Für die Scorpions waren die Siebziger Jahre die Dekade, in der sich der Kern der Band endgültig fand, in der sie sich rasant von einer Amateurcombo in einen internationalen Act wandelte. Über ihren Weg in den frühen Siebzigern ist dennoch relativ wenig bekannt. Grund genug, diese Jahre einmal etwas eingehender unter die Lupe zu nehmen.
Mit Michael Schenker an der Leadgitarre und Klaus Meine als Sänger hatte die Band Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger eine ganz erhebliche Qualität gewonnen. Hinzu kam ein riesiges Repertoire von Rock-Standards, zunehmend spezialisiert auf harten Rock á la Led Zeppelin, Deep Purple oder Black Sabbath, sowie erstes eigenes Material. In der Amateur- und Semiprofiszene konnten sich die Scorpions bundesweit einen mehr als beachtlichen Stellenwert erspielen und galten unter Veranstaltern generell als sicherer Tip für gutbesuchte Häuser. Dennoch war die finanzielle Situation der Band ständig bis zum äußersten angespannt, wie Klaus sich erinnert:
»Ich war damals noch ein sehr starker Raucher. Irgendwann passierte es mal, dass ich keine Zigaretten mehr hatte, dafür aber einen tierischen Schmacht. Ich wollte also drei Mark aus der Bandkasse nehmen, um irgendwo Zigaretten kaufen zu können. Rudolf, der die Kasse machte, gab mir keinen Pfennig, weil wir die letzten paar Märker dringend brauchten, um nochmal Benzin nachzutanken. Sonst hätten wir’s nicht mehr nach Hannover zurück geschafft. Jeder Pfennig, den wir verdienten, floss direkt wieder in die Band. Wir finanzierten davon die Reisen zu den Konzerten und die Erweiterung der Anlage. Für alles andere war kein Geld da!«
Der deutsche Regisseur Schlesinger drehte in jener Zeit einen Anti-Drogen-Film mit dem Titel Das Kalte Paradies (Jahre später auch im ZDF ausgestrahlt). Zu diesem Film suchte er noch die passende Musik. Er trat an die Band heran mit der Bitte, den Soundtrack für den Film zu schreiben. Sie spielten ihm drei Songs vor und entschlossen sich dann, diese in einem richtigen Studio nochmal neu aufzunehmen. Nur welches sollte das sein? Der Hannoveraner Musikerkollege Frank Bornemann empfahl das Hamburger Star-Studio von Conny Plank, der sich gerade einen Namen als Produzent von Kraftwerk gemacht hatte. Plank hörte sich die Demos, war interessiert und lud sie zu Aufnahmen in sein Studio ein. Gleichzeitig bot er den Scorpions einen Produktionsvertrag an, der ohne großes Hin und Her angenommen worden.»Hört zu, Jungs, ich mache eine Platte mit Euch,» teilte er der Gruppe mit und fuhr fort: »Im Oktober fangen wir an!»
Lonesome Crow
Bis Oktober war nicht mehr lang hin, folglich zogen die Scorpions sofort zurück in den Proberaum und übten wie die Verrückten ihr Material ein. Die Filmmusik wurde abgeliefert und angenommen. Inzwischen brachte Conny Plank die Band beim gerade neu gegründeten Brain-Label der Hamburger Plattenfirma Metronome unter. Eine LP wollte die Metronome garantiert veröffentlichen, Optionen auf drei weitere hielt sie sich offen. Und dann war auch schon Oktober, Conny Planck war bereit. Sechs Tage lang wurde aufgenommen, ein Tag abgemischt, fertig war Lonesome Crow, das Premierenalbum der Hannoveraner, das schließlich im Februar 1972 auf den Markt kam. Das Cover hatte die Band von einer Künstleragentur in Hamburg nach eigenen Vorgaben anfertigen lassen. Kurz danach erhielt Rudolf zu seinem Geburtstag einen Anruf von Drummer Wolfgang Dziony:
»Er rief an, gratulierte mir zum Geburtstag und sagte zum Abschluss: ‚Ach ja, und viel Spaß noch als Berufsmusiker!‘ Im ersten Moment habe ich gar nicht geschnallt, was der mir damit sagen wollte, doch das sollten wir alle sehr bald rausfinden. Wolfgang Dziony hatte ein Angebot von den Caterpillar-Werken erhalten, ein gutes Monatsgehalt, die Sozialleistungen eines Großbetriebes und dieses ganze Pipapo. Das Angebot war zu verlockend, er nahm es an.«
Die Lücke füllte für eine Weile ein junger Amerikaner, der sich mit seiner frisch Angetrauten auf Hochzeitsreise durch Europa befand und per Zufall davon Wind bekommen hatte, dass die Band einen Schlagzeuger suchte. Joe Wyman, weder verwandt noch verschwägert mit dem Rolling Stone, mit dem er den Nachnamen gemeinsam hat, rief kurz entschlossen bei Rudolf an und tauchte dann wenig später, die ihm Frischvermählte im Schlepptau, in Larzen, dem damaligen Wohnort der jungen Familie Schenker auf. Schlagzeug spielen konnte er, technisch gut und mit ausgeprägtem Feeling, richtig locker und entspannt, ganz anders als die deutschen Drummer, mit denen die Scorpions bislang zu tun gehabt hatten. Genau der richtige Mann für die Band also. Das junge Ehepaar Wyman zog ein beim jungen Ehepaar Schenker. In jenen Tagen entwickelte Rudolf gerade ein ausgeprägtes Interesse an Yoga und Meditation, da kam ihm der Ami, eingefleischter Vegetarier und ebenfalls fasziniert von fernöstlichen Philosophien und Meditationstechniken, gerade recht.
