und Anerkennung.

 

Musik kann machtvolle Verbindungen zwischen Menschen aller Rassen, Religionen, Nationen und Überzeugungen knüpfen. Sie kann Träume erschaffen und für sie werben, sie kann Gefühle wecken und Hoffnung wie Verzweiflung eine Stimme geben. Das Bedürfnis nach Frieden und Freiheit, nach grundsätzlicher Menschenwürde, ist es, was uns über alle kulturelle, religiöse, ethnische oder linguistische Barrieren hinweg miteinander verbindet.

Hier kommt Music Against War ins Spiel, eine globale Initiative, die darauf abzielt, so viele Menschen in so vielen Sprachen wie möglich zu erreichen, um so Gräben zuzuschütten und die Einheit in Träumen und Wünschen zu fördern.

Freedom“ ist der Titel des Liedes, das der italienische lyrische Tenor Allessandro Rinella auf Englisch aufgenommen hat, und er wird bei dieser Aufnahme von Sängern aus allen Teilen der Welt begleitet, die in ihrer jeweiligen Muttersprache singen, auf Griechisch, Arabisch, Hebräisch, Russisch, Ukrainisch, Deutsch und viele andere. Die Botschaft ist klar: Lasst uns Einheit, Frieden und Freiheit in einem kraftvollen Statement feiern, welches das Chaos in Frage stellt, in das die Welt hinabgleitet.

 

Titlebild: Photo by Darius Soodmand on Unsplash

 

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Es gab schon bessere Zeiten

Jonathan Golds Tagebuch, 11. Mai 2018

Jetzt also Iran. Der größte Trump-Tropf aller Zeiten knüpft sich die kleine Mittelmacht Iran vor, bricht existierende Verträge und droht dem Land offen mit Krieg. So ganz nebenbei lässt er Europa ziemlich alt und verloren aussehen. Deutschland, Frankreich und Großbritannien werden zu Randfiguren degradiert, die auf der Weltbühne gefälligst das Maul zu halten haben. Der neuernannte US-Botschafter in Berlin steht für den Umgang mit den europäischen Zwergen in der Ära Trump: Kasernenhofton ist die Musik der Stunde. Wenn Deutschland, Frankreich oder sonstwer in Europa in Zukunft überhaupt noch eine Chance auf ‚Mitreden‘ haben wollen, so viel ist nun klar geworden, dann geht das nur noch in einem EU-Verbund, der wesentlich geschlossener und entschiedener als bisher agiert und in dem die Mitgliedsstaaten die  nationalen Eitelkeiten an der Garderobe abgeben. Dazu gehört auch, dass nicht mehr grundsätzlich alle Schuld für nationales Politker-Versagen der EU-Bürokratie in die Schuhe geschoben wird. Doch zurück zu Trump und Iran. Wenn der POTUS überhaupt noch trumpfen will, dann braucht er den Krieg, und zwar dringend. Herr Sonderermittler Müller zieht die Schlinge um seinen Hals nämlich immer weiter zu, und Frau Stormy bringt ihn noch zusätzlich in die Bredouille. Je klarer wird, dass die Verbindungen zwischen Moskau und Trump wesentlich intimer waren als er jemals zugeben wird, desto schwieriger wird der Kampf ums politische Überleben. Nur ein Krieg kann jetzt noch den faltigen Hals retten, am Besten einer, der das Volk dazu bringt, sich hinter den POTUS zu scharen und alle anderen Stimmen zumindest vorübergehend zum Schweigen verdonnert.

Donald Trump (photo: Gage Skidmore)

Mit Iran haben die USA sowieso noch die eine oder andere Rechnung offen. Obwohl, eigentlich wird eher umgekehrt ein Schuh draus. Iran nämlich hat den Westen per se und die USA im Besonderen bisher hauptsächlich als Übeltäter erlebt. Beispiele gefällig? Vergessen wir mal die Tabak-Konzessionen, die den deutsch-britischen Baron Reuter stinkreich und den Aufstieg des Reuterschen Nachrichtenbüros zum globalen Marktführer überhaupt erst möglich gemacht haben. Vergessen wir auch , dass die Briten die gesamte erste Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts ein Monopol auf persisches Erdöl hatten und nicht im Traum daran dachten, das Land und seine Bevölkerung in irgendwelchem nennenswerten Umfang daran zu beteiligen. Vergessen wir ebenfalls, dass Briten und Russen das Land im Zweiten Weltkrieg genau zur Hälfte zwischen sich aufteilten, obwohl Iran überhaupt kein Kriegsteilnehmer war. Was wir aber nicht vergessen sollten, und hier nehmen die Konflikte der Gegenwart ihren eigentlichen Anfang, dass die USA (und mit ihnen die Briten) 1953 in einem von der CIA initiierten Putsch die demokratisch gewählte Regierung Irans stürzten und das Terrorregime des Schahs installierten. Der Schah regierte danach mit grausamer  Härte, gestützt auf seine allgegenwärtige und wegen ihrer brutalen Foltermethoden gefürchtete Geheimpolizei SAVAK. Aufgebaut und trainiert wurde SAVAK übrigens auch von Spezialisten des israelischen Mossad (Kaveh Moraj, S. 75-76). Letzteres erklärt zu einem kleinen Teil die tiefe Antipathie der Islamischen Republik Iran gegen den einstigen engen Verbündeten Israel.

Kein Wunder, dass die USA und der Westen im Iran nicht gerade als Freunde angesehen wurden. Das letzte bisschen Vertrauen in der iranischen Bevölkerung verloren die USA, als sie nach der islamischen Revolution von 1978/79 den irakischen Diktator Saddam Hussein darin bestärkten, einen Angriffskrieg gegen Iran zu führen, der als einer der blutigsten und langwierigsten Konflikte seit dem Zweiten Weltkrieg in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Das Ziel war klar: Mit Hilfe Saddams sollte die Revolution rückgängig und Iran in den ‚Schoß des Westens‘ zurückgebracht werden. Zugleich wollten sich die USA so für die völkerrechtswidrige Geiselnahme amerikanischen Botschaftspersonal durch revolutionäre Studenten in Teheran rächen. Der Krieg kostete weit über 1 Million Menschen, darunter 300.000 Iraner, das Leben, gewinnen konnte Irak ihn trotz massiver Unterstützung durch die USA  nicht.

Seitdem herrscht offene Feindschaft zwischen den beiden Ländern, die auf iranischer Seite von abgrundtiefem Misstrauen gegen die USA geprägt ist. Dieses Misstrauen ist es auch, dass die konservativen Mullahs trotz ihrer repressiv-autoritären Herrschaft an der Macht hält. Trumps jüngste Attacke spielt ihnen daher sehr in die Hände und hilft ihnen, jegliche progressive Opposition im Lande im Zaum zu halten.

