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Folklore-Label Kalan Müzik: Hasan Saltiks musikalischer Widerstand

Ein anderer Blick über die Grenzen hinweg, diesmal in die Türkei, wo Hasan Saltik 1991 das spannende Label Kalan Müzik aus der Taufe gehoben hatte. Da hatten in der Türkei gerade mal wieder die Militärs im Namen des Kemalismus die Macht übernommen hatte. Hasan Saltik war Teil des demokratischen Widerstands gegen die Militätdiktatur und machte es sich zur Aufgabe, die Kulturen und Sprachen der unterdrückten Minderheiten in der Türkei zu dokumnetieren und ihnen eine Stimme zu geben. Daran hielt er auch fest, als die Türkei sich wieder zu einer säkulären Demokratie wandelte, die in die EU strebte. Und weiter, als Erdogan dann die Demokratie von innen heraus auszuhöhlen begann und seitdem das Land weiter in Richtung nationalistisch-islamischer Diktatur drängt, die die Türkei zur alten Größe des Osmanischen Reiches zurückführen möchte. Hasan Saltik blieb auch gegen Erdogans Regime im kulturellen Widerstand. Diese Geschichte erschien zuerst am 12. April 2004 in SPIEGEL online.

Seit kurzer Zeit öffnet sich die türkische Gesellschaft für ihre ethnischen Minderheiten. Dass die Kultur der Kurden, Syrianer oder Ladinos jetzt wieder entdeckt wird, ist auch ein Verdienst des ehemaligen Widerständlers Hasan Saltik, der sich mit seiner Plattenfirma Kalan Müzik den musikalischen Artefakten Anatoliens widmet.

Ursprünglich war Hasan Saltik einfach nur auf Protest aus, auf Widerstand mit allen klingenden und singenden Mitteln. Das war in den achtziger Jahren. In der Türkei war da gerade mal wieder das Militär an der Macht, bestrebt, das säkular-nationalistische Erbe Kemal Atatürks gegen die erstarkende islamistische Reformbewegung zu verteidigen. So zumindest damals die Lesart der Generäle. Dass die Junta bei der Gelegenheit auch gleich noch beinahe ungehemmt gegen rebellische Kurden, linke Intellektuelle, aufbegehrende Arbeiter und unbotmäßige Künstler vorgehen konnte, war ein zwar nicht explizit geplanter, aber den Generälen durchaus willkommener Nebenaspekt der Diktatur.

Hasan Saltik war einer der Unbotmäßigen. Er leistete Widerstand auf seine Art und veröffentlichte linke Protestmusik. Zunächst ausschließlich türkische, dann auch kurdische und armenische. Die Veröffentlichungen seines Istanbuler Underground-Labels waren schon bald nicht nur landesweit quer durch alle Bevölkerungsschichten gefragte Äußerungen des musikalischen Widerstandes, sie begründeten auch eine Firma, die mittlerweile weltweit Kultstatus hat: Kalan Müzik.

Kalan Album: The Colours of Anatolia

Hasan Saltik erinnert sich beinahe wehmütig zurück an diese Tage:

„Wir waren immer sehr schnell. Die Zeitspanne, die die Behörden benötigten, um eine Platte zu verbieten, reichte in den meisten Fällen, um die komplette Auflage zu verkaufen, bevor die Verfügung bei uns ankam. Die Leute wussten von der bevorstehenden Veröffentlichung, warteten oft schon seit Wochen gespannt darauf, und wenn sie dann kam, stürmten sie die Läden.“

Resultat: Auflage verkauft, Hasan zufrieden. Platte rechtskräftig verboten und Weitervertrieb unterbunden, Militär zufrieden. Ärgerlich war das Spielchen natürlich trotzdem für Saltik, der in manchen Monaten mehr Tage vor Gericht als in seinem Büro verbringen musste.

Als das Militär schließlich in die Kasernen zurückkehrte und die Türkei sich erneut zu einer Demokratie wandeln ließ, gründete Saltik 1991 als Nachfolgerin des Underground-Labels die Plattenfirma Kalan Müzik und erweiterte seine Produktpalette. Schon zu Zeiten der Junta hatte er neben linker türkischer Protestmusik auch Platten in kurdischer Sprache herausgebracht – ein klarer Verstoß gegen das Jahrzehnte lang gesetzlich verankerte Grundprinzip des türkischen Nationalstaates, das die Existenz von nicht-türkischen Minderheiten in Anatolien schlicht leugnete, und deshalb auch deren Sprachen und Kulturen nicht anerkannte. Minderheiten, die sich erdreisteten auf ihrer eigenen Sprache und Kultur zu bestehen, wurden im besten Falle ignoriert, in gravierenden Fällen – wie dem der Kurden – aber auch mit allen Mitteln verfolgt.

Hasan Saltik konzentrierte sich nun zunehmend auf die Musik dieser Minderheiten – und fand sich damit prompt erneut in Opposition zum mittlerweile wieder demokratischen türkischen Staat wieder, der nur sehr zögerlich bereit war – und es immer noch ist – seine ethnischen Minderheiten als eben solche zu akzeptieren.

Auf der Suche nach den fast schon verlorenen musikalischen und kulturellen Schätzen Anatoliens leisten Saltik und seine Mitarbeiter seitdem dennoch Erstaunliches.

Wer wie Hasan Saltik weniger an Scherben und Ruinen als vielmehr an lebendiger Überlieferung verschollener Kulturen interessiert ist, muss mühselig kreuz und quer durchs Land ziehen und in die hintersten Bergdörfer einfallen. Kulturelle Archäologie könnte man das nennen, und in der Tat beobachten Universitäten in mehreren europäischen Ländern und in der Türkei sehr gespannt, was das Kalan-Label so alles zu Tage fördert. Fündig wird Saltik immer wieder, obwohl es den Minderheiten in der Türkei über Jahrzehnte hinweg nicht nur verboten war, ihre Sprache zu sprechen, sondern auch Aufzeichnungen ihrer eigenen Sprache oder Musik zu besitzen.

Die Fundstücke werden aufwändig verpackt und dann auf einen Markt geschickt, der längst weltumspannend ist. Zu CDs wie dem Doppelalbum „Süryaniler“ liefert Kalan bis zu hundertfünfzig Seiten umfassende Büchlein mit. „Süryaniler“ ist eine Sammlung von religiösen und folkloristischen Liedern der Syrianer, die auch heute noch in der an Irak und Syrien angrenzenden Bergregion der Türkei leben und dort immer wieder unter der Verfolgung durch ihre kurdischen Nachbarn leiden müssen. In mehreren Sprachen informiert das Booklet über die Geschichte der Syrianer oder Syrischen Christen – die Syrische ist eine der ältesten christlichen Kirchen -, ihre Kultur und ihre Lieder. Akribisch analysiert der Text Einflüsse in die Musik und geht dabei weit in der Zeit zurück.

Akribisch baut das Kalan-Label sein musikhistorisches Archiv weiter und weiter aus. Manches Liedgut schien schon unrettbar verloren, wie die Musik der Ladinos, der sephardischen Juden, die 1492 aus Spanien vertrieben worden waren und im Osmanischen Reich eine neue Heimat gefunden hatten. Ihre Sprache ist ein seltsam antiquiert klingendes Spanisch, wie es um die Zeit von Cervantes auf der iberischen Halbinsel gesprochen wurde, ihre Musik eine an- und aufrührende Melange aus klassischer iberischer Folklore, arabischen, türkischen und griechischen Elementen und einer Traurigkeit, die an den Fado Portugals erinnert. Auch „Yahudice“, das Ladino-Album, kommt mit dem Kalan-typischen sorgsam zusammengestellten Begleitbuch.

Mittlerweile wandelt sich das politische Klima in der Türkei erneut. Das Land nimmt Abschied vom rigorosen Nationalismus der Vergangenheit und wendet sich mit neu erwachtem Interesse der lange unterdrückten Vielfalt innerhalb der eigenen Grenzen zu. Das ist nicht zuletzt ein Verdienst von Kalan Müzik. Saltik:

„In den letzten Jahren unterstützen uns nicht nur die türkischen Massenmedien, auch Politiker und Angehörige der etablierten Gesellschaft orientieren sich neu und entdecken Anatoliens Geschichte und seine Kulturen wieder.“

In dem Maße, in dem die türkische Gesellschaft sich öffnete, wandelte sich auch der Anspruch der Plattenfirma an sich selbst. Aus der linken Untergrundklitsche wurde das etablierte Plattenlabel, das mit schöner Regelmäßigkeit musikhistorische Kleinodien ausbuddelt und zum Bewahrer der anatolischen Kulturen geworden ist. Dass diese sich nun selbst wieder entdecken, erfüllt Saltik mit besonderer Freude:

„Die ethnischen Kulturen Anatoliens mögen lange Zeit unterdrückt gewesen oder gar vom Aussterben bedroht gewesen sein, doch nun sind sie wieder sehr lebendig. Es sind vor allem junge Menschen, die neugierig auf die eigenen Wurzeln geworden sind und von sich aus die eigene Geschichte und Kultur weiter erforschen.“

So wie Kardes Türküler, eine Gruppe hoch begabter junger Musiker, die die verschiedenen Volksmusiken Anatoliens neu entdeckt und auf ihre Weise arrangiert und interpretiert. Ihnen kommt es vornehmlich darauf an, die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, zu zeigen, dass die verschiedenen Kulturen sehr viel mehr miteinander verbindet als nur der gemeinsame Lebensraum. Eher nebenbei ist die Gruppe dabei zu einem der großen Kassenmagneten Kalans geworden. Auch im Ausland.

 

Überhaupt finden die Produktionen aus dem Hause Kalan längst auch grenzüberschreitend Beachtung. Was Saltik zwar freut, ihn aber auch gelegentlich verärgert. Insbesondere immer dann, wenn seine Produktionen von westlichen Kritikern oder Händlern der Sparte „World Music“ zugeschlagen werden. Der Terminus sei Ausdruck herablassender angelsächsischer Arroganz, schimpft er dann, und bezeuge einen latenten Rassismus, der die anglo-amerikanische Popkultur gegen den Rest der Welt stelle und geflissentlich ignoriere, dass der Rest der Welt schon Kultur gehabt habe, als in Nordeuropa noch die Erdhöhle als Eigenheim diente.

Dabei outet sich Saltik bei Gelegenheit gern als waschechter Rockfan, der seit frühester Jugend auf Led Zeppelin und Pink Floyd steht. Dass Kalan Müzik trotzdem keine anatolischen Rockgruppen im aktuellen Programm hat, hat daher auch weniger mit seinen musikalischen Vorlieben als vielmehr mit seiner Einschätzung zeitgemäßer türkischer Rockmusik zu tun: „Ich habe einige Male versucht, türkische Rockgruppen zu fördern. Doch türkische Musiker sind einfach noch nicht so weit. Die überwiegende Mehrheit kopiert einfach blind englische oder amerikanische Gruppen, es fehlt die Eigenständigkeit.“

Zufrieden ist Hasan Saltik mit dem Erreichten noch lange nicht. „Die kulturelle und geschichtliche Vielfalt und Bedeutung Anatoliens ist immens, aber in Europa und Amerika kaum bekannt. Wir wollen dem Rest der Welt ein wenig davon vermitteln, was Anatolien und den Mittleren Osten kulturell ausmacht.“ Das klingt, als sei von Kalan Müzik noch viel zu erwarten.

Hasan Saltik starb am 2. Juni 2021. Mit ihm hat die Türkei einen herausragenden Kurator ihrer viefältigen – und oft unterdrückten – linguistischen, religiösen, ethnischen und kulturellen Traditionen verloren. Das Label Kalan Müzik setzt die Arbeit in seinem Sinn weiter fort.

Eine Kalan- Veröffentlichung aus dem Jahre 2020:

 

C 2004/2022 Edgar Klüsener, Erstveröffentlichung in SPIEGEL Online, 12.04.2004

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Rockmusik in Israel: Auf der Suche nach einer neuen Identität

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hatte ich den Journalismus für einige Jahre beinahe völlig  an den Nagel gehängt und stattdessen an der University of Manchester ein BA(Hons)-Studium in Contemporary Middle Eastern Studies begonnen. Beim BA sollte es nicht bleiben, es folgte der MA und schließlich der PhD. Das Interesse an populärer Musik hatte ich natürlich nicht verloren (was eh unmöglich ist, wenn man in einer Stadt wie Manchester lebt), aber das Studium schärfte den Blick für popkulturelle Entwicklungen in Regionen am Rande oder außerhalb der Grenzen westlicher kultureller, ökonomischer und kultureller Dominanz. Genauer angeschaut hatte ich mir damals Entwicklungen in Iran, der Türkei und Israel. Die erste Zeitgeschichte hat Rockmusik in Israel zum Thema. 