Für die Scorpions zahlte sich allmählich eine Bekanntschaft aus, die sie während der Produktion von Lonesome Crow mit Kalle Enschelmeier geschlossen hatten. Enschelmeier war Anfang der 70er groß im Geschäft als Promoter. Er organisierte damals Tourneen mit Bands wie Chicken Shack, If, UFO oder Savoy Brown in Deutschland, war mithin ein Mann, der den Scorps von einigem Nutzen sein konnte — und letztlich auch war. Aber zunächst einmal stellte Joe Wyman, geboren und aufgewachsen im subtropischen Klima Floridas, mit Entsetzen fest, dass es in Deutschland auch verdammt kalt sein konnte, mit Schnee und Eis und trist-grauen Wintertagen. Das passte ihm ganz und gar nicht, er wollte schnellstens zurück in sein warmes Florida. Joe beendete endgültig seine Hochzeitsreise durch Europa und verschwand mit seiner Frau aus dem Leben der Scorpions. Aus dem Leben der Scorpions verschwand weiterhin Basser Lothar Heimberg, der einer gesicherten Existenz den Vorzug gab und mit seinem Abgang einen netten kleinen Besetzungsreigen auf der Bassposition einleitete. Sein direkter Nachfolger kam aus Dortmund und hörte auf den Namen Ewi. Es folgten Auditions mit mehreren Drummern, bei denen zum guten Schluss ein gewisser Eisenhut aus Saarbrücken das Rennen machte. Ein tierischer Schlagzeuger, der nur ein Problem hatte: Er soff wie ein Loch. Während intern das Chaos tobte und die Band instabil schien wie nie zuvor in ihrer noch recht kurzen Geschichte, ging’s nach außen hin besser voran als geahnt. Enschelmeier hatte eine Tour mit Chicken Shack klargemacht und bot den Scorpions die Rolle des Supports an. Die Scorpions spielten die Tour und machten den Headlinern das Leben verdammt schwer. Auf die Tour folgte ein Festival mit Eloy und der britischen Kapelle UFO als Headliner. Enschelmeier hatte sich dieses Festival angesehen und kam zu der Überzeugung, dass Scorpions und UFO hervorragend zusammenpassten; er wollte die Hannoveraner als Vorband für die bevorstehende UFO- Tour.

Als UFO allerdings in Deutschland ankamen, sahen die Dinge alles andere als rosig aus. Die Anlage war an der Grenze hängengeblieben, weil irgendwelche Papiere fehlten, und Gitarrist Bernie Marsden war von den Grenzern zurückgeschickt worden, weil er seinen Pass vergessen hatte. Ohne Anlage und ohne Gitarristen standen UFO ziemlich dumm da, wollten andererseits aber auf keinen Fall das erste Konzert absagen. Die Scorpions hatten eine recht professionelle Anlage, wusste Sänger Phil Mogg, sogar schon eine kleine Lightshow. Und außerdem, auch das war Phil Mogg bereits bekannt, hatten sie einen exzellenten jungen Leadgitarristen. Er lieh beides von den Scorpions aus, die ursprünglich nichts dagegen hatten, dass Michael während der Tour auf zwei Hochzeiten tanzte. Michael Schenker zog sich mit UFO in deren Garderobe zurück und probte im Schnelldurchgang deren Set ein, ging anschließend mit den Scorpions auf die Bühne, nutzte die Umbaupause zum Verschnaufen und stellte sich dann mit UFO erneut dem Publikum. Das ging einige Konzerte lang so, bis schließlich eines Tages Bernie Marsden eintrudelte. Für den, darüber war sich mittlerweile Phil Mogg jedoch eindeutig im Klaren, bestand eigentlich gar kein Bedarf mehr. Bernie Marsden wurde zurückgeschickt und die Scorpions mit einer niederschmetternden Neuigkeit vertraut gemacht: Michael Schenker wollte lieber bei UFO weiterspielen.
Die Scorpions zogen sich zurück und leckten ihre Wunden. Einige letzte Konzerte musste Michael mit seinen alten Kollegen noch spielen, Verpflichtungen, die er bis zur zum Ende wahrnahm. Derweil nahm die Pechsträhne einfach kein Ende. Bei einem Konzert in Bielefeld sprang Klaus Meine zum Ende des Konzertes hoch in die Luft, knallte gegen einen Deckenbalken, fiel nach unten ins Publikum und blieb blutüberströmt vor der Bühne liegen. Die Band bemerkte den Verlust ihres Sängers gar nicht, als sie zurück in die Garderobe ging. Das Publikum verließ den Saal, Klaus Meine blieb alleine zurück, in seinem eigenen Blut vor der Bühne liegend. Ein Roadie entdeckte ihn schließlich, alarmierte die Band und Rudolf fuhr Klaus sofort ins nächste Krankenhaus, wo die Wunde am Schädel genäht wurde. Für die letzten Konzerte war Klaus aus dem Rennen, Rudolf sang mal wieder. Zu einer ernsthaften Belastung wurde außerdem Eisenhut, der ständig betrunken war und sich gern mal prügelte. Die Stimmung war so miserabel wie die Situation. Michael Schenker schon halb in England, der Bus kaputt, der Schuldenberg auf einer Höhe, die schlaflose Nächte durchaus rechtfertigte, und die Chemie unter den Musikern nachhaltig gestört. Die Scorpions waren am Ende, so viel war klar. Die Band schleppte sich nur noch so dahin. Ein letztes Konzert stand noch an, das bereits ohne Michael. Der hatte seinem Bruder vor der Abreise noch einen jungen Gitarristen ans Herz gelegt.