Was uns zum Atomkonflikt bringt. Iran hat 1970 den Nuclear Non-Proliferation Treaty unterzeichnet. Mit der Unterzeichnung verpflichtete sich das Land, auf die Entwicklung eigener Atomwaffen zu verzichten. Der Vertrag erlaubt aber auch ausdrücklich den Aufbau einer eigenen Atomindustrie und die Anreicherung von Plutonium zu zivilen Zwecken (Energieerzeugung). Die Islamische Republik hat als Rechtsnachfolger des Kaiserreichs die Verpflichtungen aus dem Vertrag übernommen und sich nach Anschauung der Internationalen Atomenergie-Kommission auch daran gehalten.

Das stört und kümmert allerdings weder Trump noch seine engsten Verbündeten in der Region, Saudi Arabien und Israel. Stattdessen wird Iran zum Pariah-Staat deklariert, der Al- Qaida und ISIS unterstützt. Letzeres eine der aberwitzigsten Behauptungen überhaupt. Beide Terrororganisation wurden und (werden noch) von Saudi Arabien, dem Erzfeind Irans in der Region, unterstützt. Beide sind Sunni-Organisationen, die die Schiiten, und damit auch den schiitischen Iran, als Todfeinde betrachten und sie gnadenlos bekämpfen. Im Irak, auch das sollte Trump bekannt sein, hat der Iran die USA sogar massiv bei der Bekämpfung von Al-Qaida unterstützt.

Aber darum geht’s auch gar nicht. Sowenig, wie es um das iranische Atomprogramm geht. Es geht um alte Rechnungen, die zwischen Iran und den USA offen sind. Es geht um die Vorherrschaft in der Golfregion, in der ein starkes Iran den USA Konkurrenz machen könnte. Und es geht, am Ende, um die Wiederherstellung der globalen amerikanischen Monopol-Machtstellung. Und dazu gehört auch die Ausschaltung Europas als potenzieller Machtfaktor und die direkte Konfrontation mit China und Russland. Klar ist aber vor allem: Trump spielt mit dem Feuer. Am Ende könnte es uns alle verbrennen.

Titelphoto: Google Maps

 

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Es gab schon bessere Zeiten….

Ein kleines Tagebuch, geführt von Jonathan Gold

Wenn Chinesen einem Pest, Tod und Teufel an den Hals wünschen, dann sagen sie manchmal freundlich lächelnd: „Mögest du in interessanten Zeiten leben.“ Wir leben in interessanten Zeiten. In höchst interessanten Zeiten sogar, in denen sich die Welt mit rasender Geschwindigkeit verändert. Zum Guten, zum Bösen? Schwer zu beurteilen für diejenigen, die sich an den Türgriffen eines Schnellzuges festklammern, der außer Kontrolle geraten scheint und mit Höchstgeschwindigkeit auf einen Tunnel zurast, dessen Eingang einfach nur schwarz ist. Ob an seinem Ende ein Licht scheint, weiß wahrscheinlich selbst der Zugführer nicht. Und der hat immerhin die beste Sicht. Grund genug, endlich ein Tagebuch zu starten, das stichwortartig die kleinen und großen Begebenheiten eines immer verwirrenderen Alltags dokumentiert. Vielleicht zeichnet sich irgendwann ja doch eine klare Linie in all dem Chaos ab, das landläufig Gegenwart genannt wird.

Freitag, 13. April 2018

Der Golfstrom wird immer schwächer, melden die Tagesmedien. Schon jetzt ist er so schwach wie seit 1.600 Jahren nicht mehr. Schuld ist natürlich der Klimawandel. Abschmelzendes arktisches und grönländisches Eis verändern den Salzgehalt des Meerwassers, das wiederum beeinflusst den Wärmeaustausch zwischen Tropen und Nordhalbkugel, für den der Golfstrom als Vehikel dient. Die voraussehbaren Folgen für Nordeuropa, Großbritannien eingeschlossen: Es wird kälter, vor allem in den Wintern. Und nasser, vor allem in den Sommern. Die nicht genau vorhersehbaren Folgen? Die lassen wir lieber die nächsten Generationen ausbaden.

In Syrien ist die Hölle los. Buchstäblich. Kurden, Türken, Djihadis aller Couleur, ISIS (ja, den gibt‘s immer noch), Iran, Saudi Arabien, Israel, Russland, die USA, Deutschland, Frankreich, Assad und seine Alawiten-Clique, andere Rebellen und neuerdings auch die AfD tragen dort irgendwelche Konflikte aus, vertreten eigene Interesse, bomben und schießen um Macht, Einfluss und Erdöl. Mittendrin Zivilisten, die erschossen, ausgebombt, um Haus und Hof gebracht und vergast oder mit Chemiewaffen verätzt werden. Höllisch, wie gesagt. Aber offensichtlich noch nicht höllisch genug, denn jetzt gehen dort aller Voraussicht nach auch noch Trump und Putin direkt aufeinander los. Nur zur Erinnerung: Beide haben genug Atomwaffen, um jede ernsthafte Auseinandersetzung zur letzten des Planeten werden zu lassen. Doch wieso sind eigentlich ausgerechnet Syrien, der Mittlere Osten und Israel Dauer-Brennpunkte? Wer wirklich an historischen Zusammenhängen interessiert ist, sollte in einer Suchmaschine des Vertrauens mal nach Begriffen wie „Sykes-Picot Agreement“, „Osmanisches Reich“, „Vertrag von Lausanne“, „Balfour Deklaration“ oder „Holocaust“ fragen. Nur so als Anregung….

Nachtrag: Ganze vier Stunden nachdem ich diesen Beitrag geschrieben habe, ging das Bombardement auch schon los.

Apropos Trump. Der unmöglichste US-Präsident aller Zeiten wütet mal wieder auf Twitter. Diesmal geht‘s gegen den früheren FBI-Direktor James Comey. Als Trump noch der Kopf der amerikanischen Reality-TV Gameshow „The Apprentice“ war, konnte er nach Abschluss jeder Episode einen Kandidaten feuern. Das für Trump Erfreuliche daran war, dass die Gefeuerten keine Widerworte gaben oder geben durften, auch nach ihrem Rauswurf waren sie vertraglich zum Schweigen verpflichtet. Dieses Schweigen hatte er von James Comey ebenfalls erwartet, als er ihn vor rund einem Jahr spektakulär feuerte. Doch Comey denkt gar nicht daran, ihm den Gefallen zu tun. Stattdessen hat er ein Buch veröffentlicht, das den Präsidenten alles andere als schmeichelhaft porträtiert. Comey vergleicht Trump mit einem aufgeblasenen Mafiaboss, dem die Lüge zur zweiten Natur geworden ist. Kein Wunder, dass der Präsident schäumt. Irgendwie muss er sich abreagieren. Da kommt Syrien gerade recht.

Zurück nach Deutschland. Da feiert die Musikbranche mal wieder Verkaufszahlen und bemüht sich nach Kräften, alle Kontroversen, Widersprüchlichkeiten und politischen Ungeheuerlichkeiten möglichst weit unter den roten Teppich zu kehren, und dann sowas. Ausgerechnet Altpunk Campino hält die wohl wichtigste Rede des Jahres. Nicht weiterlesen, einfach zuhören!