Maor Appelbaum ist der Sänger, Hauptkomponist und Bassist einer Rockband. Die Band heißt Sleepless, und sie ist aus Israel. Das erkläre einiges, meint Maor Appelbaum, vor allem die Intensität und Aggressivität von Sleepless. Denn Israel sei ein schnelles Land, ein Land, in dem musikalische Stile und Trends sich in rasantem Tempo verändern. Ein Land unter Druck, in dem keine Zeit sei für Beschaulichkeit und für Langeweile. In dem Interview mit einem amerikanischen Fanzine führt er weiter aus:

„Leben in Israel ist ein Leben im Hier und Jetzt, wir können nichts auf morgen verschieben. Dieses Land ist großartig für aggressive Musik, weil es unter ständigem Druck ist, umgeben von Feinden. Und manchmal sind wir selbst unsere größten Feinde.“

 

Maor Appelbaum

Rockmusik ist seit den späten Sechzigern die dominante Musikform Israels. International erfolgreicher mag schräger Pop á la Dana International sein, oder auch israelischer Goa Trance, aber Rock, und seit kurzem HipHop, sind die Musikformen, die den israelischen Alltag prägen. Was überrascht und die zionistischen Väter des Staates wahrscheinlich in ihren Gräbern rotieren lässt. Denn die hatten eine andere Musikkultur im Sinne gehabt, eine, die nicht an englischen und amerikanischen Klängen ausgerichtet, sondern ganz eindeutig und unverkennbar jüdisch, zionistisch, israelisch sein sollte. Das Problem, dass die Gründungsväter hatten, war ein Identitätsproblem. Die Bevölkerung des künftigen Staates Israel war schon vor der Staatsgründung extrem heterogen. Die Sephardim, europäische Juden, hatten mit den Ashkenazim, den ‚orientalischen‘ Juden, die aus dem Iran, aus Marokko, Tunesien und anderen Gegenden des Nahen und Mittleren Ostens nach Palästina strömten, nur wenige historische, kulturelle und sprachliche Gemeinsamkeiten. Eine umfassende kulturelle, nationale und politische Identität musste buchstäblich erfunden werden.

Rockmusik eingemeindet

Die Zionisten versuchten genau das. Sie propagierten Hebräisch als die offizielle Landessprache, und sie machten sich daran, eine Folklore-Tradition zu begründen, die unter dem Namen „Lieder des Landes Israel“ (Shirey Eretz Yisrael) bekannt werden sollte. Das Ziel war es, die Fragmente unterschiedlichster Kulturen durch eine israelische Kultur zu ersetzen, die durch eine gemeinsame Sprache, Literatur und Volksmusik definiert werden konnte. Seinen Höhepunkt erlebte dieses Unterfangen in den Dreißigern und Vierzigern des vorigen Jahrhunderts, den entscheidenden beiden Jahrzehnten vor der Staatsgründung. Die Ideologie der ‚Nation im Werden‘ schuf den Mythos einer Pionier-Jugend, die das Land der Vorväter zurückforderte. Viele der Lieder beschrieben daher in romantischer Verklärung die neuen, geheimnisvollen und mythischen Landschaften, in denen die Neueinwanderer nun lebten.

Hand in Hand mit der Schaffung einer neuen, israelischen Identität ging die bewusste Ablehnung westlicher Kultur als fremdartig und potenziell feindlich. Als dann in den späten Fünfzigern des vergangenen Jahrhunderts der Rock’n’Roll aus Amerika nach Israel überschwappte, standen die Zionisten vor einem erheblichen Problem. Rock’n’Roll war westlich, amerikanisch, global und extrem populär auch unter Israels Jugend – das genaue Gegenteil also von der eingeborenen Kultur, der israelischen Identität, die die Gründungsväter zu etablieren hofften. Das Dilemma wurde gelöst, indem Rock’n’Roll schlicht eingemeindet wurde. Rock mit hebräischen Texten musste es sein, mit Inhalten, die Bezug hatten zur israelischen, jüdischen, zionistischen Realität des Landes. Der Ansatz ist auch von anderen Ländern her bekannt, die um ihre kulturelle Identität bangten. Frankreich kämpft noch immer gegen die Windmühlen anglo-amerikanischen Popimperialismus und quotiert seine Radioprogramme entsprechend. In Israel war die Sache auch deshalb brisant, weil die ersten, die zum Rock’n’Roll konvertierten, Kids vom Rande der Gesellschaft waren, Jugendliche aus den Siedlungen und Vorstädten der Mizrahim, die sich in der von den europäischen Juden dominierten Gesellschaft zurückgesetzt fühlten. Aus ihrer Mitte kamen Bands wie Ha-shmeni ve-haraz-im oder The Goldfingers, zu deren Konzerten beachtlichen Zuschauermengen, oft zwei- oder dreitausend Fans, strömten. Diese Beatgruppen folgten weitgehend den englischen und amerikanischen Vorbildern und sangen auch in englischer Sprache. Die Etablierung von Randkulturen im neuen Staate Israel war genau das, was die zionistischen Gründungsväter möglichst vermeiden wollten. Die Folge war eine ausgedehnte Kampagne gegen die als vulgär und zwielichtig bezeichneten Elemente, deren Bindung zum nationalen Kollektiv in Frage gestellt wurde.


Israelischer Neonazi-Rock

Anders sah die Sache ein wenig später aus, als israelische Musiker begannen, Rockmusik mit hebräischen Texten zu schreiben. Musiker wie Arik Einstein, Shmulik Kraus, Shalom Hanoch oder die Band Kaveret israelisierten Rock in den Siebzigern und verankerten ihn im Mainstream des israelischen Musiklebens, aus dem er seitdem nicht mehr wegzudenken ist. Aber auch heute noch existieren verschiedene Rockkulturen mehr zwie- als einträchtig nebeneinander. Vor allem die russischen Einwanderer haben sich eine ganz eigene Rockkultur geschaffen, die eher an russischen Heavy Metal-Bands orientiert ist und sich deutlich vom Mainstream abgrenzt. Russische Einwanderer sind es auch, die Israel das nur vordergründige Paradoxon einer antisemitischen Neonazi-Rockszene beschert haben, ein Phänomen, das mittlerweile auch die Knesset (das israelische Parlament) beschäftigt hat. Seit 1975 hat Israel weit über eine Million Einwanderer aus den Staaten der früheren Sowjetunion aufgenommen, die meisten davon Juden. Doch unter ihnen eben auch 200 – 300.000 ökonomische Migranten, so die Schätzungen des Innenministeriums, die sich lediglich als Juden ausgegeben haben, und von denen eine Minderheit, obwohl Bürger Israels, antisemitisches Gedankengut offen äußert. Die musikalischen Vorbilder für die israeli-russischen Neonazis sind vor allem russische Rechtsaußen-Bands wie die dem neofaschistischen Politiker Schirinowski nahe stehenden Metal Korrosija, aber auch britische Blood & Honor-Kapellen wie Skrewdriver und neuerdings deutsche Nazikapellen.


Auf dem Weg zur Nahost-Normalität – Orphaned Land

By © Markus Felix (talk to me) – Own work, CC BY-SA 3.0, 

„Israel ist ein Land der Extreme“, sagt Kobi Farhi. Kobi ist Sänger einer Band namens Orphaned Land. Orphaned Land ist eine sehr bekannte Rockgruppe in Israel und allmählich auch in Europa, vor allem in Deutschland.

„Israel ist ein Schmelztopf der Kulturen. Diese unterschiedlichsten Kulturen, die den Staat Israel bilden, hatten in der Vergangenheit oft kaum etwas gemein. Keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Kultur. Eine echte multikulturelle Gesellschaft, so extrem wie vielleicht nirgendwo sonst in der Welt. Diese Vielseitigkeit ist spannend und kann sehr fruchtbar sein, wenn man sich ihr öffnet.“

Seine Band versucht diese Öffnung, will bewusst raus aus den Randgruppen-Nischen ebenso wie aus der Mainstream-Zwangsjacke. Sie bezieht nahöstliche Elemente in ihre Musik ein, singt in Arabisch, Hebräisch, Latein oder Englisch, mischt griechische Musik mit europäischem Heavy Metal, arabischen Melodien oder westlicher Klassik. Orphaned Land ist musikalisch ziemlich einzigartig. Außerdem überschreitet die Gruppe Grenzen, die gerade in diesen Tagen eigentlich unüberwindbar scheinen. Und das gelingt zu einem erstaunlichen Grad. Orphaned Land dürfte die einzige israelische Rockband sein, die auch eine breite Fanbasis in den arabischen Ländern hat. Zu einem Konzert, das die Band in der Türkei gab und das für das israelische Fernsehen dokumentiert wurde, kamen nicht nur Fans aus der Türkei selbst, sondern auch aus den arabischen Ländern, vor allem aus Syrien.

Überraschend? Nicht wirklich, findet Kobi. Denn Orphaned Land sei mehr als nur eine israelische Rockband. Orphaned Land, erläutert er, „…reflektiert eine übergeordnete kulturelle Identität, eine Nahost-Identität, in der sich arabische Jugendliche ebenso wiedererkennen wie junge Israelis. Der Nahe Osten ist, seit jeher ein gewaltiger Schmelztigel und Israel das Heilige Land für die drei großen monotheistischen Weltreligionen. Die Band selbst zeigt den Facettenreichtum Israels, der Region. Unsere Musiker stammen aus dem Irak, aus dem Jemen, aus Kenya…“.

Orphaned Land propagiert eine übergreifende moderne Nahost-Rock-Kultur, die Israels mühsam entstandenen kulturellen Identitäten ebenso reflektiert wie die der arabischen Nachbarn von Syrien bis Ägypten. Augenfällig wurde der besondere Stellenwert der Band im Nahen Osten während der jüngsten Auseinandersetzung zwischen Hisbollah und Israel, als sich aus den bombardierten Städten Libanons junge Orphaned Land-Fans im Bandforum meldeten und sich mit israelischen, türkischen und westlichen Besuchern über den Wahnsinn dieses Konflikts austauschten.

Inzwischen ist die Band Vorreiter geworden in einer vorerst noch zaghaften inner-israelischen Debatte um den eigenen Standort in einer Region, die endgültig auch zur kulturellen Heimat wird.

© 2006 / 2022 Edgar Klüsener/MuzikQuest
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Rocket Man Steve Bennett: Die Zukunft des Weltraumtourismus

Als ich dieses Interview für die fantastische  Zeitschrift Galore führte, war die Welt eine ganz andere. Großbritannien war noch Vollmitglied der Europäischen Union, und die Vorstellung, dass das Königreich dieser Union jemals den Rücken zukehren könnte schien ähnlich wahrscheinlich wie ein bemannter Raumflug in den Andromeda Nebel im Jahre 2022. Russland schien auf dem Weg in eine Demokratie westlichen Musters und galt gar als potenzielles Mitglied sowohl der NATO als auch der EU zu einem späteren Zeitpunkt. Trump makelte Immobilien und feuerte Bewerber in einer erfogreichen TV-Serie (The Apprentice). Die einzige Gefahr für den Weltfrieden schien Al Quaida zu sein, und Deutschland rüstete weiter ab. Derweil wollte in Manchester ein ehemaliger Soldat unbedingt ins Weltall. Mit eigener Rakete. Das allein war schon eine Geschichte wert. Seitdem hat sich einiges getan, und die rasanten Veränderungen der letzten 15 Jahre sind auch an Starchaser nicht spurlos vorübergegangen. Die Firma lebt noch, Steve Bennett bastelt  auf beiden Seiten des Atlantiks weiter an Raketen, aber Wettbewerber wie Elon Musk, Jeff Bezos oder Richard Branson haben ihn längst abgehängt. Abschreiben sollte man den Rocket Man allerdings noch lange nicht. Viel Spaß bei diesem Blick zurück in die Vergangenheit:

1.12.2006, Hyde, Cheshire. Die Zukunft der kommerziellen britischen Raumfahrt haust in einem trostlosen Industrieviertel am Rande von Greater Manchester. Wellblech-Lagerhallen, Backstein-Fabrikbauten und halb leere Parkplätze bestimmen das Bild. Aus dem Tor einer der Lagerhallen lugt die Spitze einer Rakete hervor und kennzeichnet so eindeutig das britische Hauptquartier von Starchaser Ltd., der Firma von Rocket-Man Steve Bennett. Der lädt dann in sein kaltes Büro und bietet zunächst einmal, ganz britischer Gentleman und perfekter Gastgeber, eine Tasse Tee an. Die prächtig tätowierten muskulösen Arme lassen allerdings eher auf Biker denn auf Gentleman schließen. Wie auch das schwere japanische Motorrad, das unten in der Halle zwischen Raketen-Triebwerken abgestellt ist.