»Wenn überhaupt einer das machen kann,« hatte er gesagt, »dann der Uli Roth.« Uli Roth probte zu der Zeit mit seiner eigenen Band Dawn Road in Hannover und war bislang nur aufmerksamen Insidern ein Begriff als außergewöhnlich talentierter Gitarrist. Rudolf sprach folglich Uli an, ob er nicht mal eben für einen Auftritt bei den Scorpions aushelfen könne, und der erklärte sich gern bereit. In mehreren Sessions wurde das Scorpions-Programm einstudiert, und dann ging es auch schon auf die Bühne. Anschließend kehrte Ulli Roth zurück zu seiner eigenen Band, die Scorpions lösten sich auf. Den finalen Schlussstrich hatte Klaus Meine gezogen, den das Chaos der letzten Monate so abgetörnt hatte, dass er endgültig die Schnauze voll hatte; Basser Ewi und Drummer Eisenhut schlossen sich an. Einen Schlussstrich unter das Kapitel Scorpions zog parallel die Plattenfirma. Ohne Michael Schenker war für die Metronome die Band gestorben. Rudolf Schenker allerdings wollte sich unter gar keinen Umständen mit dem Aus abfinden. Er ließ sich immer wieder mal in Dawn Roads Übungsraum blicken, verfolgte deren Proben und war fasziniert, vor allem von Uli selbst, aber auch von dessen Mitstreitern. Am Telefon erzählte er ein ums andere Mal Klaus von der Band und bekniete ihn, doch einfach mal vorbeizukommen, sich die Gruppe ganz unverbindlich anzusehen. Schließlich ließ dieser sich breitschlagen. »Mann,« stellte Klaus Meine fest, »die Jungs hatten’s wirklich drauf.« Man kam ins Gespräch, und dann machten Dawn Road den beiden letzten Scorpions ein Angebot: »Hört mal, warum steigt ihr nicht bei uns ein?« Im Prinzip genau das, was Klaus und Rudolf vorschwebte, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Sie wollten, dass Dawn Road bei ihnen einstiegen. Was verständlich war, hatten die Scorpions doch bereits einen Namen und eine Schallplatte veröffentlicht. Außerdem musste die Band noch ein Festival spielen, das vom Fernsehen aufgenommen werden sollte. Die Argumente stachen, Dawn Road ging auf in den Scorpions. Deren Lineup sah damit folgendermaßen aus: Klaus Meine (voc), Rudolf Schenker (git), Ulli Roth (git), Francis Buchholz (bass), Jürgen Rosenthal (dr) und Joachim Kirschning (keyboards).
FLY TO THE RAINBOW

Die Scorpions existierten wieder, wenn auch ohne Plattenvertrag und mit einer erdrückenden Schuldenlast im Nacken. Von Lonesome Crow waren bis zu diesem Zeitpunkt runde 10.000 Exemplare verkauft worden, nicht gerade übermäßig viel, aber zumindest ein Achtungserfolg. Zur Regulierung der Schulden wurde ein großer Teil der Anlage verschleudert, der reduzierte Rest musste ausreichen für die nächsten Konzerte, darunter besagtes Festival. Das Festival brachte die Gruppe mit einem Donnerschlag zurück ins Rampenlicht. Sie hatten weit mehr als nur ihre alte Spielgewalt wiedergewonnen, sie hatten noch dazu erneut einen exzellenten Gitarristen, der von Anfang an deutlich machte, dass er sich mit der Rolle des Ersatzmannes nicht zufrieden zu geben gedachte. Uli Roths Spiel und Stil unterschieden sich deutlich von denen seines Vorgängers. Er stammte aus der Schule der Hendrix-beeinflussten Gitarreros, war aber auch stark von der Klassik inspiriert, und diese Einflüsse waren unüberhörbar. Mit Michael gemeinsam hatte er jedoch einen untrüglichen Sinn für Melodie und Harmonien. Just zu diesem Zeitpunkt war die Hamburger Plattenfirma RCA auf der Suche nach Talenten. Werner Kuhls, damals Inhaber der Hannoveraner Konzertagentur Sunrise und für kurze Zeit auch der Manager der Band, machte die Firma auf die Scorpions aufmerksam. RCA zeigte sich sehr angetan von den Scorpions und nahm sie kurzentschlossen unter Vertrag. Für Herbst 1973 buchte die Firma Studiozeit im Münchener Musicland-Studio, viel Zeit blieb ihnen also nicht, das Material für die zweite LP zu schreiben. Gesucht wurde auch ein Produzent. Conny Plank war nicht verfügbar, andere Produzenten kannte die Band kaum. In dieser Situation bot sich Frank Bornemann an, der inzwischen mit Eloy einige Studioerfahrung hatte sammeln können. In den Musicland Studios stand ihm ein blutjunger Toningenieur namens Reinhold Mack zur Seite, der später als Produzent von Queen und anderen Bands zu Weltruhm gelangen sollte. Häufig tauchte auch Musiker, Komponist, DJ und Produzent Giorgio Moroder, Gründer und Betreiber des Studios, bei der Band auf. Anfang 1974 wurde Fly To The Rainbow, das zweite Werk der Hannoveraner veröffentlicht. Keyboarder Kirschning, der nur noch einen bescheidenen Beitrag zur LP geleistet hatte, verließ anschließend die Band. Das Album wurde in Deutschland positiv aufgenommen, aber nicht überschwänglich, der erwartet große Anschub für die Band kam nicht. Kämpfen hieß also weiterhin die Devise. Das unvoreingenommene Ohr erhielt mit Fly To The Rainbow einen ersten Eindruck von jenem starken kreativen Spannungsfeld, das sich allmählich innerhalb der Gruppe aufbaute. Auf der einen Seite stand Uli Roth, dessen Songwriting in komplexen Strukturen gipfelte, auf der anderen Seite das Material von Rudolf Schenker und Klaus Meine, beide mehr beeinflusst von Led Zeppelin oder Deep Purple. Aus den unterschiedlichen Stilen der beiden Parteien entwickelte sich bald eine eigentümliche und kontrastreiche Mischung, die die Band zunehmend originell machte und sie weit herausragen ließ aus der Masse der Rockgruppen jener Zeit. Inzwischen lugte sie vorsichtig über die Grenzen Deutschlands hinweg ins benachbarte Ausland. Rudolf Schenker erinnert sich:
»Mensch, Holland, Belgien, Luxemburg, Frankreich, das lag doch alles direkt vor der Haustür, nur ein paar Stunden Autobahn entfernt. So schwierig konnte das eigentlich nicht sein, dort mal zu hinzukommen.«
Schließlich fanden sie einen niederländischen Veranstalter, der die Band buchte. Schon das erste Konzert in Holland war restlos ausverkauft, unter anderem wohl deshalb, weil große Teile des heimischen Publikums die falsche Band, die niederländischen Scorpions, erwartet hatten. Sie sollten ihr Kommen dennoch nicht bereuen. Die Deutschen rockten los wie die Weltmeister. Die Holländer liebten es, die lokale Tageszeitung feierte das Konzert am nächsten Tag als Großereignis. Was in den Niederlanden so gut geklappt hatte, musste auch anderswo funktionieren. Ganz allmählich weiteten sie folglich ihren Aktionsbereich aus auf die anderen Benelux-Länder, dabei eine Strategie verfolgend, die die RCA unter der Gürtellinie traf. Rudolf:
»In unserem Vertrag war so eine kleine Klausel, die die Plattenfirma dazu verpflichtete, Platten überall dort zu veröffentlichen, wo die Gruppe live aktiv war. Von der machten wir ganz gezielt Gebrauch.«
Während der Tourhorizont der Scorpions sich erweiterte, rückte die Produktion der nächsten LP immer näher. Für die sollte endlich ein ‚richtiger‘ Produzent verpflichtet werden. Ins Auge gefasst hatten sie Dieter Dierks. Der Kölner war der Mann hinter solchen Größen wie Nektar, Frumpy und Atlantis. Die Arbeit, die er mit diesen Bands geleistet hatte, imponierte den Scorpions. Dieter Dierks sah und hörte sich die Scorpions an, war beeindruckt und hatte ebenfalls Interesse an einer näheren Zusammenarbeit.
IN TRANCE
Die Arbeit am dritten Album konnte also beginnen, mit Dierks als Produzenten. Die Band hatte das starke Gefühl, dass sie im Studio eine feste Hand brauchte, einen Direktor, der klar die Richtung vorgab. Dierks war, wie Klaus Meine bestätigt, dieser Mann:
»Gerade bei diesem Album war das nötig. Wir hatten diese zwei grundverschiedenen Einflüsse und Stile in der Band. Auf der einen Seite Uli Roth, auf der anderen Rudolf. Ich wurde ebenfalls zunehmend involviert ins Schreiben, wenn auch hauptsächlich bei den Texten. Das lief jedenfalls alles in grundverschiedenen Bahnen zwischen uns und Uli. Es musste jemand von außen her, der da Linie reinbringen konnte.«

Die Zusammenarbeit mit Dieter Dierks ließ sich vielversprechend an, neben seinen Fähigkeiten als Produzent und seinem Fachwissen imponierte er der Band vor allem durch seinen enormen Arbeitseinsatz im Studio. Er dominierte das Geschehen im Studio in jeder Minute, war Produzent, Autoritätsperson und Psychologe in Personalunion. Sie fuhren nicht schlecht damit, In Trance war ein weiterer hörbarer Schritt nach vorn, das Album, auf dem sie endgültig ihre musikalische Identität gefunden hatten, ihren Stil, der bezeichnend bleiben sollte für die Ära Uli Roth. Mit den Aufnahmen von In Trance begann die Zusammenarbeit mit Dieter Dierks, die bis in die Neunziger hinein andauern und schließlich in einem Abhängigkeitsverhältnis münden sollte, aus dem sich die Band nur schwer wieder lösen konnte. Dieter Dierks hatte eine Bedingung mit seiner Arbeit für die Scorpions verknüpft: Sobald deren Vertrag mit RCA auslief, sollten sie einen Produktions- und Verlagsvertrag mit ihm abschließen, der ihm weitgehende Mitspracherechte in allen Bandangelegenheiten einräumte. In einem solchen Vertrag sahen sie kein Problem und erteilten vorab ihr Einverständnis. Trommler im Studio war übrigens der Belgier Rudi Lenners. Jürgen Rosenthal war bereits vor der Produktion ausgestiegen, um seinen Pflichten als Vaterlandsverteidiger nachzukommen. Aus dem Rennen war auch Manager Werner Kuhls, dessen Konzertbüro hatte Konkurs anmelden müssen. Ein neuer Manager fand sich im Herzogtum Luxemburg. »Ein luxemburgischer Bankangestellter, adrett gekleidet, seriös wirkend,« so beschreibt Klaus Meine Roland Nilles, der ihnen als ihr neuer Manager endgültig den Weg ins europäische Umland ebnen sollte. Der Luxemburger hatte gute Drähte nach Belgien und Frankreich. Genau der richtige Organisator und Drahtzieher für die anstehende Eroberung der Clubs und Bühnen Westeuropas mithin. Sie bereisten die Benelux-Länder und Frankreich auf die harte Tour, spielten in Kaschemmen und Absteigen, Puffs und Hafengegenden, standen in Lokalitäten auf der Bühne, in denen Messer flogen und Saalschlachten während des Konzertes ausbrachen. Der RCA wurde jedes Auslandskonzert brühwarm unter die Nase gerieben. Die europäischen Partner der deutschen RCA