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Türken toben: BVB im Shitstorm

Auf Twitter bricht derzeit ein Shitstorm über den BVB herein. Nationalistische Türken und Deutsche türkischer Abstammung, die politisch dem Erdogan-Lager nahestehen,empören sich in zum Teil drastischen Worten über ein Banner, das beim Heimspiel des BVB gegen die Frankfurter Eintracht in der Südkurve hochgehalten wurde. Der Bannertext war eine simple Solidaritätsbotschaft an die kurdischen YPG-Einheiten, die die Stadt Afrin im kurdischen Teil Syriens gegen Einheiten des türkischen Militärs verteidigen. Die türkische Armee ist vor einigen Wochen auf syrisches Gebiet eingedrungen und geht dort gegen die mit den USA verbündeten kurdischen Milizen vor. Der Einsatz bewegt sich in einer rechtlichen Grauzone. Die Bundesregierung prüft derzeit, ob und, falls ja, inwieweit er von geltendem internationalen Recht gedeckt ist. Die Regierung Erdoğan wift der YPG vor, sie sei mit der in der Türkei verbotenen PKK verbündet. Die Türkei fürchtet, dass die Kurden im benachbarten Syrien einen unabhängigen Staat aufbauen könnten und will diesen mit aller Macht verhindern. Nationalistische Kreise in der Türkei verstehen Syrien, das bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Teil des von den Allierten zerschlagenen osmanischen Reichs war, nach wie vor auch als zur türkischen Einflusssphäre gehörig. Der Shitstorm auf Twitter wird auch von türkischen BVB-Fans getragen, die dem Verein offen ihre Unterstützung entziehen, während Fans von türkischen Fußballvereinen BVB- Anhängern mit offener Gewalt drohen, sollte es jemals zu einem Zusammentreffen des BVB mit einem ihrer Vereine kommen. Der türkische Militäreinsatz gegen die Kurden im benachbarten  Syrien hatte die Dortmunder allerdings schon vor der Fanaktion beschäftigt. Anfang März nämlich hatte der in Lüdenscheid geborene BVB-Fußballer und türkische Nationalspieler Nuri Șahin die Offensive gegen die syrischen Kurden mit einem Tweet kommentiert, in dem er den türkischen „…Märtyrern, die in Afrin ihr Leben verloren haben….“ Gottes Barmherzigkeit und den Verwundeten schnelle Genesung wünscht. Für die von türkischen Militärs getöteten kurdischen Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, hat der deutsche Bundesligaspieler hingegen kein Wort des Beileids übrig.

 

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Neues Album von Letzte Instanz: Morgenland

Das neue Album von Letzte Instanz trägt den Titel „Morgenland“ und wird vom 16. Februar 2018 an über die üblichen Kanäle verfügbar sein. Produziert hat es Markus Schlichtherle, der bereits bei Künstlern wie Christina Stürmer, Polarkreis 18 und Callejon seine Hände im Spiel hatte. Ein Track auf dem Album, der besondere Aufmerksamkeit verdient, ist „Children“, Ergebnis einer beeindruckenden Zusammenarbeit mit den israelischen Rockern Orphaned Land. Die Israelis sind eine der ganz wenigen Bands im Nahen und Mittleren Osten, die gezielt religiöse, politische und ideologische Grenzen überschreiten und den Austausch mit Musikern und Musikliebhabern in der gesamten Region suchen. Sie bauen Brücken statt Barrikaden haben sich damit über viele Jahre, die vor allem durch gewaltsame Konflikte in der Region  geprägt waren und sind, Fans und Freunde in der gesamten arabischen Welt ebenso wie in Europa und natürlich in ihrer israelischen Heimat gemacht. Die Kollaboration wurde von Letzte Instanz-Sänger Holly Loose initiiert. Hier erklärt er, wie es dazu kam:

Ich bin Künstler und Vater. Als Vater habe ich die Pflicht, meine Kinder zu schützen, soweit es in meiner Macht steht. Als Künstler habe ich die Pflicht, unter anderem dafür einzustehen, dass es, zum Beispiel aufgrund eines Krieges, niemals dazu kommt, meine Kinder nicht mehr schützen zu können. Eines lauen Sommerabends saß ich in einem beschaulichen Stadtteil von Berlin an meinem Rechner und flanierte ziellos durchs Internet. Ich stieß von einem Post zum nächsten und plötzlich tat sich ein Youtube-Video vor mir auf, dessen Bilderinhalt das Schicksal der Kinder Aleppos beklagte und dessen Audiospur ein tragisch anmutendes, sanft beginnendes und sich immer mehr zum Rocksong entwickelndes Lied trug, welches in den Versen auf Englisch und in den Refrains auf Arabisch vorgetragen war. Das Zusammenspiel zwischen Bildmaterial und Musik war so gewaltig, dass es mir die Tränen in die Augen trieb. Ich kam nicht umhin, mich mit dieser Band näher zu befassen und staunte nicht schlecht. „Orphaned Land“ kannte ich noch aus meiner Zeit in Istanbul. Das Lied beschäftigte mich noch ein paar Tage. Ich fasste mir ein Herz und schrieb Kobi Farhi, den Sänger dieser israelischen Band, einfach an, erzählte ihm, dass ich Vater zweier Kinder sei und mich dieses Lied zu tiefst berührte. Ich bat ihn darum, dieses Lied als Cover auf das neue Album meiner Band „Letzte Instanz“ in deutscher Sprache neu veröffentlichen zu dürfen. Es dauerte keine zwei Minuten und Kobi schrieb zurück, bedankte sich auf’s Herzlichste für mein Interesse an diesem Lied und mein damit verbundenes Anliegen.
Etwa zeitgleich hörte ich zufällig von einer Geschichte, die mich ebenfalls sehr berührte. Ein Mann namens Jan Jessen erschuf aus Spenden und eigenen Mitteln zusammen mit anderen engagierten Leuten aus Nordrhein-Westfalen ein Flüchtlingsdorf direkt im Nordirak. Was quasi als „Container-Sammelstelle“ begann, mauserte sich mehr und mehr zu einem kleinen Dorf mit einer gewissen Infrastruktur. Sogar eine Schule sollte es bald geben. Das imponierte mir. Auch Jan schrieb ich an, um zu erfahren, ob wir ihm als Band nicht irgendwie helfen könnten. Es dauerte auch hier weniger als eine halbe Stunde und wir kamen über Facebook ins Gespräch. Er erzählte mir von vielen sehr traurigen Dingen: Von Vätern, die ihre Kinder im Arm hielten, obwohl diese schon lange tot waren. Von Kindern, die ihre Eltern verloren hatten. Doch er erzählte mir auch von den Mädchen im Dorf, die jetzt sogar eine eigene Fußballmannschaft gegründet hatten, er erzählte mir von vielen positiven Dingen, die sich entwickelten, aber auch von Notwendigkeiten, die noch zu leisten seien. Zum Beispiel – das blieb mir besonders im Gedächtnis – fehlte es an Schulmaterial.
Unabhängig von diesen beiden Begebenheiten sitzen wir von „Letzte Instanz“ seit Januar diesen Jahres an einem neuen Album, welches nun schon fertig produziert, aufgenommen und gemixt ist, sitzen in den Startlöchern und warten auf den 16.02.2018, um endlich unser neues Baby in den Händen halten und der Welt zeigen zu können. Es ist unser 13. Album und heißt „Morgenland“. Dieser Titel trägt zwei Bedeutungen in sich. Zum einen natürlich das Morgenland, welches für uns Europäer seit je her so heißt, weil dort, im Osten, die Sonne und mit jedem Morgen ein neuer Tag aufgeht – für uns im Frieden. Wir kennen dieses Morgenland ja auch aus den „Geschichten aus 1001 Nacht“. Doch dieser Titel hat für uns noch eine andere, wichtigere Bedeutung: Das Morgenland als tatsächliches Land von Morgen, welches ein schönes, friedliches Land sein kann, wenn wir heute schon die Weichen für den Weg in eben dieses Morgenland stellen.
Ich erzählte meinen Bandkollegen von meinen beiden neuen Bekanntschaften, erzählte von der Möglichkeit, dieses Lied von „Orphaned Land“, obwohl es total unüblich ist, auf unserem Album noch einmal in deutscher Sprache zu veröffentlichen und bat sie um ihre Meinungen. Alle erwiderten ohne den Hauch eines Widerstandes oder Unwollens, dass wir dieses Lied unbedingt auf unser Album nehmen müssten, da ja schon der Albumtitel dies verlangte. Als zweites erzählte ich von Jan und seinem Flüchtlingsdorf. Sofort kristallisierte sich eine Idee heraus, die zwangsläufig geboren werden musste, nämlich das Lied von „Orphaned Land“ mit dem Flüchtlingsdorf im Nordirak zu verbinden.
Ich rief Jan erneut an, fragte ihn, wann er wieder in den Nordirak fliegen und ob er mich mitnehmen würde, damit ich mir einen Eindruck von der Situation und mehrere Bilder für ein Video zu diesem Lied machen könnte. Der Termin stand schneller als ich erwarten durfte. Ich fing an, mir ein paar Brocken Arabisch anzueignen, um gewappnet zu sein, und besorgte Stifte und Papier, welches ich für die Schule im Dorf mitnehmen wollte. Drei Tage vor Abflug wurde die Reise gecancelt, weil der Krieg um Mossul wieder aufflammte und eine Reise dorthin unmöglich war. Meine Frau war – zu Recht – ziemlich erleichtert. Jan versprach, mir aus seinem Bilder- und Filmfundus eine Auswahl zukommen zu lassen, damit wir das Video fertigstellen und so auch einen kleinen Teil leisten konnten. Nämlich der Pflicht gerecht zu werden, als Künstler aufzuzeigen, dass Krieg die scheißeste Scheiße aller Scheißen ist.
Am 03.12. nun wird dieses Video veröffentlicht. Es ist ein Gesamtwerk aus den Ideen mehrerer Künstler, Väter und Menschen. Ich danke allen von Herzen dafür, dass dieses Projekt realisiert werden konnte!
PS: Ich bitte dich nun darum, die Facebookseite der Caritasflüchtlingshilfe Essen e.V. (@fluechtlingshilfe.essen) zu besuchen, dich noch einmal selbst über das Projekt im Nordirak zu informieren und auf dem Spendenkonto der Organisation ein paar Euro zu hinterlassen, damit Schulmaterialien, und alles weitere Fehlende besorgt werden können.
Caritas-Flüchtlingshilfe Essen e.V. – Bank im Bistum Essen – DE45 3606 0295 0000 1026 28
Ich danke dir im Namen der Bands „Letzte Instanz“, „Orphaned Land“ und des Flüchtlingsdorfes NRW.“

 

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Zehn Nächte in Teheran

Es waren zehn Nächte im Oktober 1977, die in die Geschichte der modernen Lyrik eingegangen sind. Zehn verregnete und kalte Nächte im fernen Teheran, damals Hauptstadt der korrupten Dynastie von Schah Reza Pahlavi. Zehn Nächte voller Poesie, Leidenschaft, Aufbegehren und wilder Hoffnung. Zehn Nächte, die einem modernen Woodstock der Literatur so nahe kamen wie wohl keine andere literarische Lesung vorher oder nachher. Zehn Nächte im Garten der deutsch-iranischen Gesellschaft, die zudem einen der ganz seltenen wirklich großartigen Glanzpunkte deutscher Auslands-Kulturpolitik gekrönt haben, seinerzeit  in Deutschland kaum wahrgenommen worden waren und heute beinahe vergessen sind. Dabei waren sie eines der herausragenden Ereignisse auf dem langen Weg zu einer Revolution, die den Schah von Persien außer Landes und am Ende seinen ärgsten Widersacher, den islamischen Rechtsgelehrten Ruhollah Ayatollah Khomeini an die Macht spülen sollten.

Anthony Parsons, damals britischer Botschafter im Iran, schreibt in seinem Buch The Pride and the Fall :„Iranische Dichter lasen im westdeutschen Kulturzentrum aus ihren Werken. Sie nutzten die Gelegenheit, in ihren Gedichten machtvolle Kritik am Regime zu üben. Die Zuschauerzahlen waren gewaltig, rund 62.000 Menschen kamen insgesamt in diesen zehn Nächten, und sie nahmen die Kritik offen an.“

Für Parsons waren diese Lesungen ein Schlüsselereignis der langsam anrollenden iranischen Revolution, die zu diesem Zeitpunkt durchaus noch keine islamische war.

Iranische Dichter – verfolgt und gefoltert.

Hushang Golshiri

Einer, der im Zentrum des Sturms agierte, den iranische Dichter in diesen Nächten entfesselten, war Kurt Scharf, damals stellvertretender Leiter des Teheraner Goethe-Institut und maßgeblich an der Organisation der Lesungen  beteiligt. Kurt Scharf, der sich seitdem auch als Übersetzer und Herausgeber moderner persischer Lyrik im deutschsprachigen Raum einen Namen gemacht hat, war 1973 nach Teheran versetzt worden und hatte schon zu einer Zeit Kontakte zu iranischen Schriftstellern aufgenommen, als diese vom Regime und dessen allgegenwärtiger brutaler Geheimpolizei SAVAK noch nach allen perfiden Regeln diktatorischer Kunst verfolgt worden waren.