Mr. Bennett, was fällt Ihnen zu Paderborn ein?
Steve Bennett
: Ein sehr religiöses Städtchen, ein paar gute Bars, ein paar annehmbare Clubs. Ich war einige Jahre in der Army und unter anderem auch in Paderborn stationiert, bevor ich dann in den Falkland-Krieg abkommandiert wurde.

Eine Raketeneinheit in Paderborn?
Steve Bennett: Nein, nein, ich hatte da den Rang eines Lance Corporals in der Ordnance Squad und war als Petroleum Operator und Labortechniker dafür verantwortlich, dass die Armee mobil blieb. Die britische Armee hatte in Deutschland ein Netz von Treibstoff-Pipelines aufgebaut, und mein Job war es, den Stoff regelmäßig zu testen und zu analysieren. In der ganzen britischen Armee gab’s damals gerade um die zwanzig solcher Petroleum-Operatoren.

Ist für die Tätowierungen ebenfalls die Armee verantwortlich?
Steve Bennett: Nicht die Armee selbst, aber ja, ich ich habe mich in dieser Zeit tätowieren lassen.

Was wollten Sie eigentlich als kleiner Junge werden? Cowboy, Feuerwehrmann oder Pirat?

Steve Bennett: Nein, es war mir schon früh klar, dass ich was mit Raketen machen wollte, mit Weltraum. Schuld waren Neil Armstrong und Gerry Anderson. Mein Interesse an Raketen, an der Weltraumfahrt im Allgemeinen, begann mit Armstrongs Landung auf dem Mond. Da muss ich um die sechs Jahre alt gewesen sein. Gerry Andersons Fernsehserie Thunderbirds besorgte dann den Rest. Wie Millionen andere britische Kinder war ich restlos fasziniert von Thunderbirds. Nur dass bei mir die Faszination dann nie wieder nachgelassen hat.

Zunächst einmal haben Sie sich allerdings bei ihrer Mutter als Feuerteufel unbeliebt gemacht. Sie musste mehr als einmal Brände im Garten löschen.

Steve Bennett: Ich war halt fasziniert von allem, was mit Feuer, Lärm und Explosionen zu tun hatte. Und als ich dann meinen ersten Chemie-Baukasten bekam, gab’s kein Halten mehr. Bald begann ich auch mit verschiedenen Raketentreibstoffen zu experimentieren. Mit Dreizehn habe ich dann schon richtige Raketen gebastelt und Treibstoff gebraut. Die Raketen waren etliche Zentimeter lang und sind bis zu 100 Meter hoch geflogen. Das war bereits richtige Raketen-Wissenschaft. Nach und nach wurden die Raketen immer größer, flogen immer höher und wurden immer teurer. Da hatte es mich endgültig gepackt. 1992 habe ich mich schließlich entschieden, das Hobby zum Beruf zu machen. Zu meiner Frau sagte ich: „Ich werde meinen Job kündigen und in Zukunft meine Arbeitszeit ausschließlich diesem Projekt widmen.“ Sie antwortete: „Aha, und was genau hast du vor? Was willst du erreichen?“ „Ich will eine Rakete bauen“, war meine Antwort, „die groß genug ist mich ins All zu tragen.“

Und sie hat nicht umgehend die Scheidung eingereicht?

Steve Bennett: Erstaunlicherweise nicht. Sie sagte nur: „Okay, wenn du meinst. Ich bin dabei.“ Meinen Job als Labortechniker habe ich dann doch nicht sofort aufgegeben, sondern noch bis 1996 beibehalten. Bereits 1995 hatte sich abgezeichnet, dass das Unternehmen allmählich Ausmaße anzunehmen begann, die einen Nebenjob nicht mehr zuließen. Bald wurde außerdem klar, dass ich alleine überfordert war. Ich konnte ein Triebwerk allein bauen, aber wenn die Rakete zusammengesetzt und transportiert werden musste, dann brauchte ich Hilfe. Und natürlich beim Start und bei Triebwerktests. Das Einmann-Unternehmen wurde zum Team.

Und sie wurden Uni-Dozent.

Steve Bennett: Richtig, eine der Universitäten von Greater Manchester, die University of Salford, hatte einen Kurs in Rocket-Science eingerichtet und groß beworben. Das Echo hatte den Chef der Fakultät für Physik dann allerdings kalt erwischt. Das Interesse an dem Kurs war so groß, dass er in leichte Panik geriet, denn es fehlte ihm an Raketenspezialisten als Dozenten. Irgendwer machte ihn in dieser Situation auf mich und meine Raketentests aufmerksam, und er rief mich an. Für mich war das Angebot ein kleines Geschenk des Himmels. Ich konnte meine Raketen aus der Garage holen und in der Universität unterbringen, bekam dort ein eigenes Büro, ein eigenes Laboratorium, konnte jederzeit auf die Hilfe von eifrigen Studenten zurückgreifen und wurde dafür auch noch bezahlt. In ein ordentliches Unternehmen, eine Limited (entspricht der deutschen GmbH), konnte ich Starchaser schließlich 1998 umwandeln. Und inzwischen haben wir auch einen amerikanischen Zweig, Starchaser US in New Mexico.

Warum ist es so schwierig, geeignete Startplätze zu finden? Sie sind ja mittlerweile mit Rakete im Gepäck um die halbe Welt gereist.

Steve Bennett: Nur die halbe Welt? Wir sind kreuz und quer über den Globus gezogen. In Großbritannien können wir keine Raketen mehr abschießen, weil hier der Luftraum zu überfüllt ist. Die Gefahr versehentlich eine Linienmaschine abzuschießen, ist da sehr real. Außerdem gibt’s in Großbritannien nicht genügend freie Fläche, um die Rakete wieder sicher runter zu bringen. Unsere Raketen sind schlicht zu groß geworden. Einer der letzten Starts war der der Nova Rakete am 22.11.2001 von Morecombe Bay aus. Das war zugleich die größte Rakete, die je von der britischen Hauptinsel aus gestartet ist. Seitdem waren wirv4vchbme unter anderem in Australien und jetzt schließlich in New Mexico. Australien hatte eigentlich perfekte Bedingungen zu bieten.

Warum sind Sie dann nicht dort geblieben?

Steve Bennett: Wir sind von Woomera aus gestartet, das ist ein riesiger Raketenbahnhof, den vorher schon die Briten, die Japaner und etliche andere Nationen genutzt hatten. Das Gelände ist wunderbar. Das Problem mit Woomera ist nur, dass das wirklich ganz weit draußen ist. Die Anreise ist ein logistischer Alptraum, so dass wir uns am Ende doch wieder nach was anderem umgesehen haben.

In New Mexico ist alles besser?

Photo by Bill Jelen on Unsplash

Steve Bennett: In vielerlei Hinsicht ja. Obwohl New Mexico der viertgrößte Staat der USA ist, ist er nur sehr dünn besiedelt. Die derzeitige Einwohnerzahl beträgt gerade mal zwei Millionen. Das Wetter ist fantastisch, 360 Sonnentage pro Jahr. Vor allem aber gibt’s in New Mexico die White Sands Missile Range, die älteste Raketenstart-Anlage der USA und Geburtstort des amerikanischen Weltraumprogrammes. Von hier aus wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die erbeuteten V2 abgeschossen. Der zivile Flugverkehr wird seit über fünfzig Jahren großräumig um White Sands herumgeleitet, und die Verkehrsanbindung ist exzellent. Ein weiterer nicht zu unterschätzender Vorteil des Areals ist seine geographische Lage, beinahe anderthalb Kilometer über dem Meeresboden. Das macht die Strecke ins All eineinhalb Kilometer kürzer. Das mag nicht nach viel klingen, aber wenn man zum Beispiel von Florida aus startet, dann muss man diese eineinhalb Kilometer durch dichte Atmosphäre erstmal überwinden – und zahlt dafür einen gehörigen Preis in zusätzlichem Treibstoff und deutlich erhöhtem Startgewicht. Und das ist immer noch nicht alles. Was am Ende ganz besonders für New Mexico spricht, ist, dass der Staat die kommerzielle Raumfahrt als schnell wachsende Zukunftsindustrie ansieht, deren wirtschaftliche Bedeutung für New Mexico enorm sein wird. Deshalb hat der Staat in Las Cruces, ganz in der Nähe von White Sands, einen großzügigen Spaceport aufgebaut und fördert gezielt die Ansiedlung von kommerziellen Raumfahrtunternehmen wie Starchaser US.

Weites, offenes Land, kaum besiedelt, garantierter Sonnenschein, wenig Verkehr auf den Free- und Highways – das klingt nicht nur nach einem Paradies für Raketenbauer, sondern auch nach einem für Motorrad-Freaks. Nehmen Sie Ihre Maschine öfter mal mit nach drüben?

Steve Bennett: Nein, die bleibt schön hier. Aber ich leihe mir gelegentlich das Motorrad eines Freundes aus und fahre dann einfach drauflos. Allerdings machen mir amerikanische Autofahrer Angst.

Warum das?

Steve Bennett: Die haben die unangenehme Eigenschaft, mit ihren Pickup-Trucks so dicht aufzufahren, dass sie einen fast berühren. Und auch beim Überholen achten sie nur selten auf Abstand.

Weltraumtourismus sei ein gigantischer Wachstumsmarkt, sagen Sie. Auf diesem Markt konkurriert Steve Bennett, der frühere Labor-Techniker und jetzige Uni-Dozent mit seiner kleinen Firma Starchaser nicht nur mit den Dinosauriern NASA oder ESA, sondern auch mit milliardenschweren Geschäftsleuten wie Richard Branson, dem Microsoft-Mitgründer Paul Allen oder John Carmack, dem Vater der Spiele Doom und Quake. Ist das Rennen da nicht von vornherein verloren?

Steve Bennett: Richard Branson mag noch so laut verkünden, dass Virgin Galactic groß ins Weltraumtourismusgeschäft einsteigen wird, es ändert nichts daran, dass er im Moment nicht einmal eine Rakete hat. Allerdings verhandelt seine Firma wohl mit Scaled Composite, deren SpaceShipOne den mit zehn Millionen Dollar dotierten Anahri X Prize gewonnen hat. Bransons baldiger Einstieg ins Weltraum-Geschäft ist also noch durchaus möglich; und wenn er einsteigt, dann hat er sicherlich ausreichend Ressourcen, um das Geschäft auf Dauer zu dominieren. Andere reden nur und haben gar nichts. Im Moment wird viel geredet, aber nur wenige sind tatsächlich schon so weit. Der amerikanische Konstrukteur Burt Rutan und sein Team gehören sicherlich zu den letzteren. Er gibt aber eine Menge Geld aus. Es sieht so aus, als kreiere er ein Sportauto, wo eigentlich ein Volkswagen gebraucht wird. Auch Carmack und Paul Allen machen gute Fortschritte. Der Rest, nun ja, man wird sehen. Was mich wirklich stört, sind diese Firmen, die schon jetzt großspurig auftreten und Trips in den All verkaufen, als sei das seit Jahren ihr tägliches Brot. Diese Firmen beschreiben ihre Pläne und Aktivitäten in der Gegenwartsform: Wir fliegen dreimal täglich in die Stratosphäre, unsere Raketen haben die und die Schubkraft, wir transportieren pro Tag sechs Touristen… und so fort. Wenn man dann mal genauer hinschaut, stellt man fest, dass diese Firmen nicht einmal eine Rakete, geschweige denn einen Startplatz oder eine Raumkapsel haben.

Wo steht Starchaser denn zur Zeit?

Steve Bennett: Starchaser ist ein anderer Fall. Wir verfolgen eine Strategie der beharrlichen kleinen Schritte. Jede Entwicklung wird zunächst ausgiebig getestet, bevor wir mit der nächsten Stufe weiter machen. Unsere Arbeit ist daher grundsolide, und an Erfahrung und technischer Kompetenz sind wir den meisten anderen Unternehmen inzwischen überlegen.

Und finanziell?

Steve Bennett: Wir hatten nie einen potenten Geldgeber im Rücken und mussten daher von Anfang an mit jedem Pfennig rechnen. Wir haben schon sehr früh ein Geschäftsmodell entwickelt, das uns Einnahmen sichert. In den vergangenen Jahren hat Starchaser rund drei bis vier Millionen Pfund ( 4,5 – 6 Millionen Euro) eingenommen. Ein großer Teil dieser Gelder wurde von Sponsoren zur Verfügung gestellt, andere Einnahmequellen sind unser Merchandise, der Club und vor allem das Outreach-Programm. Voraussichtlich noch in diesem Jahr wird Starchaser außerdem an die Börse gehen. Der Hauptgeschäftszweig wird in Zukunft jedoch der Raum-Tourismus sein. Da tut sich ein gigantischer Markt auf.

Wenn Sie mit einer Rakete im Schlepptau durch enge Innenstadt-Straßen kurven und Verkehrschaos verursachen, ist das Teil des Outreach-Programms oder schlichte Lust am Aufruhr?