konnten mit der Band anfangs oft herzlich wenig anfangen. Doch das änderte sich meistens schnell. In Trance, selbst in der Rückschau noch ein bemerkenswertes Album, half dabei enorm weiter, es läutete die eigentliche Karriere der Scorpions ein. Denn inzwischen horchte Amerika ebenfalls auf. Dort hatte das auf europäische Importe spezialisierte Billingsgate- Label die Scorps-Alben ins Land eingeführt, die sich im US-Rock-Underground rasch zunehmender Beliebtheit erfreuten. Das alles nutzte ihnen jedoch 1974/75 noch herzlich wenig. Andere Ziele standen auf dem Programm. Eins, das größte von allen, hieß England. Im britischen Underground hatte In Trance erstes Aufsehen erregt. Besser informierten britischen Rockfreunden war zudem bekannt, dass es einen Zusammenhang gab zwischen den Scorpions und diesem blonden deutschen Gitarristen Michael Schenker, der Mitte der Siebziger im UK bereits als Gitarrengott verehrt wurde. Die Zeit war somit reif, die Fähre auf die britische Insel zu entern und die erste UK-Tour zu starten. Roland Nilles hatte die Drähte geknüpft und die nötigen Vorarbeiten geleistet, die Band konnte 1975 übersetzen. Der Empfang war bescheiden. In England waren sie noch weitgehend unbekannt und mussten auf niedrigstem Anfänger-Niveau reisen, teilweise unter echten Schweinebedingungen. Immerhin, das erste Konzert fand gleich an erlauchter Stätte statt, in der ehemaligen Heimstatt der Beatles, dem legendären Cavern-Club in Liverpool. Für die Scorpions war damit ein Traum wahr geworden, sie spielten im Mutterland des europäischen Rock,. Mit zitternden Knien gingen sie auf die Bühne und legten los, als sitze der Teufel selbst ihnen im Genick. Schon nach den ersten Takten merkte das Publikum, dass sich Ungewöhnliches tat auf der Bühne. Die komischen Krauts entpuppten sich als ausgewachsene Rocker, die einen Tornado entfesseln konnten. Am nächsten Tag hatten etliche Liverpooler Jungs und Mädchen was zu erzählen, die Mundpropaganda, für die Scorpions seit vielen Jahren das wichtigste PR-Mittel, verbreitete von da an auch in Großbritannien ihren Ruf. Das letzte Konzert der Tour, von der Band mit Spannung – und einiger Nervosität – erwartet, fand im legendären Londoner Marquee-Club statt. Die britische Presse beschrieb das Ereignis in den Tagen darauf überschwänglich mit den Stilmitteln der Kriegsberichtserstattung: »Heil! Blitzkrieg über England. Die Deutschen waren da!« Das Konzert machte Schlagzeilen, die die Band jedoch nicht mehr zu sehen bekam. Da das Geld für eine Übernachtung in London fehlte, machten die Musiker sich direkt nach der Show auf nach Dover und nahmen die nächste Fähre zurück zum Kontinent.
VIRGIN KILLER
In Trance war ein vielbeachteter Schritt vorwärts, ein Album, das die Messlatte für den Nachfolger sehr hoch setzte. Der stand nun an. Dieter Dierks wartete schon in Stommeln, bereit für die nächste Runde mit den Scorpions. Dierks und die Band hatten die Qual der Wahl. Uli Roth und Rudolf Schenker hatten Songs beigesteuert, die sich stilistisch stark voneinander unterschieden. Die richtige Mischung zu finden, den goldenen Mittelweg, der die ganze Band repräsentierte, wurde schwieriger. Die Stärken zu kombinieren, aus der kreativen Spannung zwischen den zwei Haupt-Komponisten eine Platte zu formen, die die Scorpions in ihrer ganzen reizvollen Vielfalt widerspiegelte, ohne dass ein Stil dominierte, war die Aufgabe, die es zu bewältigen galt. In langen Tagen und Nächten wurde eine Mixtur erarbeitet, die schließlich unter dem Titel Virgin Killer 1976 in die Läden kam, ein Album, das einiges Aufsehen erregen und in Deutschland zudem erhebliche Aufregung verursachen sollte. Aufsehen, weil es eine exzellente Platte

war, Aufregung, weil die Verpackung vielen Kritikern als zu provokativ und schlicht sexistisch erschien. Ungeachtet dessen wurde Virgin Killer zum bis dato größten Hit der Scorpions. Und das nicht nur in Europa. Im fernen Nippon, wo der Name Schenker seit der ersten triumphalen UFO-Tournee einen goldwerten Klang hatte, war, anfangs unbemerkt von der Band, bereits In Trance zu einem Verkaufsschlager geworden. Virgin Killer allerdings stellte dessen Erfolg weit in den Schatten und entwickelte sich binnen kurzer Zeit zu einem Riesen-Seller. Die Organisationsstruktur, die sich mittlerweile innerhalb der Band und in deren Umfeld herausgebildet hatte, arbeitete effektiv und auf den Punkt. Francis Buchholz hatte nicht nur den Bass und die Bandkasse am Hals, er betätigte sich zudem als Agent in eigener Sache. Gemeinsam mit Roland Nilles und dem britischen Agenten der Band stellte er eine Inselbereisung zusammen, die kaum mit der vorangegangenen zu vergleichen war. War die erste England-Tour noch streckenweise eine Konzertreise unter übelsten Bedingungen gewesen, geriet die zweite schon eher zu einem kleinen Triumphzug, der sie hineinbrachte in die großen Clubs der Insel, ins Manchester-Apollo, erneut in den Marquee-Club und wie sie sonst alle hießen, die Tempel des Rock im großen Britannien.