Das Teheraner Goethe-Institut hatte bereits in den Sechzigern und frühen Siebzigern Lesungen mit iranischen Dichtern veranstaltet, diese Veranstaltungen aber eingestellt, als es für die teilnehmenden Dichter zu gefährlich geworden war, in aller Öffentlichkeit aus ihren oft verbotenen und unterdrückten Werken vorzulesen. So war zum Beispiel der Schriftsteller und Journalist Sirius Ali Nevaida in den frühen Siebzigern von SAVAK verhaftet, gefoltert und eingekerkert worden, nur weil er für die Zeitung Ayandegan einen Bericht über eine Nacht der Dichtung im Goethe-Institut geschrieben hatte.

Da schien der Schah noch ganz auf der Höhe seiner Macht, gestützt von den USA, Großbritannien, aber auch von der alten BRD, für die der Folterfreund im Iran der wichtigste Wirtschaftspartner im Mittleren Osten war.

Mitte der Siebziger jedoch war die Opposition gegen den Schah bereits so breit gefächert, dass dieser sich genötigt sah – auch auf Druck der Carter-Regierung -, eine vorsichtige Liberalisierung der Gesellschaft zu erlauben. Immerhin, diese Phase zögerlicher Liberalisierung sollte es überhaupt ermöglichen, dass der bis dahin im Untergrund agierende iranische Schriftstellerverband zusammen mit dem Goethe-Institut die Veranstaltung organisieren konnte, die dann unter dem Namen „Da schab dar Tehran“ (Zehn Nächte in Teheran) so eindrucksvoll die Macht des vorgelesenen  Wortes in einem rauen politischen Klima demonstrieren sollte.

 Ein neuer Stern am Himmel iranischer Poesie: Huschang Golschiri

Wie fragil die Situation iranischer Dichter trotz der leichten Liberalisierung 1976 immer noch war, beschreibt Kurt Scharf so:

Alle Schriftsteller waren mit erheblichen Problemen konfrontiert, überhaupt zu veröffentlichen. Die Zahl der Veröffentlichungen war sehr gering. Einige arbeiteten in staatlichen Stellen, aber selbst die hatten Schwierigkeiten zu veröffentlichen. Andere schlugen sich als Journalisten durch, als Lehrer oder als Texter in den Reklameabteilungen staatlicher Behörden. Sie alle unterlagen strikter Zensur.

Gerade weil das Goethe-Institut in den vorhergegangenen Jahren intensiv mit iranischen Dichtern zusammengearbeitet hatte, war es erste Partnerwahl für den 1967 gegründeten Schriftstellerverband gewesen. Zu den jungen Literaten, die 1976 auf Kurt Scharf zukamen, gehörte übrigens auch der spätere Erich-Maria Remarque-Preisträger (1999) Huschang Golschiri, der heute als einer der Väter der zeitgenössischen iranischen Literatur gilt.

Das Goethe-Institut war mehr als bereit, die Organisation der Veranstaltung zu  übernehmen und seine örtliche Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Dass sich etwas Ungewöhnliches anbahnte, merkten Kurt Scharf und seine Kollegen allerdings schnell. Denn kaum begann die Kunde von der Lesung sich zu verbreiten, liefen auch schon die Telefone im Institut heiß.

Scharf erinnert sich:

Wir wollten die Lesungen ursprünglich im Großen Garten des Instituts abhalten, der immerhin rund 2.000 Menschen Raum bot, aber dann kristallisierte sich heraus, dass der Platz nicht ausreichen könnte. Deshalb haben wir schließlich auf die Räumlichkeiten der Deutsch-Iranischen Gesellschaft zurückgegriffen.“

Aber selbst die waren nicht groß genug. Bereits am ersten Abend drängelten sich über zehntausend Besucher innerhalb des restlos überfüllten Areals und vor den Toren.

Wir haben versucht die Tore zu schließen, aber das ging nicht mehr. Die Leute waren überall, sie kletterten auf Laternenpfähle, hockten in den Bäumen und saßen auf der Mauer, und es störte sie nicht im Geringsten, dass es regnete und dass es kalt war.“

Auch nicht, dass sie draußen wohl kaum ein Wort von dem verstanden, was drinnen gelesen wurde. Zumindest das ließ sich ändern. In der nächsten und den folgenden Nächten wurden zusätzliche Außenlautsprecher montiert. Die Behörden, wohl ebenso vom riesigen Zulauf überrascht wie die Organisatoren und die Dichter selbst, hielten sich zurück und unternahmen keine Anstalten, in den Ablauf oder die Organisation einzugreifen.

Zauberhafte Momente im Herbstregen

Die, die dabei waren, egal ob als Vortragende, Organisatoren oder schlichte Zuhörer, bekommen noch heute leuchtende Augen, wenn sie an die Teheraner Dichter-Nächte zurückdenken, an jene ganz seltenen, zauberhaften Momente im Herbstregen, in denen Poesie die ganze Macht entfaltete, die ihr innewohnen kann. Jene Macht, die sie seit jeher den Herrschenden in aller Welt suspekt erscheinen lässt, selbst wenn sie oft kaum zu erahnen ist.

Schah Mohammed Reza Pahlavi

Bei vielen von denen, die sich da zehn Nächte lang zu Zigtausenden  versammelt hatten, hatte der Unmut mit der politischen und wirtschaftlichen Situation im Iran bereits den Siedepunkt erreicht. Sie hatten genug von dem korrupten Schah-Regime. Was sich in diesen zehn Nächten  zusammenbraute, war eine von den Initialzündungen der islamischen Revolution. Die hatte ja ursprünglich nahezu alle Gesellschaftsgruppen umfasst. Die Revolutionäre waren Kommunisten ebenso wie Nationalisten, Bazaris ebenso wie liberale Intellektuelle oder das verarmte Proletariat der Städte. Und natürlich die schiitische Geistlichkeit, von allen mit Abstand am besten organisiert, die am Ende als eigentliche Sieger aus der Revolution hervorgehen sollte, bis Ende 1978 aber durchaus im Schulterschluss mit all den anderen Gruppierungen agierte.

In gewisser Weise war dieses Phänomen einer Dichterlesung als Massenereignis nur in einer islamisch geprägten Kultur möglich. Weil die  darstellenden Künste und die Musik in islamischen Gesellschaften erheblichen Beschränkungen unterliegen, kommt der Literatur seit Jahrhunderten eine herausragende Bedeutung zu. Gerade die Lyrik war und ist oft auch die einzige Kunstform, die in ihren Mehrdeutigkeiten versteckte und kodierte Kritik transportieren konnte und kann.