Steve Bennett: Das ist Teil des Outreach-Programms. Wir gehen mit den Raketen in Schulen. Wir zeigen den Schülern, was es mit Raketen und dem Weltraum auf sich hat und bauen mit ihnen in Workshops Raketen und starten diese auch. Das Ziel ist es, in den Schülern Interesse an Physik, Raketentechnologie und an Weltraumforschung zu wecken. Bisher beschränkt sich das Schulprogramm auf die britischen Inseln, aber wir würden es gern ausdehnen, auch nach Deutschland. Bei der Gelegenheit käme ich dann vielleicht auch mal wieder nach Paderborn. Eine andere Outreach-Aktivität ist unsere enge Kooperation mit dem Spaceport in Liverpool. Aber unser wichtigstes Betätigungsfeld ist für die Zukunft eindeutig der Weltraumtourismus.

Was ist eigentlich Ihre Definition von Weltraum-Tourismus?

Steve Bennett: Das ist eine interessante Frage. Es gibt sicherlich mehrere Aktivitäten und Angebote, auf die der Begriff Weltraumtourismus zutrifft. Irdischer Weltraumtourismus, okay, das ist eigentlich ein Widerspruch in sich selbst, wäre zum Beispiel der Besuch von Space Parks wie dem Spaceport in Liverpool oder dem Kennedy Space Park. Millionen von Menschen machen von diesen Angeboten bereits Gebrauch; sie buchen Touren, kaufen Merchandise und lassen sich das Vergnügen locker 100 Dollar pro Kopf kosten. Dann gibt’s Space Rides, in denen man für einige Sekunden nahezu schwerelos ist. Manche Achterbahnen bieten diesen Effekt, aber auch andere, oft speziell für diesen Zweck designete Amüsierpark-Maschinerie. Die nächste Stufe sind Flüge, in deren Verlauf man für einige Sekunden Schwerelosigkeit verspüren kann. Oder jene Astronauten-Pakete, in denen man die typischen Phasen des Astronauten-Trainings mitmachen kann. Schließlich erschwingliche Raketenflüge in eine Höhe von 100 km und darüber, die Starchaser anbieten wird. Wir bringen unsere Passagiere sicher rauf und wieder runter, das ist das kurzfristige Ziel. Ganz oben in der Liste, und nur für sehr wenige erschwinglich, finden sich dann Flüge in die Umlaufbahn und Ausflüge zur Internationalen Raumstation, die im Moment nur die Russen im Programm haben und die rund 20 Millionen Dollar pro Person kosten. Das sind die Gegenwart und die nahe Zukunft des Weltraumtourismus. Wie immer man Weltraumtourismus am Ende auch definiert, er findet bereits statt, und der Markt wächst rasant. In unserem Segment gehören wir derzeit zu den Firmen, die ganz vorne mitspielen.

Was war Ihrer Meinung nach der größte Fehler, den die Regierung des konservativen Premiers Edward Heath gemacht hat?

Steve Bennett: Die Einstellung des britischen Raumfahrtprogrammes im Jahre 1971. Seitdem ist Großbritannien nur noch Zuschauer und beteiligt sich höchstens mal an einzelnen Projekten der Europäischen Raumfahrtagentur ESA. Im Vergleich zu anderen EU-Staaten wie Frankreich, Deutschland oder Italien, die massiv in Weltraumforschung und Weltraumtechnologie investieren, gerät Großbritannien dadurch langfristig auch technologisch ins Hintertreffen. Wenn man sieht, welch gewaltige Anstrengungen Amerika, Russland, China, Japan oder Indien in der Weltraumforschung unternehmen, dann wird diese britische Zurückhaltung noch weniger verständlich.

Fördert der britische Staat denn wenigstens private Raumfahrtunternehmen wie das Ihre?

Steve Bennett: Von der britischen Regierung kommt gar nichts. In Amerika sieht die Sache anders aus. Starchaser US wird vom Staate New Mexico sehr gut unterstützt. Das ist übrigens auch etwas, was wir mit unserem Outreach-Programm zu erreichen hoffen: Manche von den Schülern, die durch das Programm für Raketentechnik und Weltraumforschung begeistert werden, werden vielleicht irgendwann in ihrem späteren Leben Politiker oder Beamte, die über die Verteilung von Geldern für Forschungsvorhaben zu entscheiden haben.
Hat das Privatunternehmen Starchaser Verbindungen, egal welcher Art, zu staatlichen und überstaatlichen Organisationen wie der ESA oder der NASA?
Steve Bennett: Oh ja. ESA zum Beispiel hat uns offiziell als Dientsleister und als Forschungspartner anerkannt. Mit NASA sieht die Sache ähnlich aus. Da Starchaser US eine amerikanische Firma ist, haben wir Zugang zu vielen NASA-Services und zu technischen Unterlagen, die nicht-amerikanischen Firmen verwehrt bleiben. Und auch mit den Russen arbeiten wir punktuell zusammen.

Welchen der Väter der Raumfahrt würden Sie als Ihr Idol ansehen?

Steve Bennett: Idol ist vielleicht ein zu großes Wort. Aber einigen von denen fühle ich mich sicherlich geistesverwandt. So wie Robert Goddard aus Massachusetts. Vor allem aber Wernher von Braun, der unzweifelhaft einer meiner Helden ist. Wenn ich deren Biographien lese, dann ist mir oft, als lese ich über mich selbst. Ich kann nachfühlen und verstehen, was sie angetrieben hat, ihre Gedankenwelt, Vorstellungen und Träume. Unsere eigene Arbeit beruht zudem ganz erheblich auf den Werken von Goddard und von Wernher von Braun. Wir erfinden schließlich nicht das Rad neu.

Wernher von Braun ist allerdings auch ein Beispiel dafür, was passieren kann, wenn sich Wissenschaftler und Visionäre in Verfolgung ihrer Träume an ein unmenschliches Regime verkaufen. Zigtausende von Sklavenarbeitern sind bei der Konstruktion seiner Raketen umgekommen. Würden Sie Ihre Dienste dem Militär zur Verfügung stellen, wenn das britische Verteidigungsministerium auf Sie zukäme?

Steve Bennett: Ich war Soldat, habe also kein Problem mit dem Militär. Aber bisher ist es zu keiner Zusammenarbeit gekommen, und das Militär hat auch kein Interesse an einer solchen angedeutet.

Was fasziniert Sie bis heute so an Raketen und am Weltraum?

Steve Bennett: Der Weltraum ist das große Unbekannte. Auf der Erde haben wir so ziemlich alles erforscht, die höchsten Berge, die tiefsten Seen, die Pole und die Wüsten. Ich liebe es, Unbekanntes zu erforschen, Pionier zu sein. Ich will hinaus ins All, auf den Mond, den Mars, ich will mit eigenen Augen sehen, was da ist.

Sie sind nicht zufällig auch ein Star Trek-Fan?

Steve Bennett: Absolut! Nicht nur, weil Star Trek ein einziger, endloser Forschungs-Trip ist, sondern auch, weil Star Trek so viele technische Neuerungen, die uns heute selbstverständlich erscheinen, schon vor zehn, zwanzig Jahren vorweg genommen hat. Schauen Sie sich nur mal mein Mobiltelefon an. Das Design ist fast identisch mit dem der Enterprise-Kommunikatoren. Ich klappe es auf, und es ist bereit. Es ist weit mehr, als nur ein Telefon. Ich kann damit Berechnungen durchführen, kann Daten und Adressen speichern, Ton aufzeichnen und fotografieren. Ich kann mich direkt mit einem Computer oder dem Internet verbinden. Und das alles mit einem vergleichsweise winzigen Gerät. Noch vor fünfzehn Jahren wäre das wüsteste Science Fiction gewesen.

Nur der schnelle Flug in andere Sternsysteme oder gar Galaxien wird wohl auf immer Science Fiction bleiben. Schneller als das Licht geht nun mal nicht.

Steve Bennett: Wer sagt denn das? Okay, die Lichtgeschwindigkeit ist die Obergrenze. Aber es gibt verschiedene Wege von A nach B. Wenn man das Universum mit einem Blatt Papier oder einer Membran vergleicht, dann ist der Weg von A nach B endlos lang, wenn man immer schön auf der Oberfläche bleibt. Wenn man aber das Blatt Papier so faltet, dass A und B direkt übereinanderliegen und dann eine Nadel durchsticht, dann ist der Weg von A nach B kaum der Rede wert. Auf diesem Prinzip der Raumfaltung basiert der Warp-Antrieb der Enterprise. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir eines Tages eine Technologie entwickeln, die uns Ähnliches erlaubt.

Der Wissenschaftler Stephen Hawking hat vor einigen Tagen gesagt, dass wir dringlichst damit beginnen müssten, Kolonien im Weltraum zu errichten. Andernfalls sei das Überleben der Menschheit ernsthaft gefährdet. Er muss Ihnen aus der Seele gesprochen haben.

Steve Bennett: Hat er in der Tat. Ich bin ebenfalls der Überzeugung, dass die Zukunft der Menschheit im Weltall liegt. Die Gefahr, dass wir uns hier auf der Erde selbst auslöschen, ist sehr real. Dazu braucht’s nicht einmal einen Krieg. Es ist vielmehr eine Frage der Ressourcen und wie wir mit ihnen umgehen. Hier auf der Erde gehen sie unwiderruflich zur Neige. Ersetzen können wir manche nur noch von außerhalb, durch die Erschließung und Ausbeutung anderer Planeten.

Apropos Ressourcen: Starchaser pflanzt jedes Jahr hundert Bäume, um den Schaden wiedergutzumachen, den die Firma an der Umwelt anrichtet. Ist das nicht ein bisschen bigott?

Steve Bennett: Nicht wirklich. Der eigentliche Schaden wird von unseren Bodenfahrzeugen angerichtet, dem Sattelschlepper und den PKWs. Raketentreibstoff hingegen ist erstaunlich sauber. Wir arbeiten mit Zweikomponenten-Flüssigtreibstoffen, der wichtigste Bestandteil ist Hydrogen, der andere Kerosin. Der Schadstoffaustoß ist minimal. Unsere Raketen sind weit umweltfreundlicher als Flugzeuge oder PKWs.

Wollen Sie selbst noch zu anderen Planeten fliegen? Und zu welchen?

Steve Bennett: Ich will unbedingt zu anderen Planeten reisen! Ich möchte zum Mond und zum Mars. Mein Wunschziel jedoch ist der Jupitermond Europa. Er scheint der erdähnlichste Planet in unserem Sonnensystem zu sein. Viele Anzeichen sprechen sogar dafür, dass seine Oberfläche von Wasser bedeckt ist, auf dem eine dicke Treibeisschicht schwimmt. Ein hochinteressanter Planet also!

Kann ich meine Nachos gefahrlos in Rocket Fuel tauchen?

Steve Bennett: Sicher. Sie sollten aber ein Glas Wasser in Reichweite haben, denn das Zeug ist höllisch scharf. Hergestellt wird die Chili-Sauce in unserem amerikanischen Standort Las Cruces, und zwar ausschließlich aus natürlichen Zutaten. Als wir die Sauce zum ersten Mal in einem örtlichen Lokal probiert hatte, keuchte einer der Techniker nach einem längeren Hustenanfall: „Mein Gott, das Zeug ist Rocket Fuel.“ Womit es dann seinen Namen weghatte, unter dem es seitdem über unseren Merchandise Shop vertrieben wird.

Waren Sie eigentlich jemals in der Area 51?

Steve Bennett: Nein, aber in Roswell, das gleich um die Ecke von Las Cruces ist.

Aha, irgendwelche interessanten außerirdischen Technologien dort gefunden?

Steve Bennett: Nein, da muss jemand schneller gewesen sein.

Eine letzte Frage noch: „Born To Be Wild“ von Steppenwolf ist weltweit zur Bikerhymne geworden. Welcher Song hat ihrer Meinung nach das Zeug zur Raketenmann-Hymne?

Steve Bennett: Da gibt’s zwei Kandidaten. Erstens die Titelmelodie der von Gerry Anderson kreierten Fernsehserie Fireball XL 5. Und zweitens „Rocket Man“ von Elton John.