Erfolg hin, begeisterte Auditorien her, einer wollte nicht mehr so recht. Rudy Lenners hatte gesundheitliche Probleme, die ihm das Leben auf der Straße zunehmend erschwerten. Sein Ausstieg schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, um Ersatz musste die Band sich allmählich ernsthafte Gedanken machen. Den gedachten sie in England zu finden, wo es gute Musiker wie Sand am Meer gab – so zumindest die allgemeine Meinung. Einer dieser Musiker, die sich in London herumtrieben, war Hermann Rarebell, ein junger Saarländer, den es nach London verschlagen hatte. Zu dessen Bekanntenkreis gehörte Michael Schenker, der immer in lockerem Kontakt mit seinem Bruder geblieben war, folglich schon von deren Drummer-Problem gehört hatte. »Hör mal Hermann, mein Bruder sucht gerade einen Schlagwerker. Wäre das nicht was für dich?« Warum nicht, dachte sich Herr Rarebell und sah sich die Scorpions zunächst einmal live im Londoner ‚Sound Circus‘ an, noch mit Rudy Lenners an den Stöcken. Hermann kam mit Rudolf ins Gespräch und man vereinbarte schnell einen Vorspiel-Termin. Am 18. Mai 1977 stieg er endgültig bei den Scorpions ein. Und gleich galt es, die nächste LP vorzubereiten, da der Studiotermin immer näher rückte.
TAKEN BY FORCE
Mit dieser LP wurden einige Erwartungen verbunden, der Druck auf die Band stieg rapide. Die Scorpions waren jetzt wer, zwar noch keine Starband, aber sicherlich eine ernstzunehmende Größe. Gleichzeitig zeichneten sich immer deutlicher Diskrepanzen zwischen Uli Roth und dem Rest der Band ab. Uli hatte sich, anfangs unmerklich, in eine andere Richtung entwickelt. Er wollte nicht auf Teufel komm raus Rockstar werden. Er interessierte sich sehr für Mystik und Religionen, beschäftigte sich eingehend mit fernöstlichen Philosophien und Lebenskonzepten. Vieles davon floss in Texte und Musik ein, seine Kompositionen unterschieden sich inzwischen gravierend von dem, was Klaus und Rudolf schrieben. Hatte diese Diskrepanz zwischen den verschiedenen Stilen für einige Jahre den Reiz der Scorpions-Musik ausgemacht, so fand sich jetzt die Band zusehends in einer Sackgasse wieder.

Die Spannung, von der sie lange Zeit gelebt hatte, drohte in einer Zerreißprobe zu enden. Irgendetwas würde geschehen, das war jedem klar, über kurz oder lang würden Uli Roth und die Scorpions getrennte Wege gehen. Doch das lag in der Zukunft, die Gegenwart fand 1977 in Stommeln statt, wo sie mit Dieter Dierks an den Aufnahmen zum nächsten Album werkten. Es war schwieriger geworden, aus den zwei sich voneinander entfernenden Kompositionsstilen Uli Roths und Rudolf Schenkers die gemeinsamen Elemente herauszufiltern und diese in eine Platte zu formen, die für die ganze Band stand, als Ausdruck ihrer Identität. Das Kunststück gelang, Taken By Force wurde zu einem weiteren Vinyl-Highlight. Europaweit untermauerte Taken By Force ihren Stellenwert als Band, die an der Schwelle zum Starruhm steht. Mit Erscheinen der LP rückte jener Teil der Erde, der bislang so sträflich vernachlässigt worden war, endgültig in den Mittelpunkt ihres Blickfeldes. Japan wollte die Scorpions, und die leisteten dem Ruf endlich Folge. 1978 bestiegen sie den Jet nach Tokio. Ihr Flieger landete in Nippons Hauptstadt, sie stiegen aus — und erlitten einen Kulturschock. Sie wurden empfangen wie Superstars. Klaus Meine:
»Ich konnte bis zum Schluss kaum glauben, dass wir das waren, denen das alles geschah. Da hatten wir nun zehn Jahre lang von Amerika geträumt, und wo landeten wir stattdessen? In Japan! Der Empfang am Flughafen war umwerfend, jubelnde Fans, große weiße amerikanische Limousinen für uns, Kids die uns mit Geschenken förmlich überhäuften. Das alles war für uns, als wenn ein Märchen aus 1001 Nacht plötzlich wahr geworden wäre. Wir als die erste deutsche Band in Japan, empfangen wie Superstars.«
Von einem Tag auf den nächsten wurden sie im Land des Lächelns mit einer Dimension des Erfolges konfrontiert, die gefährlich unwirklich schien und so mancher weniger gefestigten Band wohl den Kopf verdreht hätte. Bereits vor dem Abflug nach Nippon war klar geworden, dass Uli Roth sich bald von der Band trennen würde, um endgültig sein eigenes Ding durchzuziehen. Live war der Gitarrist allerdings voll mit dabei, kapriziös und beeindruckend wie je. Das japanische Publikum erlebte einige sensationelle Momente. Die ausgedehnte Version von ‚Fly To The Rainbow‘ mit dem spektakulären Gitarrensolo von Uli Roth war einer davon. Ein magischer Augenblick, wie er in dieser Form Rockbands nur selten gelingt. Endgültig gewonnen hatten sie dann, wenn Klaus ‚Kojo No Tsuki‘ anstimmte, eine alte japanische Volksweise, jedem bekannt und weitergesungen vom Auditorium. Ins Liveprogramm aufgenommen hatten die Scorpions übrigens Hermann Rarebells ersten Beitrag zu ihrem Liederschatz, ‚He’s A Woman, She’s A Man‘.