Für die Mehrheit der iranischen Dichter waren diese zehn Nächte von Teheran nur ein kurzer Moment überschwänglich zelebrierter Freiheit. Die Liberalisierung, die der schwer bedrängte Schah eingeleitet hatte und die ihnen erstmals seit Mossadeghs Zeiten wieder eine Ahnung von Ausdrucks- und Meinungsfreiheit beschert hatte, endete kurz nach dem endgültigen Sieg der islamischen Revolution. Ruhollah Khomeini, Autor des theoretischen Fundaments „Velayat-e Faqih“ (Wächterschaft des Juristen), auf dem die islamische Republik Iran seitdem basiert und damit selbst ein Schriftsteller, der in seiner Jugend außerdem Verfasser von schwülstiger Liebeslyrik gewesen war, wusste sehr wohl um die Macht des Wortes und nahm den Literaten Irans – von den strikt islamischen Poeten abgesehen – bald alle Freiheiten, die sie für so kurze Zeit genossen hatten. Ab 1980, nur ein Jahr nach dem Sturz der Monarchie, wurden iranische Literaten wieder nach altbekannten Mustern verfolgt. Die Anschuldigungen mögen seitdem anders lauten und religiös verbrämt sein, die Methoden der Verfolgung und Unterdrückung jedoch sind die gleichen, die schon des Schahs Schergen angewendet hatten.

Die zehn Nächte von Teheran aber sind gerade deswegen längst zu einer kraftvollen Legende geworden.

Die teilnehmenden Dichter sind tot oder im Exil, einige auch einfach verstummt. Kurt Scharf hat den Iran 1979 verlassen und ist im Dienst des Goethe-Instituts bis zu seiner Pensionierung Ende 2006 noch ganz schön in der Welt herum gekommen. Er ist über all die Jahre der modernen iranischen Literatur treu geblieben. Zuletzt ist von ihm die ausgezeichnete Anthologie zeitgenössischer iranischer Poesie „Der Wind wird uns entführen
veröffentlicht worden.

Edgar Klüsener

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Juden im Iran: Ein Leben im Widerspruch

Schroffe Töne zwischen Israel und Iran. Holocaust-Leugnung auf der einen Seite, die unverhüllte Drohung mit Luftschlägen auf der anderen. Mittendrin, meistens vergessen und nur selten erwähnt, etwa 25.000 Juden im Iran, seit Jahrtausenden im Lande ansässig, Iraner per Staatsangehörigkeit, Juden durch ihre Religion und daher eigentlich beiden Seiten suspekt. Da stellt sich die Frage: Wie leben sie eigentlich, die Juden im Iran?*

Gut, sagen die, die noch im Lande verweilen. Gut, sagt auch Siamak Morsadegh, Kopf des Jüdischen Komitees von Teheran und Abgeordneter in der Majles, dem iranischen Parlament. Morsadegh fühlt sich in erster Linie als iranischer Patriot jüdischen Glaubens. Das mache ihn jedoch nicht automatisch zum Zionisten und zu einem Befürworter israelischer Besatzungspolitik, betont er immer wieder. Um diesen Standpunkt ganz klar zu machen, protestiert er auch schon mal öffentlich vor der UNO-Vertretung in Teheran gegen die israelischen Angriffe auf Gaza.

Aber als Vertreter der jüdischen Minderheit im Parlament hat er eigentlich andere Sorgen. Er muss die Interessen der Juden vertreten in einer erklärt islamischen Republik, muss sich für sie einsetzen und vor allem auch darauf achten, dass die Gemeinde nicht zum Opfer aufgepeitschter antiisraelischer Emotionen werden, die in unverhohlenen Antisemitismus umschlagen. Beispiellos wäre das auch in der jüngeren iranischen Vergangenheit nicht. Die politische Großwetterlage macht den Job nicht gerade leichter, denn das Verhältnis zwischen Iran und Israel könnte wirklich schlechter kaum sein. Irans gerade abgewählter Präsident Ahmadinejad hätte den „Zionistenstaat“ am liebsten von der Landkarte getilgt, während sein israelischer Gegenpart Olmert demonstrativ Luftwaffenmanöver abhalten ließ, in denen der Angriff auf Iran und seine Nuklearanlagen geprobt wurden. Die Wahlen in Israel und der daraus resultierende Rutsch nach noch weiter Rechts lassen kaum auf Entspannung hoffen, auch wenn Irans neuer Präsident Rouhani merklich moderatere Töne anschlägt und ernsthaft um Entspannung des Verhältnisses mit dem Westen – und damit auch mit Israel – bemüht scheint.

Angesichts der düsteren Schlagzeilen überrascht es schon, dass die Islamische Republik Iran immer noch die Heimat für die größte jüdische Minderheit im gesamten Nahen und Mittleren Osten ist. Zwischen 25.000 und 35.000 Juden – die Schätzungen variieren je nach Quelle – leben heute noch im Iran, die überwiegende Mehrheit in Teheran. Aber was ist das für ein Leben? Ein Leben in Geiselhaft? Ein Leben in ständiger Lebensgefahr in einem Staat, in dem der Antisemitismus so virulent und potenziell mörderisch ist wie einst im Deutschland der Nazizeit, wie Victoria Golshani in der Harvard-Publikation „New Society“ behauptet? Der Blick auf den Alltag der Juden im Iran enthüllt ein wesentlich komplexeres Bild.

Ayatollah Khomeini

Wer sich heute in der Megapolis Teheran umschaut, wird nicht lange nach Spuren sehr lebendigen jüdischen Lebens suchen müssen. Das jüdische Hospital ist eins der besten in Teheran, und das nächste Kosher-Restaurant ist nirgendwo allzuweit weg. In der Stadt allein gibt es dreißig Synagogen, die Juden haben eigene Schulen und einen eigenen Abgeordneten im Parlament. Und sie reagieren manchmal gereizt auf Einmischung von außen. Im Juli 2007 machte ein Angebot Schlagzeilen, das die israelische Hebrew Immigrant Aid Society allen iranischen Juden unterbreitet hatte: Jeder jüdischen Familie wurden 5.000 Dollar im Gegenzug für die Auswanderung aus Iran versprochen. Für die Schlagzeilen vor allem in der englischen und amerikanischen Presse sorgte jedoch nicht so sehr das Angebot selbst, sondern vielmehr die empörte Reaktion der iranischen Juden. Der englische Guardian zitierte ein öffentliches Statement der „Society of Iranian Jews“: „Die Identität iranischer Juden kann nicht ge- oder verkauft werden. Iranische Juden leben seit Urzeiten in Iran. Sie lieben ihre iranische Identität und ihre Kultur; weder Drohungen noch dieser unreife politische Bestechungsversuch werden ihr Ziel erreichen, die Identität iranischer Juden auszulöschen.“