© 2007/2022 Edgar Klüsener
Erstveröffentlichung: Februar 2007, Galore

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Aktuell Musik Zeitgeschichten

Foo Fighters, King’s College, 3. Juni 1995: Das europäische Debüt

Titelbild: By Jo – originally posted to Flickr as Foo Fighters Live 21, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3911891

Gerüchte hatte es bereits seit längerem gegeben, dass Dave Grohl eine neue Band gegründet hatte. Seit kurzem stand auch der Name fest: Foo Fighters. Am 3. Juni 1995 dann spielte die Band ihr europäisches Debütkonzert im Londoner King’s College vor einem neugierigen und erwartungsfrohen Publikum. Ich war damals Chefredakteur einer kurzlebigen Musikzeitschrift namens CORE und von der Plattenfirma mit einer Reihe anderer Musikjournalisten zum Konzert eingeflogen worden. Das vorweggenommene Fazit des Konzertberichts: Von dieser Band wird man noch einiges hören. Wie wahr……

Das Auditorium im Londoner King’s College ist nur per Fahrstuhl zu erreichen. Durch ein kleines Labyrinth von Gängen führt der Weg in den zweigeschossigen Saal, an dessen Stirnwand eine kleine Bühne aufgebaut ist, vollgepackt mit Verstärkern, einem Schlagzeug, Mikrofonen und Monitorboxen. Der Bühne genau gegenüber windet sich eine Treppe hinauf zur Balustrade, in deren hinteren Bereichen zwei Bars, auf jeder Raumseite eine, aufgebaut sind. Warmes Bier gibt’s da, aber auch besser gekühltes nichtalkoholisches Gesöff. Zu Studentenpreisen, versteht sich, schließlich befinden wir uns in einem College, irgendwo in London. Durch die breiten Fensterfronten fällt der Blick auf die Themse, deren Wasser von behäbigen Frachtkähnen durchpflügt wird. Rund 800 junge Männer und Frauen füllen den Raum auf beiden Ebenen aus und harren der Dinge, die der Abend noch bringen soll. Die Foo Fighters stehen auf dem Programm, eine Band aus den USA. Mehr weiß kaum jemand. Die Band hat noch keine Platte veröffentlicht, ihre Songs sind noch nicht im Radio gespielt worden, Videos gibt’s eben sowenig. Trotzdem ist die gespannte Erwartung fast körperlich fühlbar. Denn die Foo Fighters, und das weiß jeder, der an diesem Frühjahresabend den Weg ins College-Auditorium gefunden hat, mögen zwar totale Newcomer sein, hinter dem Namen jedoch verbirgt sich ein Drittel von Nirvana. Foo Fighters ist die Band von Dave Grohl, dem Schlagzeuger jener Band aus Seattle, die erst die Charts im Handstreich genommen hatte und dann zur traurigen Legende wurde, weil Sänger und Gitarrist Kurt Cobain sich mit einem gezielten Schuss das Hirn aus dem Schädel geblasen hatte.

Photo aus einem Video-Interview entnommen, das ich mit Nirvana 1994 in Seattle geführt hatte.

Das heißt, eigentlich sind bei den Foo Fighters zwei Viertel von Nirvana präsent. Denn auch Pat Smear, jener Gitarrist, den das Trio für seine letzte Welttournee in die Band geholt hatte, ist mit von der Partie. Doch im Vordergrund steht eindeutig Dave Grohl. Das Licht geht aus, die Spannung steigt noch einmal erheblich. Vier Musiker betreten die Bühne von der Seite her, greifen ihre Instrumente oder nehmen hinter diesen Platz. Und die erste große Überraschung ist fällig. Denn der, der sich hinter dem Schlagzeug niederlässt, ist NICHT Dave Grohl. Der steht vielmehr in der Mitte am Bühnenrand, fasst mit einer Hand das Mikrofon, während die andere lässig den Hals einer elektrischen Gitarre hält. Der Schlagzeuger hat sich zum Gitarristen gewandelt. Na, wenn das mal gut geht! Rechts neben ihm hat sich mit der zweiten Gitarre Pat Smear aufgebaut, am linken Bühnenrand tänzelt nervös Basser Nate Mendel auf und ab. Und hinter seinem Ensemble aus Trommeln und Becken reckt sich ein letztes Mal vor dem ersten Einsatz ein gewisser William Goldsmith.
,,Hi, wir sind die Foo Fighters“, stellt Dave Grohl sich und seine Mitstreiter kurz vor und drischt dann auch schon auf seine Gitarre ein. ,This Is A Call‘ heißt der erste Song, der gleich für drei weitere Überraschungen gut ist. Die erste: Dave Grohl geht mit den sechs Saiten ebenso gut, wenn nicht gar besser um wie in früheren Tagen mit den Trommelstücken. Die zweite: er singt selbst. Und zwar verdammt gut. Drittens: die Musik erinnert stark an Nirvana. Was einige Fragen aufwirft. Zum Beispiel die: Könnte es sein, dass Dave Grohl weit maßgeblicher am Songwriting seiner ex-Band beteiligt gewesen sein, als es nach außen hin den Anschein hatte? Die folgenden Titel ,I’ll Stick Around‘ und ,Big Me‘ verstärken diesen Verdacht nur. Ebenso andere Tracks, die die Band an diesem Abend runterzockt, Songs wie ,Watershed‘, Exhausted‘ oder ,Alone And Easy Target‘. Die Antwort darauf wird Dave Grohl hoffentlich irgendwann selbst geben. Zurzeit allerdings verweigert er sich noch standhaft allen Versuchen, mit ihm ins Gespräch zu kommen. ,,Keine Interviews“, lautet die kategorische Absage auf alle entsprechenden Anfragen. Die Begründung liefert er gleich nach:

,,Foo Fighters ist eine brandneue Band. Über uns gibt’s derzeit noch nichts zu sagen. Worüber sollen wir also in Interviews mit den Journalisten reden?“

Und meint damit wohl:

,,Egal, mit wem ich im Moment auch sprechen würde, das Gespräch würde mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit schon nach wenigen Minuten auf Kurt Cobain und Nirvana kommen. Beides aber hat mit dem, was ich jetzt mache, herzlich wenig zu tun.“

Hinzu kommt noch, dass er schon in früheren Tagen Interviews in der Regel herzlich wenig abgewinnen konnte. Das Reden hatte er nahezu immer Kurt Cobain und Krist Novoselic überlassen, sich selbst auf wenige kurze Statements beschränkt. Eins davon, vielleicht das wichtigste, war:

,,Ich mag diesen übersteigerten Medienrummel nicht. Die Medien tendieren dazu, Personen zu Karikaturen zu verzerren und schaffen so ein Bild von Musikern, das am Ende kaum noch etwas mit den Menschen und noch weniger mit deren Musik zu tun hat.“

Auf der Bühne stellt Dave Grohl unter Beweis, dass er das Zeug zu einem herausragenden Frontmann hat. Er sucht und findet den direkten Draht zum Publikum, ist ständig in Bewegung, malträtiert die Gitarre, stöhnt und schreit ins Mikro. Doch wie gut der Mann als Sänger tatsächlich ist, zeigt sich erst bei jenen Songs, die von seltsam melancholischen Harmonien geprägt sind. Er interpretiert sie auf eine Art, die direkt unter die Haut geht. Der Mann hat Charisma, keine Frage. Und die Band steht ihm in nichts nach, zieht in jeder Phase voll mit, ist tight und kommt auf den Punkt. Die Foo Fighters strahlen eine eigentümliche Mischung aus ungestümer Energie, Aggressivität und Melancholie aus, bestechen jedoch vor allem durch ihre ungebärdige Spielfreude und eine mitreißende Performance, an der nichts gekünstelt oder gar einstudiert wirkt. Insgesamt zwölf Lieder spielt die Band, Lieder, die eine breite stilistische Palette abdecken. Die Bandbreite reicht von rohem Neopunk über schräge und leicht psychedelisch anmutende Klangcollagen bis hin zu eindringlichen kleinen Songs, die vage in einer amerikanischen Folkrock-Tradition stehen, wie sie von Musikern wie Neil Young geprägt wurde.

Das Ende des Konzertes kommt viel zu früh. Als das Saallicht angeht, bleibt als stärkster Eindruck, dass hier eine Band aufgespielt hat, die einen eindeutig eigenen und unverwechselbaren Charakter hat. Und die Erkenntnis, dass Dave Grohl in der Vergangenheit wohl schwer unterschätzt worden ist. Denn der Mann ist nicht nur ein guter Drummer, sondern mehr noch ein überzeugender Gitarrist, Sänger und Performer. Außerdem, die vielleicht größte Überraschung, ein enorm talentierter und versierter Songschreiber. Was nahezu zwangsläufig die Frage nach seinem tatsächlichen Einfluss auf die Musik von Nirvana aufwirft. Eins ist an diesem Abend auf jeden Fall klargeworden: Von den Foo Fighters werden wir noch einiges zu hören bekommen. An dieser Band wird wohl kaum ein Weg vorbeiführen.

C 1995/2002 Edgar Klüsener

Die komplette Setlist 3. Juni 1995, King’s College, London.

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Aktuell Musik Rezensionen Zeitgeschichten

Freiheit wird zur Einsamkeit: Weißer Schnee, Schwarze Nacht

Diese kleine Auseinandersetzung mit dem Text des Liedes ‚Weißer Schnee, Schwarze Nacht‘ der Band Ihre Kinder erschien in dem 2011 von Erik Waechtler und Simon Burke herausgegebenen Band ‚Lyrix: Lies Mein Lied – 33 1/3 Wahrheiten über deutschsprachige Songtexte‘. Im Westen Deutschlands waren Ihre Kinder die Pioniere deutschsprachiger Rockmusik, die unter anderen Udo Lindenberg dazu inspirierten, es ebenfalls mal mit der bis dahin arg diskreditierten Muttersprache zu versuchen. 

Der silberne Löffel kocht für sie ab; der Gürtel schnürt ihr die Vene ab; sie drückt die Nadel tief in ihr Blut; dann schießt sie ab und versinkt in der Glut“.

Mit dieser trockenen, teilnahmslosen Beschreibung des kurzen Wegs zum flüchtigen Frieden mit der Welt hatte die Gruppe Ihre Kinder 1972 einen Song in deutscher Sprache über Drogenkonsum geschrieben. Die Nürnberger waren die erste westdeutsche Rockband, die konsequent auf deutsche Texte setzte. Sie schrieben poetische Lieder, eine Art psychedelischer deutscher Beatlyrik, konnten aber auch sehr eindeutig und präzise sein, wenn sie politische Themen aufgriffen. Musikalisch deckten sie eine enorme Bandbreite ab, das Spektrum reichte von akustischem Folk über satten Blues und orientalisch angehauchten Psycho-Pop bis hin zu hammerhartem Rock. Deutsch war da als Rockidiom noch weitestgehend diskreditiert, die Sprache seicht-rosafarbener Schlagerromantik. Englisch hingegen war cool, die Sprache neuer Freiheiten und Träume. Deutsch war nicht nur vorbelastet, es schien nach 1945 auch extrem provinziell. Und so radebrechten in deutschen Jugendzentren und Vorortkneipen hunderte von hoffnungsvollen Nachwuchsrockern englische Lyrics, die weder sie noch ihr Publikum so recht verstanden. Dass die westdeutsche Musikindustrie ähnlich fühlte und dachte, dass ihr allein schon bei der Vorstellung grauste, Rockmusik könne auch mit deutschen Texten funktionieren, belegt die Geschichte der Nürnberger.

Das erste Album der Band wurde von deutschen Plattenfirmen zunächst mal als viel zu unkommerziell abgelehnt. Rockmusik, das war die vorherrschende Meinung in der Tonträgerbranche, konnten Engländer und Amerikaner viel besser. Und dann noch deutsche Texte? Wozu gab’s schließlich englisch?

Am Ende bewies dann doch eine Plattenfirma Mut: Philips brachte das Album heraus, allerdings so halbherzig, dass es beinahe sang- und klanglos unterging. Immerhin, Hermann Zentgraf, der zuständige A&R-Mann bei Philips brachte die Gruppe anschließend bei dem Münchener Independent-Label Kuckuck unter und ebnete ihr damit den weiteren Weg im Wirtschaftswunderland.

Ihr drittes Album trug als Titel schlicht die Seriennummer, war in ein Jeanscover verpackt und die Originalausgabe erzielt heute unter Sammlern Höchstpreise. Es war zugleich das stärkste Album der aus heutiger Sicht Bestbesetzung der Band. Bei Ihre Kinder herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Nur Gitarrist, Sänger und Komponist Ernst Schultz, der Schlagzeuger Muck Groh und der Sänger Sonny Hennig konnten als Kernbesetzung gelten. Das Jeansalbum bescherte dem Kuckuck-Label seinen ersten Hit und war zugleich das wütendste und bissigste Album der Nürnberger. Auf ihm findet sich auch die Ballade „Weißer Schnee, schwarze Nacht“.

Ihr viertes Album „Werdohl“, benannt nach einer grauen Industriestadt in den idyllischen Tälern des Sauerlandes, sollte auch schon das letzte sein.

Nach „Werdohl“ wurde es ruhig um Ihre Kinder. Aber ihr Vorbild hatte bereits Schule gemacht. Udo Lindenberg, der sich ausdrücklich auf die Nürnberger als Vorbilder beruft, war der erste, der Rock mit deutschen Texten endgültig etablierte, viele weitere sollten folgen.