TOKYO TAPES/ LOVEDRIVE
In Japan erreichte die Karriere der Scorpions einen ersten Höhepunkt, gleichzeitig jedoch war diese Tour das Ende einer Epoche der Bandgeschichte, Abschnitt Zwei war vollendet. Gleichsam als Dokumentation dieses Zeitabschnittes wie auch als Abschiedsgeschenk für Uli Roth hatten sie das Konzert in der Tokioter Sun Plaza Hall am 24. und 27. April 1978 live mitgeschnitten. Bei den Scorps stand die nächste LP vor der Haustür. Ausreichend Song-Material war vorhanden, da Rudolf und Uli fleißig vorgearbeitet hatten, was fehlte, war der Gitarrist. Inzwischen hatte RCA das

Livealbum Tokyo Tapes herausgebracht. Es schlug ein wie eine Bombe, nicht nur in Deutschland, untermauerte schlagartig auch in Europa einen Status, den sie bis dato nur in Japan schon erreicht hatten. Die Suche nach einem Gitarristen in England war allerdings fruchtlos geblieben. Also sahen sie sich einmal mehr vor der eigenen Haustür um. Man kannte sich bereits aus Hannover, hatte gelegentlich schon mal ein paar Bierchen miteinander getrunken, viel mehr aber verband die Scorpions ursprünglich nicht mit Matthias Jabs. Der spielte seinerzeit in Bands wie Fargo und später Lady. Dann klingelte eines Tages bei Matthias Jabs das Telefon. Am Apparat war Rudolf Schenker.
»Rudolf fragte mich, ob ich nicht mal vorbeikommen wolle, er hätte da so ein paar Songs, die er gern mal ausprobieren wollte,« erinnert sich Matthias Jabs.
„Warum nicht, dachte ich mir und fuhr hin. Wir spielten so ein bisschen, und das war nicht schlecht. Ich habe aber nichts Böses geahnt, dass Uli Roth ausgestiegen war, wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht.«
Wenig später war er sein Nachfolger und wurde sofort ins tiefe Wasser gestoßen. Studiozeit mit Dieter Dierks stand mal wieder an. Das Songmaterial war fix und fertig vorhanden, geschrieben von Uli Roth und Rudolf Schenker, Matthias musste es lediglich einspielen. So begann einer der dunkelsten Abschnitte in der Bandgeschichte. Matthias sah sich erheblichem Druck ausgesetzt. Zu schaffen machte ihm die Tatsache, dass er zwar schon Erfahrungen mit der Studioarbeit hatte sammeln können, ihm das Level, auf dem er nun arbeiten musste, jedoch fremd und ungewohnt war. Hinzu kam, dass Band und Produzent ebenfalls ihre Probleme hatten und diese, so empfand es Matthias zumindest damals, zu einem gewissen Teil auf ihn abwälzten, weniger die Gruppe selbst als vielmehr der Produzent. Alles in allem entwickelte sich so im Studio eine Situation, die für alle nicht sonderlich zufriedenstellend sein konnte — und war. Der Neuling fühlte sich bei weitem nicht als vollwertiges und von allen unbeschränkt akzeptiertes Mitglied. Just zu dieser Zeit hatte sich Michael Schenker, entnervt durch die ständigen Querelen mit UFO-Mastermind Phil Mogg und angeschlagen durch reichhaltigen Drogen-und Alkoholgenuss, endgültig von UFO getrennt. Der logische nächste Schritt war für ihn, Kontakt zu seinem Bruder aufzunehmen und anzufragen, ob er nicht wieder in die Band einsteigen könne. Dieser Anruf brachte die Scorpions endgültig in eine Zwickmühle. Auf der einen Seite war Matthias, gerade erst angeheuert, dessen Verkrampfung im Studio sie durchaus bemerkten, ebenso wie seine mangelnde Erfahrung, auf der anderen Seite ihr alter Gitarrist, ein weltweit bewunderter Gitarrengott und nebenbei natürlich noch der Bruder Rudolfs und ein langjähriger Bandkollege und Freund Klaus Meines. Sie versuchten es mit einem Mittelweg, der jedoch weit weniger golden war, als es auf den ersten Blick vielleicht hatte erscheinen mögen. Michael wurde nach Stommeln eingeladen und gebeten, ihnen bei den Aufnahmen zu helfen, einige Soli einzuspielen, während andere Matthias übernehmen sollte. Matthias Jabs sah sich unversehens mit einer Situation konfrontiert, in der er lediglich einer von zwei Leadgitarristen war:
»Eigentlich war ich ganz froh darüber, dass Michael auftauchte und sich einschaltete. Tatsächlich war er wesentlich professioneller als ich, zumal ich durch die angespannte Atmosphäre eh bereits verunsichert und angenervt war.«
Klaus Meine erläutert die Sicht der Band zu jener Zeit:
»Wir hatten eindeutig ein Problem mit Matthias. Nach den ganzen Platten und Tourneen, die wir bereits hinter uns hatten, vor allem auch nachdem Tokyo Tapes wie eine Bombe eingeschlagen hatte, mussten wir mit dem nächsten Album unbedingt einen weiteren Schritt nach vorne machen, zumal wir gerade die Plattenfirma gewechselt hatten und das kommende Album das erste für die EMI sein sollte. Matthias kam uns einfach nicht reif genug vor, diesen Schritt schon mitmachen zu können, er war eben noch nicht so weit. In dieser Lage kam uns Michael gerade recht. Anfangs tauchte er nur so ganz nebenbei im Studio auf und spielte den einen oder anderen Track ein. Da hat er sich dann Sachen geleistet, die schlicht genial waren. Die Gitarrenlines von ‚Holiday‘ zum Beispiel hat er sich in einer Nachtsession lässig aus dem Ärmel geschüttelt. Ich kann mir vorstellen, dass Matthias nicht sonderlich glücklich war mit der Art und Weise, wie Michael wieder ins Spiel gekommen war, aber die Ergebnisse haben uns letztlich recht gegeben. Wir haben die Platte mit beiden Gitarristen zusammen eingespielt, mit phantastischen Resultaten, die teilweise sicherlich gerade dieser Spannung zu verdanken sind, die sich im Studio entwickelt hatte.«