Das Stichwort hier ist Identität. Jüdische Gemeinschaften existieren im Iran seit dem 7. Jahrhundert vor Christus und bilden damit die älteste jüdische Diaspora-Gemeinde. Im Iran finden sich die meisten heiligen jüdischen Stätten außerhalb Israels, und der Einfluss, den die iranischen Juden in den vergangenen dreitausend Jahren auf die Entwicklung der iranischen Gesellschaft, ihrer Kultur und Poesie hatte, ist enorm. Bis zur Zerschlagung des Sassaniden-Reiches durch die Heere der muslimischen Araber im siebten nachchristlichen Jahrhundert waren die Juden nur eine von mehreren gleichberechtigten religiösen Gruppen im Iran gewesen. Verfolgungen wie offenkundige Benachteiligungen hatten sie, anders als die frühen Christen, kaum je erleiden müssen. Mit der Etablierung des Islam allerdings änderte sich ihr Status. Zwar genossen Juden wie Zarathustrier und Christen als Dhimmi (ahl al-dhimma – Menschen des Buches, Angehörige von monotheistischen Religionsgemeinschaften) den besonderen Schutz des Korans, waren aber den Muslimen rechtlich nicht gleichgestellt. Trotzdem kam es auch nach der Islamisierung Irans nur selten zu Übergriffen gegen die jüdischen Gemeinschaften. Das änderte sich erst, als die Safaviden den Zwölfer Schiismus zur Staatsreligion machten. Von da an berichten jüdische Chroniken immer häufiger von Mißhandlungen, Verfolgungen und gewaltsamen Bekehrungen zum Islam. Allerdings waren die Juden nicht die einzigen oder bevorzugten Opfer, sondern teilten ihr Schicksal mit Christen, Zarathustriern und anderen religiösen Minderheiten. Die wohl entscheidende Veränderung für den Umgang der islamischen Mehrheit mit ihren religiösen Minderheiten war die Anwendung des Konzeptes der ‚Unreinheit‘ (nejasat) auch auf die Angehörigen der vom Koran anerkannten monotheistischen Religionen. Anders als im Sunni Islam, lehrten die schiitischen Theologen, dass jeder Kontakt mit Ungläubigen unrein sei und deshalb nach Möglichkeit vermieden werden müsse.

Eine direkte Folge war die zunehmende Segregation der nicht-muslimischen Gemeinschaften von der muslimischen Mehrheit. Die Zahl der interkonfessionellen und interethnischen Heiraten, bis dahin durchaus alltäglich, ging dramatisch zurück. Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch erlitten die iranischen Juden so heftige und weitreichende Verfolgungen, dass Nahost-Historiker wie Eliz Sansarian zu dem Schluss kommen, dass die iranische Variante des Schiismus in sich selbst antisemitisch sei.

Dass sich viele Juden an der Konstitutionellen Revolution von 1905-1911 beteiligten, verwundert bei diesem Hintergrund kaum noch. Die neue Verfassung garantierte Juden, Christen und Zarathustriern das Recht auf jeweils einen eigenen Abgeordneten im neuen Parlament und erkannte sie – anders als Hindus, Buddhisten und Baha-i – als offiziell gleichberechtigte religiöse Minderheiten an. Ihr Vertreter im Parlament (Majles) war allerdings kein Jude, sondern ein islamischer Geistlicher.

Als sich 1948 der Staat Israel gründete, erlebte Iran eine Massenauswanderung seiner jüdischen Bürger. Rund ein Drittel aller iranischen Juden folgte zwischen 1948 und 1953 dem Ruf der zionistischen Staatsgründer, die überwiegende Mehrheit der ärmeren jüdischen Landbevölkerung. Die, die im Lande blieben, waren vor allem die urbanen Juden in Teheran, Isfahan und anderen großen Städten, die wohlhabende jüdische Mittel- und Oberschicht. Die, die blieben, erlebten die kommenden Jahrzehnte unter der säkularen Herrschaft von Shah Mohammed Reza Pahlavi als eine Zeit der kulturellen und wirtschaftlichen Blüte. Rund 80.000 lebten noch im Iran, als im Frühjahr 1979 die Revolution ausbrach. Die Revolution war getragen von einer breiten Koaliton aus Kommunisten, liberalen Intellektuellen, traditionellen Mittelschichten, Gewerkschaften, Künstlern und der schiitischen Geistlichkeit. Auch jüdische Künstler und Intellektuelle, angewidert von der brutalen Diktatur der Pahlavis, engagierten sich für die Revolution, zu deren charismatischem Führer sich mehr und mehr der exilierte Ayatollah Ruhollah Khomeini entwickelte.

Blick auf Teheran

Erst als die Revolution einen zunehmend islamischen Charakter annahm und als sowohl Revolutionsführer Khomeini selbst als auch andere führende Geistliche wiederholt antisemitische und antizionistische Reden schwangen, wuchs die Besorgnis unter den iranischen Juden.Mehrere Zehntausende verließen das Land. Entsprechend alarmiert reagierten die Führer der verbleibenden jüdischen Gemeinde auf die Entwicklungen. Sie suchten den unmittelbaren Kontakt mit dem greisen Ayatollah. Kaum kehrte der im Triumph aus dem Pariser Exil nach Teheran zurück, kam es zu einem Treffen zwischen ihm und Vertretern der jüdischen Gemeinde. In diesem Treffen garantierte Khomeini den Juden ihren Status als religiöse Gemeinschaft unter dem Schutz des Koran, die Gleichberechtigung mit den Muslimen und einen eigenen Vertreter im künftigen Parlament und erließ eine entsprechende Fatwa. Er selbst mäßigte seine antisemitische Rhetorik in der folgenden Zeit erheblich. Trotzdem kam es zum Ende der Revolution und in den Anfängen der islamischen Republik immer wieder zu vereinzelten lokalen Ausschreitungen gegen Juden und jüdische Einrichtungen. Antisemitische Einstellungen und Rhetorik fanden sich während der Revolution übrigens ebenso in den Äußerungen der Linken und der säkularen Nationalisten.

Der Konflikt der islamischen Republik mit dem Staate Israel machte die Lage der Juden im Lande prekär. Verdächtigungen, sie seien eine Fünfte Kolonne der Israelis waren an der Tagesordnung. Der jüdische Delegierte Daneshrad in der konstituierenden Versammlung sah sich immer wieder gezwungen, ausdrücklich die Loyalität der Juden mit Iran und mit der islamischen Republik zu betonen.

Die Lage der jüdischen Minderheit besserte sich während des Krieges mit Irak. Vor der Revolution war Iran einer der wichtigsten Märkte für israelische Rüstungsexporte gewesen. Die Israelis hatten ein starkes Interesse, diesen Markt auch nach der Revolution nicht aufzugeben, und so kam es schon Anfang 1980 in Paris zu einem Treffen zwischen einem Offiziellen des israelischen Verteidigungsministeriums, Mordechai Zipori, und Vertretern von Khomeini. Mit der Aufnahme von Geheimverhandlungen wollte die israelische Regierung auch zusätzliche Garantien für die Sicherheit der immer noch rund 50.000 iranischen Juden gewinnen. Das Treffen resultierte in einem Waffendeal, der Israel in den folgenden Jahren zu Irans mit Abstand wichtigstem Rüstungspartner machte. Das jährliche Waffenhandelsvolumen lag 1985 bei geschätzten 500 – 800 Millionen Dollar. Dass auch die amerikanische Reagan-Administration später in diesen Deal verwickelt wurde, machte erstmals im November 1986 das libanesische Magazin Ash-Shiraa publik. Präsident Reagan musste dann in einer Rede am 13. November 1986 die amerikanische Verwicklung, die als Iran-Contra-Deal in die Geschichte eingegangen ist, eingestehen.