„Weißer Schnee, schwarze Nacht“ war ein Novum: ein deutscher Rocksong über Drogengebrauch, der weder sensationslüstern überzeichnend war noch Drogen als Mittel zur Bewusstseinserweiterung und als bewussten Protest gegen die als kalt und autoritär empfundenen Strukturen des frühen Nachkriegsdeutschland verherrlichte. Ebensowenig bediente der Song die längst auch in Deutschlands Gegen- und Jugendkultur verbreiteten und anerkannten stereotypischen Klischees des „Sex&Drugs&Rock’n’Roll“-Lebensstiles.

Ihre Kinder

Die sechziger und frühen siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren im Westen Deutschlands das Jahrzehnt, in dem politisches Engagement sinnlich wurde, in dem der Aufstand gegen die Welt der Väter und deren düsteres Erbe auch ein Aufstand gegen eine Realität wurde, die als kalt, bedrückend und erschreckend eindimensional empfunden wurde. Die Auseinandersetzung fand in den Straßen ebenso statt wie in den Köpfen, und sie wurde mit vollem Körpereinsatz geführt; Sinnlichkeit und Erotik wurden ebenso zu Waffen der Auseinandersetzung wie Haschisch, LSD und Heroin.

„Turn on, tune in, drop out“ (Schalte ein, stimme dich ein, steig aus), hatte der amerikanische Psychologie-Professor und LSD-Prophet Timothy Leary Mitte der sechziger postuliert und LSD zur Allzweckwaffe in der Befreiung des Bewusstseins erklärt. Die amerikanische Hippiebewegung hatte den Slogan mit wachsender Begeisterung aufgenommen. Die Vermengung aus entstehender globaler Popkultur anglo-amerikanischer Prägung mit wachsendem politischen Unwohlsein einer ganzen Generation war explosiv. Eine ganze Generation wechselte, so schien es, auf die Überholspur. Live fast, die young (Lebe schnell, stirb jung) war ein anderer Slogan, den vor allem Rockmusiker ernst zu nehmen schienen.

Ian Dury fasste das Credo schließlich kurz und knapp zusammen:Sex and drugs and rock and roll ; Is all my brain and body need ; Sex and drugs and rock and roll ; Are very good indeed“ (Sex und Drogen und Rock’n’Roll ; Ist alles was mein Gehirn und mein Körper brauchen ; Sex und Drogen und Rock’n’Roll ; sind in der Tat sehr gut)“.

Sex, Drogen, Rock’n’Roll – das stand für ein Leben im Ausnahmezustand, für grenzenlose Freiheit, neue Erfahrungen, für Lust und Exzess. Ein Leben am Abgrund, in den man durchaus stürzen konnte – was den Spaß am Risiko eher noch erhöhte.

Ihre Kinder waren eine Rockband, und damit waren Drogen beinahe zwangsläufig Teil auch ihres Lebensumfeldes. Sie wussten genau, worüber sie schrieben. Der Song richtete sich an ein Publikum, das ebenfalls verstand.

Die eingangs beschriebene Prozedur ist jedem Junkie bestens vertraut und schnell in Fleisch und Blut übergegangen. Das Abkochen des Heroins, häufig vermischt mit ein bisschen Zitronensäure, im Löffel, das Aufziehen der wässrigen Lösung in die Spritze, das Abschnüren der Blutzufuhr knapp über dem Ellenbogen mit einem Ledergürtel, das Suchen nach einem Stück heiler, noch nicht verhärteter Vene, der Einstich, der Abdruck, der kurze, heiße Kick wenn die Droge an den Rezeptoren andockt, und dann die wohlige Taubheit gegenüber der Welt, das Abschalten für einige Momente.

1968 waren Junkies immer noch ein relativ seltenes Phänomen in Westdeutschland, zumeist nur in den ganz großen Städten zu finden. Die veröffentlichte Meinung reagierte ebenso sensationsgeil wie hysterisch auf die langsam aber stetig steigende Zahl von Heroinsüchtigen; absurde Horrorstories dominierten die Schlagzeilen, sachliche Berichterstattung fand kaum statt. Stattdessen wurden von Haschisch über LSD bis zu Heroin alle Drogen über einen Kamm geschoren und gleichermaßen verteufelt. In „Weißer Schnee, schwarze Nacht“ ist davon nichts zu finden. Nüchterne Vertrautheit mit dem Subjekt zieht sich durch den ganzen Text. In den ersten Zeilen des Liedes wird zunächst die Szene gesetzt:

Die Wände sind grau und das Zimmer ist kahl; Der Boden ist feucht und das Licht eine Qual, ein Mädchen braucht keine Liebe mehr, ohne Schnee ist ihr Leben leer.

Ein Mädchen hat sich für den Schnee, damals ein weit geläufigeres Synonym für Heroin als heute, entschieden, und Schnee ist längst der Mittelpunkt ihres Lebens. Die Kargheit des Raumes, der Mangel selbst an einfachem Komfort versinnbildlicht die Tragweite der Entscheidung. Und eine solche, eine freiwillig getroffene, war es irgendwann mal. Nun ist der Schnee alles, was sie noch hat. Die Freiheit, die die sie gesucht haben mag, den Ausweg aus einem Leben, das wenig versprechend erschien, der Durst nach Abenteuer – all das spielt keine Rolle mehr. Sie mag es nicht wahrhaben wollen, immer noch an ein Spiel glauben, aber alles was zählt, ist am Ende nur noch der Schnee. Er gibt ihr alles. Doch sie zahlt einen Preis dafür. Und der Preis wird benannt:

Freiheit wird zur Einsamkeit; Sie glaubt nicht was kommt und sie glaubt nicht was war; Sie stirbt ihr Leben, bevor sie es überhaupt sah“.

Warum wird das namenlose Mädchen zum Junkie? Warum der Griff zur Droge? Der Text stellt diese Frage nicht, beantwortet sie aber. Die Suche nach Freiheit ist ein Grund. Die Lust aufs Experiment, auf die spielerische Erforschung der Grenzen dieser Freiheit ein anderer. „Das ist Leben für sie,“ heißt es, und weiter: „Doch sie glaubt an ein Spiel.“ Keine Rede von den sozialen Gründen, die in die Drogenabhängigkeit führen können, von der Armut und Ausweglosigkeit, die das Leben sozialer Randgruppen in modernen Großstädten bestimmt, für die die Droge ein Teil des beklemmenden Alltags im Abseits ist. Stattdessen der Verweis auf den anfangs spielerischen Umgang mit dem Schnee, auf die angenommene Funktion der Droge als Mittel und Weg zu Freiheit und Ekstase. Und die bittere Schlussfolgerung, dass was als unbefangenes Spiel mit dem Feuer begann, am Ende in schwarzer Nacht endete. Spätestens hier wird der Text zur Parabel auf die drogenbefeuerte Protest-, Pop-, Hippie- und Rock’n’Roll-Kultur der Sechziger und frühen Siebziger Jahre.

„Weißer Schnee, Schwarze Nacht“ ist von daher auch ein Abgesang auf die Träume und Ideale einer Jugendbewegung, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ihre Unschuld und Naivität endgültig verloren hatte. Die Erkenntnis, dass tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen nicht auf die Schnelle zu haben sind und dass das Erschließen neuer Bewusstseinszustände und alternativer Realitäten auch als ganz banale Flucht in eine eher noch düsterere Wirklichkeit münden kann, mochte sich zwar 1972 längst noch nicht in nennenswerter Weise durchgesetzt haben, Ihre Kinder gaben sich aber schon da skeptisch. Die Freiheit, eine sehr egozentrische Auffassung von Freiheit, die die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse, Sehnsüchte und Wünsche über alles stellt, wird da zur Einsamkeit der Einzelkämpfer, der Verlorenen. Die enttäuschten Träume und Ideale münden in eine desillusionierte Resignation, in der kein Platz mehr ist für Glaube, Begeisterung oder Hoffnung. Die Party mag noch weiter gehen, am Ende aber winkt ein prächtiger Kater.

„Weißer Schnee, schwarze Nacht“ ist ein merkwürdiger Song. Er propagiert nicht, noch verurteilt er; der so typisch deutsche erhobene Zeigefinger bleibt in entspannter Ruhestellung. Er beschreibt eine freie Wahl und ihre Folgen, die Ernüchterung, die noch jedem Rausch folgt. Zugleich hinterfragt er, ohne zu werten, ideologische und kulturelle Ideen-Konstrukte, die Drogen als Mittel zur Selbstbefreiung, zur Förderung oder gar Entfesselung der Kreativität anpreisen.

Als die Band das Lied 1972 erstmals veröffentlichte, schien die kleine Akustik-Ballade mit ihren nüchternen Beschreibungen und dem melancholischen Unterton seltsam zeitfern, zollte so gar nicht dem Zeitgeist Tribut. Gerade diese skeptische Distanz jedoch ist es, die „Weißer Schnee, Schwarze Nacht“ auch 39 Jahre später in einer in vielerlei Beziehungen radikal veränderten Welt noch anrührend und authentisch klingen lässt.

 

 

Erstabdruck: 2011, Copyright 2011/2022 Edgar Klüsener

Klüsener, E. (2011). Freiheit wird zur Einsamkeit. In E. Waechtler & S. Bunke, eds. Lyrix: lies mein Lied: 33 1/3 Wahrheiten über deutschsprachige Songtexte. Freiburg: Orange Press, pp. 91–96.

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Aktuell Reportagen Zeitgeschichten

Metallica: Geschichten, die die Straße schreibt

Eine kleine Sammlung von Tourgeschichten aus den früheren Jahren Metallicas, die mir Lars Ulrich irgendwann 1989 erzählt hatte. Im Mittelpunkt stand fast immer Bassist Cliff Burton, der 1986 bei einem tragischen Busunfall in Schweden ums Leben gekommen war. Nicht gerade Spinal Tap, aber nah genug dran und in der Rückschau interessant zu lesen. Die Tourstories erschienen erstmals in der deutschen Ausgabe des Metal Hammer im Herbst 1989 und dann auch in den jeweiligen Landessprachen im Metal Hammer UK, Frankreich, Griechenland, Spanien, Ungarn und im holländischen Ardschok/Metal Hammer. In der historischen Rückschau ist vor allem die Episode in Corpus Christi interessant, die Metallica im Zentrum einer ‚Moral Panic‘ zeigt, der zeitgleich auch eine Reihe anderer Künstler in den USA zum Opfer fielen. 

Ein Mega-Act auf Tour? Kein Problem, alles bestens durchorganisiert. Eine ganze Heerschar professioneller Mitarbeiter kümmert sich um jedes Detail, und sei es auch noch so winzig, arrangiert Transport, Hotels, Interviews, die Gigs, die Promotion, stets bemüht, jedes Risiko, dass etwas schiefgehen könnte, von vornherein auszuschalten. Eine Welttour durchzuführen, erfodert absolute Generalstabsarbeit, auch bei Metallica, dem Underground schon längst entwachsener Superact der späten 80er. Mit Rock´n Roll im eigentlichen Sinn hat eine solch perfekt vorbereitete Worldtour kaum noch etwas zu tun, da gleicht die Geschichte schon eher einer minutiös geplanten Geschäftsreise für Topmanager eines Weltkonzerns. Italien? Okay, wir spielen die und die Dates, da und dort laufen Interviews, und den Rest der Zeit habt ihr frei zwecks Erforschung von Land und Leuten— oder Venedigs weltberühmten Kanälen. Was soll denn da noch großartig schiefgehen? Spinal Tap gehört längst der Vergangenheit an, von „Ride The Lightning“ trennt „And Justice for All“ Welten.

Aber Metallica war nicht immer der Topact unserer Tage, auch Lars Ulrich und Kollegen mussten wie jede neue Rockband  durch die harte Schule der Straße. Und aus jener Zeit gibt´s einiges zu erzählen, Geschichten, die purer Rock ’n’ Roll sind, Geschichten, wie sie so nur die Straße schreiben kann. Die Palette reicht von Katastrophen bis hin zu kaum glaublichen Ereignissen, die, jedes für sich, durchaus Stoff für abendfüllende tragischkomische Filme bieten könnten. Die ganz große Katastrophe, die Metallica „on the road“ ereilte, jener Unfall in Skandinavien, der Cliff Burton das Leben kostete, an dieser Stelle wieder aufzuwärmen, wäre mehr als geschmacklos, obgleich sie sehr wohl DAS entscheidende Eckdatum in der Karriere Metallicas darstellt. Beschränken wir uns also lieber auf andere kleine und große Desaster, denen immer gemeinsam ist, dass ihnen auch ein Hauch von Komik innewohnt, und begeben uns direkt an die Grenze zwischen den USA und Kanada.