Die Auswirkungen des Iran-Irak-Krieges auf die iranische Gesellschaft waren dramatisch und sind bis heute zu spüren. Die Strukturen der Gesellschaft, durch die Revolution bereits angegriffen, wurden durch den Krieg in ihren Grundzügen erschüttert. Eine der Folgen war die Herausbildung einer deutlichen und schroffen Polarisierung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, von der die jüdische Minderheit weit stärker betroffen war als die anderen religiösen und ethnischen Minderheiten – mit Ausnahme der Baha-i. Es erwies sich allerdings auch, dass der Rechtsschutz, den die Verfassung gewährte, in der Praxis tatsächlich funktionierte. Wiederholt kassierten iranische Gerichte gegen jüdische Einrichtungen gerichtete Maßnahmen örtlicher Behörden, und auch jüdische Proteste gegen antisemitische Berichterstattung in den Medien waren in der Regel erfolgreich.

Die Lage der jüdischen Gemeinschaft entspannte sich ab 1997 sichtlich mit dem Amtsantritt des gemäßigten Reformers Präsident Khatami. Von größter Bedeutung war vor allem die Aufhebung der meisten Reisebeschränkungen. Obwohl nach wie vor offiziell verboten, können iranische Juden seitdem ungehindert über Drittländer nach Israel reisen und in den Iran zurückkehren. Auch nach Israel ausgewanderte Juden können nun jederzeit den Iran und dort lebende Familienmitglieder besuchen.

Unter dem konservativen Präsidenten Ahmadinejad fanden sich die Juden in einer eigenartigen Situation wieder. In allen öffentlichen Verlautbarungen gab sich Ahmadinejad radikal antizionistisch und antiisraelisch, er stellte den Holocaust in Zweifel und suchte die offene Konfrontation mit beiden, Israel und dem Westen. Innenpolitisch war er bestrebt, viele der Reformen seines Vorgängers Khatami rückgängig zu machen, die Liberalisierung der Gesellschaft zu stoppen und seine eigene Machtposition auch gegenüber dem Obersten Führer Ayatollah Khameini auszubauen. Die Medien wurden wieder weit schärfer zensiert, die Durchsetzung islamischer Bekleidungsvorschriften, die Verfolgung von Künstlern, Journalisten und Liberalen war – und ist – so intensiv wie zuletzt in der Zeit direkt nach der Revolution. Propagandalügen wie die „Protokolle der Weisen von Zion“ wurden unter Ahmadinejad erneut zu Bestsellern und es wurden vereinzelte Fälle von antijüdischen Übergriffen bekannt, die allerdings auch von Polizei und Gerichten geahndet wurden. Trotzdem ist die Lage der Juden nach wie vor insgesamt sicher. Und sie haben durchaus eine Stimme in den innenpolitischen Auseinandersetzungen. Einer der schärfsten Kritiker von Präsident Ahmadinejad war der jüdische Parlamentsabgeordnete Maurice Motamed, Vorgänger des 2008 in die Majles gewählten Siamak Morsadegh. In einem offenen Brief an den Präsidenten, der im Iran erhebliches Aufsehen erregte, verurteilte er mit deutlichen Worten Ahmadinejads Äußerungen zum Holocaust. Und er wusste in dieser Frage nicht nur den obersten Führer Khameini hinter sich, der seinerseits erklärt hat, dass es am Holocaust und am grausamen Unrecht, dass die Europäer den Juden angetan haben, keinen Zweifel geben dürfe. Auch die Medien folgten Ahmadinejad in dieser Frage weit weniger bereitwillig, als ihm lieb gewesen sein dürfte. Einer der größten Hits in der iranischen Fernsehgeschichte ist ausgerechnet eine Serie, die den Holocaust thematisiert. „Null Grad Wende“, so der übersetzte Titel der Drama-Serie, erzählt die Geschichte eines iranischen Diplomaten im Paris unter deutscher Besatzung, der iranische Pässe an französische Juden ausgibt und ihnen so die Flucht aus Europa ermöglicht. Die Serie, im November 2007 erstmals vom Staatssender IRIB ausgestrahlt, thematisierte die Wirklichkeit der deutschen Todeslager in einer Deutlichkeit, die keinen Raum für Zweifel oder Interpretationen lässt. Entschiedener konnte Ahmadinejad im eigenen Land nicht widersprochen werden.

Der bemühte sich durchaus auch selbst um das Wohlwollen der jüdischen Iraner. Nicht nur versuchte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu verdeutlichen, dass er zwar Antizionist sei und ein Problem mit dem Staate Israel habe, aber eben kein Antisemit. Er schätze die jüdischen Bürger Irans, respektiere ihre Kultur und ihre Religion. Um den Worten Taten folgen zu lassen, spendete sein Büro seit seinem Amtsantritt regelmäßig für das jüdische Krankenhaus in Teheran, das nicht zuletzt auch dank der Zuwendungen aus dem Präsidentenamt eins der besten Krankenhäuser Irans ist.

Die Gegenwart der Juden im Iran während und nach Ahmadinejad ist so komplex wie das Land und seine Gesellschaft selbst. Ironischerweise ist seit der Revolution ausgerechnet der Islam ihr bester Schutz vor Willkür und Verfolgung. Weil der Islam die jüdische Religion als eine Religion des Buches anerkennt – und damit schützt – und weil Khomeini die Juden in einer Fatwa noch einmal ausdrücklich unter den Schutz des Islam und der Verfassung gestellt hat, konnte ihre Gemeinschaft nicht nur überleben, sondern sich auch weitgehend problemfrei in die nachrevolutionäre iranische Gesellschaft eingliedern. Die Juden im Iran haben ihre eigene politische Repräsentation und sind frei in der Ausübung ihrer Religion und Kultur. Aber sie sind auch unentrinnbar verwickelt in den Konflikt zwischen Israel und Iran. Die heimlichen und offen ausgesprochenen Zweifel an ihrer Loyalität machen sie zu Zielscheiben für Elemente in der konservativen Geistlichkeit ebenso wie für einige der konservativen Medien. Aus dieser Situation heraus wird die schroffe Reaktion auf das eingangs erwähnte „Geld für Auswanderung“-Angebot leichter verständlich.

Intern scheint sich die Lage der Juden mit der Wahl von Rouhani zum neuen Präsidenten wieder zu verbessern, Der mäßigt nicht nur die offizielle Rhetorik und sucht einen sachlicheren Umgangston, er hat auch pünktlich zum 4. September – das jüdische Neujahrsfest Rosh Hashanah – eine Grußbotschaft an alle iranischen Juden verschickt, Die Botschaft scheint eine erneute ausdrückliche Anerkennung der Juden als gleichberechtigte iranische Staatsbürger zu implizieren und damit ihren Status, der unter Ahmadinejad oftmals mehr als gefährdet schien, bekräftigt.

Edgar Klüsener

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