Vergessen im Niemandsland…

Pic: Wikipedia Commons

Ein Reisebus nähert sich der amerikanisch-kanadischen Grenze, fährt langsam an den Kontrollpunkt heran und stoppt schließlich. Drinnen ein Haufen langhaariger Jungs, Instrumentenkoffer, jede Menge Bierdosen – offensichtlich eine von diesen Rockbands auf Tour, eine Rockband allerdings, deren Namen den Grenzpolizisten beider Nationen zu jener Zeit noch herzlich wenig sagen dürfte. „Wohin des Weges, warum und wozu? Und irgendwas zu verzollen dabei? Drogen, Waffen? Und die Pässe bitte.“

Die Abfertigung nimmt einige Zeit in Anspruch. Niemand achtet sonderlich auf den jungen Mann, der aus dem Bus aussteigt und sich anschickt, sich etwas die Beine zu vertreten. Schnell gelangt er aus dem Blickfeld der Zöllner wie der eigenen Reisegesellschaft. Schließlich ist die Abfertigung beendet, die Musiker und ihr Tross versammeln sich wieder im Inneren des Nightliners und die Grenzbeamten kehren zurück in die warmen Wachstuben, zurück zu ihren Spielkarten oder was immer sonst sie zu ihrem Zeitvertreib zu unternehmen pflegten. Der Fahrer lässt den schweren Diesel an, langsam setzt sich der Bus in Bewegung, die Fahrt geht weiter, hin zum nächsten Konzert, weit hinein ins Landesinnere. Drei Stunden ohne Pause, immer weiter, vier Stunden und dann:  „Wo zum Teufel ist eigentlich Cliff???“ 

Cliff???!!!“ 

Hey Mann, der ist gar nicht im Bus!!!“ “Oh Shit! Wann ist der denn ausgestiegen, wir haben doch zwischendurch nirgendwo Halt gemacht. Habt Ihr schon mal auf dem Klo nachgesehen?“
Nee, da isser auch nich!“ „Scheiße! Wir müssen ihn an der Grenze vergessen haben!!!“

Und tatsächlich, während der Rest der Band munter in Richtung Konzert weiterreiste, war Cliff Burton an der Grenze zurückgeblieben, zum Erstaunen der Grenzer, die sich plötzlich mit einem einsam und verlassen wirkenden jungen Mann konfrontiert sahen, der da unversehens aus den Büschen auftauchte und verwundert nachfragte, wo denn seine Kollegen abgeblieben seien.
Lars Ulrich erinnert sich später noch gern an diese Tourepisode, vergisst aber nicht hinzuzufügen: „Dass sowas überhaupt passieren konnte, war ganz klar auch auf ein schlechtes Tourmanagement zurückzuführen. Zu Zeiten der „RTL“-Tour haben wir noch mit ausgesprochenen Amateuren zusammenarbeiten müssen. Heute könnte sowas schlicht nicht mehr vorkommen.“

No Remorse in Corpus Christi…

Okay Mann, wir wollen Dein gottverdammtes Geld, alles, verstehst Du ?!” Erschrocken und verwirrt musterte der Mann die beiden jungen Kerle, beide sicherlich nicht älter als 17 oder 18, die da so unversehens vor ihm aufgetaucht waren. „Mein Geld, no way, Mann. Sucht Euch doch ´n anderen, den ihr ausnehmen könnt.“ Nervös und offensichtlich bis zum äußersten angespannt stand das Duo vor ihm, tänzelte unruhig von einem Bein auf das andere. Dann begann einer der Jungs zu singen, mit monotoner Stimme, eine abgehackte Melodie und immer wieder die eine Zeile. No remorse… konnte der Mann so gerade verstehen, und immer wieder No remorse…

Plötzlich brach der Gesang ab und der Junge zog eine Pistole aus der Jackentasche, ein hässliches Ding und extrem gefährlich wirkend. „so Du willst nicht? Dann weißt Du, was Dich erwartet.“ Und er begann den kompletten Text des Metallica-Songs „No Remorse“ zu rezitieren. Schlagartig kam dem Mann das ganze lebensgefährliche Ausmaß seiner Situation zu Bewusstsein. Diese Kids, auch das erkannte er, waren heillos verrückt, total durchgeknallt, reden oder gar argumentieren konnte man mit denen sicherlich nicht mehr. Angst um sein Leben stieg in ihm auf, tiefe und unüberwindbare Furcht. „No Remorse, Mann“ schrie der Junge und legte die entsicherte Pistole auf ihn an.
Der Mann ließ sich in den Straßendreck fallen, brach zusammen, rutschte auf den Knien umher und flehte um sein Leben. „Nehmt alles, was ich habe, aber lasst mich am Leben ..“
No Remorse, keine Gnade, auch nicht für Dich!“, war die Antwort und mit einer ruckartigen Bewegung hob der Junge die Pistole an, zielte direkt in das Gesicht des Mannes und drückte ab… 
Nur wenig später wurden die beiden gefasst und vor ein Gericht in Corpus Christi gestellt. Während der eine zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, stand für den Todesschützen der Ausgang des Prozesses von vornherein fest. Als das Todesurteil schließlich verkündet wurde, stand er langsam auf, drehte sich zum Publikum hin, musterte für einen langen Augenblick die Anwesenden, darunter viele Journalisten aus allen Teilen Texas´, und begann dann zu singen „No Remorse..“

 

Der Fall machte Schlagzeilen in ganz Texas.

Eine kleine Weile später am Airport von Corpus Christi, Texas. Die Maschine mit Metallica an Bord war gerade gelandet und die Band drängte sich durch in Richtung Ankunftshalle. Alle waren in bester Stimmung, die „RDL“-Tour hatte sich bisher als voller Erfolg erwiesen, der Stern der Band war unaufhaltsam im Steigen begriffen, auch in den USA. Trotzdem war der Medienaufmarsch im Flughafen mehr als erstaunlich, einen solchen Empfang hatte die Band noch nirgendwo sonst erlebt. Fernsehkameras surrten und schoben sich neugierig an die einzelnen Musiker heran, ein wahres Blitzlichtgewitter brach über sie und ihren Tross herein und von allen Seiten wurden sie mit Fragen bombardiert.

Was zur Hölle ist hier los?????“

Lars Ulrich Jahre später dazu: “Wir hatten ja überhaupt keine Ahnung von dem , was kurz zuvor in Corpus Christi geschehen war. Der ganze Medienrummel hat uns förmlich überrollt.“
Während Metallica noch rätselten, was eigentlich los war, waren sie bereits zu DER Newsstory des Tages geworden. „Metallica are in town!“ verkündete das Fernsehen, das Radio und die Tagespresse. Ein Sturm der Empörung fegte durch Corpus Christi. „Diese Verbrecher, die unschuldige Kinder dazu verführen, Menschen umzubringen, sollten sofort der Stadt verweisen werden“, war noch die harmloseste Forderung der kochenden Volksseele. Andere forderten gar die Köpfe der Musiker, die erst durch einen Anruf vom Management überhaupt erfuhren, was hinter dem Rummel steckte.

James, als Autor der Lyrics von „No Remorse“ musste in einem langen Fernsehinterview Stellung beziehen zu den Lyrics und zu den Vorwürfen, dass erst der Song überhaupt den Teenager dazu gebracht habe, mit der Waffe in der Hand loszuziehen und Unschuldige umzubringen. Metallica waren auf einmal Monster, deren Konzert in Corpus Christi wegen der verderblichen Wirkung auf die Kids der Stadt mit allen Mitteln verhindert werden musste. Es kam zu Protestaktionen vor der Halle, Aufmärschen aufgebrachter Bürger vor dem Hotel und Drohbriefen und –anrufen. Der Fall machte Schlagzeilen in den gesamten Vereinigten Staaten. Das Konzert fand trotzdem statt…

Der Tag, an dem der Blizzard kam…

pic: Edgar Klüsener 1998

Buffalo im Staate New York, nahe an der kanadischen Grenze. Wir schreiben den Januar 1985. Ein verheerender Schneesturm fegt über Land und Stadt, unterbricht Strom- und Telefonleitungen, bedeckt Straßen meterhoch mit Schnee, knickt Bäume wie Streichhölzer und schneidet Buffalo von der Außenwelt ab. In den Straßen der Stadt nicht das geringste Anzeichen von Leben, nichts und niemand rührt sich. Vor einem der besten Hotels des Ortes stehst, halb eingeschneit, ein komfortabler Reisebus. Im Inneren des Hotels die Band und die mitgereiste Crew.

„Wann gibt´s denn hier verdammt noch mal was zu essen??? Hey, Ober, ist nicht bald Lunchtime?!“

„Es tut mir sehr leid, Sir, aber die Küche ist geschlossen, es gibt nichts!!!“

„Oh Shit, aber wir hängen doch mindestens einen Tag hier fest, bevor wir weiterfahren können. Sollen wir etwa die ganze Zeit hungern??? Ihr habt doch mit Sicherheit irgendwo Nahrungsmittel für das Personal gebunkert oder etwa nicht?“

„Haben wir schon, aber da kommt gerade mal das Personal mit zurecht. Sorry, Sir…“

Die Situation beginnt allmählich leicht tragische Aspekte zu bekommen. Da sitzt der gesamte Metallica-Tourtross in einem Hotel fest, zusammen mit einigen Bediensteten des Hauses, und es sind kaum Nahrungsmittel vorhanden. Die Stadt ist vollständig von der Außenwelt abgeschlossen, die Dauer des Zwangsaufenthaltes somit noch mehr als ungewiss, Nachschub ist nicht zu erwarten und die Hotelangestellten sind vorerst nicht bereit, ihre Vorräte zu teilen. Auch der Wink mit der Dollarnote hilft nicht viel weiter. Und draußen ist immer noch alles grau in grau, fegt der Sturm durch die Straßen und wirbelt dichte Wolken pulvrigen Schnees vor sich her. Gottseidank funktioniert wenigstens die Heizung noch. Die erste Nacht bricht herein und das Verhältnis zwischen Hotelbediensteten und hungernden Zwangsgästen wird zunehmend gespannter.

„Nun gut, wenigstens haben wir Zigaretten und Alkohol im Bus, damit werden wir den Magen schon für ne Zeit ruhig halten können.“
Also wird ein Roadie hinaus in das Unwetter geschickt, mit dem Auftrag, Alkoholika und Rauchwaren aller Art aus dem Bus zu holen. So kann, während draußen die Straßen in geisterhaft schmutzig-graues Licht getaucht werden, in der Geborgenheit des Hotels zumindest ein kleines Besäufnis gestartet werden, misstrauisch beäugt von einem Kellner des Room-Service, der schließlich selbst auch Durst bekommt und zudem noch feststellen muss, dass ihm die Zigaretten ausgegangen sind. Beides, Alkohol und Zigaretten, ist im Hotel nicht zu bekommen, die Bar ist unwiderruflich abgeschlossen, der Schlüssel unterwegs mit dem Barmann, dem das Unwetter alle Zugangswege zur Stadt und zum Hotel gnadenlos versperrt hat. Jetzt ein Bier…

„Entschuldigung Sir, könnte ich vielleicht einen Schluck abhaben.. und vielleicht auch noch ne Zigarette???“

Die Chance wird sofort erkannt und konsequent genutzt.

„Aber klar doch, Mann, allerdings hätten wir da ne kleine Vorbedingung. Du schleppst was zu essen ran. Alles klar?!“

Der Deal funktioniert zur beiderseitigen Zufriedenheit, zumal sich ihm auch andere durstige Angestellte bald anschließen. Zurück zur Tauschwirtschaft heißt die Devise, Bier gegen Brot und Tabak gegen Tortellini. Insgesamt drei Tage lang währt die Isolation in Buffalo, bis endlich die ersten Schneepflüge von außen den Kontakt zur Welt wieder herstellen, bis wieder Strom da ist und neue Lebensmittel geliefert werden können. Und bis es weitergehen kann zum nächsten Konzert.

Alle reden vom Wetter… wir auch!

Wir befinden uns auf der „Master Of Puppets“-Tour, irgendwo in Amerika. Rund zweitausend Fans tummeln sich vor der städtischen Halle, in der in dieser Nacht Metallica aufspielen sollen. Innen ist die große Bühne bereits aufgebaut worden, Helfer stehen gelangweilt herum und harren der Dinge, die schon längst hätten geschehen sollen. Schließlich fährt der Bus vor, sucht seinen Weg zum abgesperrten Backstage-Areal und parkt genau vor dem Bühneneingang. Heraus springen Metallica, sehen aufmerksam in die Runde und fragen dann erstaunt den örtlichen Promoter, der sie draußen empfängt: „Wo ist denn der Truck mit dem Equipment?“

„Tja, das fragen wir uns auch. Ich dachte, Ihr wüsstet das.“

„No way, man, keine Ahnung, ham die sich denn noch nicht gemeldet? Die hätten doch schon vor gut fünf Stunden hier sein sollen.“

„Nee, kein Anruf, nix. Aber kommt erstmal rein, Jungs.“

Die Halle macht einen imposanten Eindruck. Ein großer Innenraum, leer, eine riesige Bühne, leer… Und draußen vor der Halle beginnen die Kids zu skandieren. „Metallica, Metallica…“

Der Bus ist entdeckt worden, die Ankunft der Band eine rasend schnell verbreitete Nachricht. Alles drängt nun zum Ticket-Schalter. Die Band ist da, es wird also bald losgehen. doch der Schalter bleibt geschlossen.

„Hey, wir haben Nachrichten vom Truck. Die sind in einem Unwetter steckengeblieben, hundert Meilen von hier. Die können frühestens in fünf Stunden hier sein.“

„Schick sie weiter zum nächsten Auftrittsort!“

„WE WANT METALLICA…“ Die Kids werden allmählich unruhig.

„Hört mal Jungs, wollt Ihr nicht doch noch spielen? Ein oder zwei kleine Verstärker und ´n lüttes Drumkit können wir schon noch besorgen!“

Ein Blick von der Bühne in den riesigen Innenraum, auf die leeren Ränge, eine erste Vorstellung von der Akustik in der Halle, von Echo, Hall und Soundbrei.

„Vergiss es, Mann, so geht das nicht! Wir holen das Konzert späger irgendwann mal nach.”

„WE WANT METALLICA…“ Zweitausend Kids vor der Halle… Die Tickets behielten ihre Gültigkeit bis zum nächsten Metallica-Gig in dieser Stadt, Wochen später.

Hasch und Machinenpistolen, ein deutsches Trauma…

„Niemand verlässt den Bus, bleiben Sie bitte auf ihren Plätzen!“

Schauplatz: deutsch-niederländische Grenze. Die „Ride The Lightening“-Tour führt Metallica hinein ins Staatsgebiet der damaligen BRD. Schwerbewaffnete Bundesgrenzschutzbeamte mit umgehängten Maschinenpistolen und begleitet von Schäferhunden, letztere abgerichtet auf das Erschnüffeln von Betäubungsmitteln aller Art, entern den Nightliner. Während die Hunde ihre Nasen in alles und jeden hineinstecken, kontrollieren die Grenzer Pässe und Gepäck. Im oberen Stockwerk des Busses liegt derweil Cliff Burton im Halbschlaf und wundert sich über die merkwürdige Geräuschkulisse, die von unten herauf dringt. Schließlich wird es ihm zu bunt, bei diesem Lärm kann wirklich niemand mehr in Ruhe schlafen. Also erhebt er sich von seiner Liege und wirft einen Blick hinunter, genau auf einen Drogenhund, der sich auf die Treppe zu seinem Domizil zubewegt.

„Ach du große Scheiße!“

Cliff hat einen kleinen Klumpen Haschisch dabei, besten schwarzen Afghanen, ein bis zwei Gramm oder so. „Was tun??? Runterschlucken??? Iss wohl das beste…“
Als der Hund, gefolgt vom Lauf einer Maschinenpistole und dem dazugehörigen Grenzschützer bei Cliff anlangt, kaut dieser immer noch an dem trockenen Bissen und schluckt krampfhaft die letzten Brösel hinunter.

„Ihren Pass bitte.“

Der Hund schnuppert misstrauisch an Cliff herum, ist sich jedoch über den wahrgenommenen Geruch offensichtlich selbst nicht sicher und verliert schließlich das Interesse.

„Vielen Dank, gute Weiterfahrt..“

Langsam setzt der Bus sich wieder in Bewegung, an Bord ein Cliff Burton, dem es nach einiger Zeit immer komischer wird. Etliche 90 Minuten später ist der gute Mann so stoned wie nur selten zuvor in seinem Leben, als der schwarze Afghan seine Wirkung voll entfaltet. Der nächste Tag ist ein freier, und Cliff ist immer noch breit bis zum Anschlag. die Band findet´s lustig, albert herum mit Cliff, nimmt ihn hoch und amüsiert sich königlich über den verwirrten, zugeknallten Kollegen. Was soll´s schon, an diesem Tag ist eh kein Konzert. Das Konzert ist am nächsten Tag… Cliff ist immer noch stoned von seiner unfreiwilligen Cannabis-Mahlzeit. Die Band findet´s nicht mehr ganz so komisch, zumal Cliff abends auf der Bühne leichte Probleme hat, mit sich, der Musik und seiner Umwelt klarzukommen, geschweige denn, sich auf den Beinen zu halten. Erst am dritten Tag wurde Cliff allmählich wieder nüchtern und die Tour konnte problemlos weitergehen. Problemlos? Nun, irgendwas ging bei Metallica fast immer schief,aber das sind schon wieder ganz andere Geschichten, die wir vielleicht irgendwann später einmal erzählen werden…

Erstveröffentlichung / first published: Metal Hammer Germany 1989

C 1989/2022 Edgar Klüsener

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Frieden ist mehr als nur ein Wort: Music Against War

Kann Musik die Welt retten? Kann ein simples Lied den Unterschied machen zwischen Krieg und Frieden? Welche Rolle kann Musik spielen in einem Europa, das nach historisch beinahe beispiellosen 77 Friedensjahren plötzlich entsetzt feststellen muss, dass die Bestie Krieg auch in seinen Grenzen jederzeit wieder die blutigen Fänge zeigen kann. Noch ist er auf die vom britischen Historiker Timothy Snyder so treffend benannten ‚Bloodlands‘ konzentriert, die blutgetränkten Felder und Städte der Ukraine, die im vergangenen Jahrhundert bereits zweimal von deutschen und russischen Heeren gebrandschatzt, verwüstet und ausgeblutet worden sind. Doch wie jeder Krieg, hat auch dieser seine eigenen Gesetze, und wie noch jeder europäische Krieg der Vergangenheit, wird dieser ebenfalls das Antlitz des Kontinents dauerhaft verändern. Entziehen können wird sich ihm und seinen Folgen auf Dauer niemand. Hier nicht, in unseren Nachbarländern nicht, nirgendwo in Europa und darüber hinaus.

Was also kann Musik hier ausrichten? Kann sie die Herzen und Seelen ansprechen, in einer Welt am Rande eines weiteren Abgrundes? Kann sie die Geschicke der Menschen ändern oder zumindest erleichtern?

Ein klares Nein zu alledem“, wird der Zyniker nun mit sardonischem Lächeln antworten, „was für eine lächerliche und naive Vorstellung.“ Der selbsternannte Realist wird mit ernster Miene beipflichtend nicken.

Obwohl Musik die oft bewiesene Macht besitzt, Gefühle wie Trauer, Freunde, Lust oder Wut zu wecken und zu verstärken, kann ein einfacher Song wohl tatsächlich keinen Schutz bieten gegen kaltherzigen Massenmord, gegen Raketen, Panzer und Bomben, noch kann er etwas ausrichten gegen das blinde Wüten machthungriger Diktatoren und deren Lust auf Zerstörung.

Dennoch kann Musik, so ist nun einmal die Natur des Menschen, eine Rolle spielen, vor allem in Zeiten von bitteren Konflikten, in den Alptraum-Szenarien, die bestimmt sind von tödlichen Feindschaften, ungleicher Machtverteilung, ideologischer Raserei und scheinbar unüberwindbaren Gräben zwischen Menschen und Nationen.

Am Ende war es ein Lied, dass Soldaten des Zweiten Weltkriegs über alle Schlachtfelder, Frontlinien und Schützengräben hinweg anrührte, das sie ansprach und das sie zu lieben lernten. Die bitter-süße Ballade „Lili Marleen’ über einen Soldaten, der fernab der Heimat von seiner Liebsten träumt, wie sie einst unter der Laterne vor der Kaserne auf ihn wartete, wurde zuerst vom deutschen Soldatensender Belgrad ausgestrahlt und avancierte bald zum weltkriegsweiten Hit über alle Sprach- und sonstigen Grenzen hinweg. Die Atmosphäre des Songs, das grundlegende Sentiment sprach die Soldaten unmittelbar an. Es brachte eine Saite tief in ihrem Inneren zum Klingen, berührte ihre Menschlichkeit und schlug so Brücken zwischen Männern, und es waren fast ausschließlich Männer, die einander feindlich gegenüberstanden, gefangen im blutigen Alptraum mechanisierter und industrialisierter Massenschlächterei des Weltkrieges.

Dieser Krieg sollte der letzte gewesen sein auf europäischem Boden, darin waren sich die Nationen und ihre Führer nach 1945 weitestgehend einig. 77 Jahre hielt dieser, in Zeiten des Kalten Krieges oft brüchige, Konsensus. Doch nun wütet wieder ein bewaffneter Konflikt im Herzen Europas, der die Geister der grausigen Vergangenheit erneut heraufbeschwört. Lange hatten sich Europäer komfortabel in einem Zustand eingerichtet, der vielen wie ein ewig währender, unerschütterlicher Frieden erschien. Doch dieser Frieden war nie mehr als eine Illusion, eine traumgleiche Wirklichkeit, die in dieser Form nirgendwo sonst in einer Welt geteilt wurde, in der Blutvergießen und bewaffnete Konflikte nach wie vor zum Alltag gehörten und gehören. Viel zu schnell haben Europäer zudem vergessen, dass vor zweieinhalb Jahrzehnten auch auf dem Balkan ein zwar kurzer, trotzdem sehr blutiger Krieg getobt hatte. Ebenso wie schnell wieder vergessen wurde, wie selbstverständlich – und beinahe unwidersprochen – Russland der Ukraine 2014 die Krim entrissen hatte.

Mitten im Frieden haben wir uns zu sehr an die Geschichten und Bilder von Gewalt, Verwüstungen und unermesslichem menschlichen Leid gewöhnt, die uns per TV, Internet und Sozialen Medien frei Haus auf die großen und kleinen Bildschirme geliefert wurden und die mit einer kurzen Fingerbewegung weggewischt werden können. Wir haben die Bilder und Nachrichten aus Afghanistan, dem Jemen, Syrien oder Libyen zur Kenntnis genommen, irgendwie, aber dann beinahe sofort wieder vergessen. Der blutige Konflikt in der Ukraine hat unsere Wahrnehmung verändert. Er findet unangenehm nahe statt, quasi direkt vor unserer Haustür. Das unerträgliche Leid, dass wir nun täglich sehen, ist nicht mehr das irgendwelcher Menschen irgendwo anders auf dem Planeten, sondern das unserer europäischen Nachbarn. Für viele ist der Krieg in der eigenen Familie angekommen. Wir sind direkt betroffen, auch weil die Lebensmittelpreise steigen, der Benzinpreis und die Heizkosten. Vor allem aber, weil wir mit hineingezogen werden in diesen Konflikt, jeden Tag ein Stückchen weiter. Dennoch, wie lange wird es dauern, bis wir selbst von diesen Bildern genug haben und uns einmal mehr in den Zustand angenehmer Betäubung zurückziehen werden? Soll die Welt doch machen, was sie will, was geht mich das an?

Musik kann Brücken schlagen. Lili Marleen ist ein Beispiel dafür. Das außerordentliche Werk der israelischen Band Orphaned Land mag als ein anderes dienen. Die Gruppe ist unter israelischen und palästinensischen Jugendlichen gleichermaßen populär und versucht ganz bewusst mit ihrer Musik, aber auch in Wort und Tat, die Gegensätze zwischen beiden zu überwinden und wirbt für Verständnis und Anerkennung.

 

Musik kann machtvolle Verbindungen zwischen Menschen aller Rassen, Religionen, Nationen und Überzeugungen knüpfen. Sie kann Träume erschaffen und für sie werben, sie kann Gefühle wecken und Hoffnung wie Verzweiflung eine Stimme geben. Das Bedürfnis nach Frieden und Freiheit, nach grundsätzlicher Menschenwürde, ist es, was uns über alle kulturelle, religiöse, ethnische oder linguistische Barrieren hinweg miteinander verbindet.

Hier kommt Music Against War ins Spiel, eine globale Initiative, die darauf abzielt, so viele Menschen in so vielen Sprachen wie möglich zu erreichen, um so Gräben zuzuschütten und die Einheit in Träumen und Wünschen zu fördern.

Freedom“ ist der Titel des Liedes, das der italienische lyrische Tenor Allessandro Rinella auf Englisch aufgenommen hat, und er wird bei dieser Aufnahme von Sängern aus allen Teilen der Welt begleitet, die in ihrer jeweiligen Muttersprache singen, auf Griechisch, Arabisch, Hebräisch, Russisch, Ukrainisch, Deutsch und viele andere. Die Botschaft ist klar: Lasst uns Einheit, Frieden und Freiheit in einem kraftvollen Statement feiern, welches das Chaos in Frage stellt, in das die Welt hinabgleitet.

 

Titlebild: Photo by Darius Soodmand on Unsplash

 

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