Lovedrive erschien 1979, und die Band ging sofort wieder auf Tour. Ohne

Matthias Jabs, aber mit Michael Schenker. Die Scorpions hatten sich für Rudolfs Bruder entschieden. Matthias hingegen fuhr mit seiner Freundin in Urlaub auf der Insel Spiekeroog, abgeschieden von der Welt in einem Ferienhäuschen, das ihren Eltern gehörte und in dem es nicht einmal ein Telefon gab. Die Tournee mit Michael Schenker stand unter keinem guten Stern. Mittendrin verschwand er einfach, die Scorpions standen ohne Leadgitarristen da. In dieser Situation erinnerten sie sich wieder an Matthias Jabs. Doch der war unauffindbar. Erst nach langem Suchen und Herumfragen in seinem Bekanntenkreis konnten sie schließlich seinen Aufenthaltsort ausfindig machen. Doch da war immer noch das Problem mit dem fehlenden Telefon. Am Ende riefen sie die Inselpolizei zu Hilfe, die ihn auch ausfindig machte. Kurz nach Mitternacht tauchte der Dorfgendarm an der Haustür auf und drückte Matthias Jabs ein Telegramm von der EMI in die Hand, in dem er aufgefordert wurde, doch bitte unverzüglich zurückzukommen. So ganz ohne weiteres wollte sich Matthias Jabs allerdings nicht breitschlagen lassen, doch am Ende sagte er doch zu, den Rest der Tournee zu spielen. In einer filmreifen Aktion wurde er mit einem auf die Schnelle gecharterten Hubschauber, der ohne Landerlaubnis auf die Insel niederging, aus Spiekeroog ausgeflogen, landete in Bremen, raste mit dem Taxi zum Hauptbahnhof, stieg in den Intercity nach Hannover und musste dort sofort nach der Ankunft das Liveprogramm der Scorpions einstudieren, denn die Tour ging bereits am nächsten Tag weiter. Als der deutsche Teil der Tournee abgeschlossen war, packte Matthias seine Sachen und fuhr heim zur Freundin. Er hatte der Band unmissverständlich klar gemacht, dass seine kurzfristige Aushilfe auf der Gitarrenposition genau das war und dass er nach den jüngsten Erfahrungen auf keinen Fall noch einmal ein weitergehendes Engagement mit den Scorpions wollte. Mittlerweile hatte sich Michael Schenker zurückgemeldet und versprochen, dass er sich besser fühle und wieder einsteigen wollte. Die Scorpions setzten die Tour in Frankreich fort, einmal mehr mit Michael Schenker an der Leadgitarre. Das ging auch einige Konzerte lang gut. Matthias Jabs:
»Ich saß da eines Abends zu Hause und spielte Gitarre. Irgendwann hatte ich dann so ein komisches Gefühl und dachte, dass es eine gute Idee sei, neue Saiten aufzuziehen und die Gitarre durchzustimmen. Ein paar Minuten später klingelte das Telefon. Francis war am Apparat und fragte, ob ich ganz kurzfristig nach Frankreich kommen könne. Michael sei schon wieder weg, und die Band müsse noch einige Konzerte spielen. Ich packte auf die Schnelle meine Sachen und traf ich gegen Mittag des folgenden Tages in Lyon ein um die restlichen Frankreichkonzerte zu spielen.«
Nach Frankreich stand erneut England auf dem Programm, und diesmal sollten es die großen Hallen werden. Mit einem instabilen und angeschlagenen Michael Schenker, das war inzwischen allen Scorpions klar, war jede weitere Tour ein Risiko. Also reiste Matthias Jabs mit auf die Insel, allerdings offiziell immer noch als Stellvertreter. Die Tour begann im Mai 1979, die Scorpions traten als Headliner in ausverkauften Hallen und auf Großveranstaltungen wie dem Reading-Festival auf. Das Liveprogramm umfasste noch etliche Songs aus früheren Jahren. Fest im Repertoire waren auf dieser Tour ebenso wie bei den späteren Konzerten in den USA und Japan Titel wie ,Fly To The Rainbow‘, Kojo No Tsuki‘, ‚In Trance‘, ‚Steamrock Fever‘, ‚Lovedrive‘, ‘Backstage Queen‘ oder die Rarebell-Komposition ‚He Is A Woman, She Is A Man‘. England war ein voller Erfolg. Danach war Japan an der Reihe. Die überfällige Entscheidung musste getroffen werden. Ein zweites Mal boten die Scorpions ihrem Aushilfsgitarristen an, als Vollmitglied in die Band einzusteigen. Diesmal jedoch ohne Wenn und Aber. Ganz wohl war Matthias Jabs immer noch nicht bei der Sache. Andererseits:
»… haben wir uns mittlerweile prima verstanden. Ich weiß nicht mehr genau, wie und wann es dann endgültig beschlossene Sache war, aber ich hatte auf jeden Fall entschieden, die Sache mit den Scorpions jetzt durchzuziehen.«
Bereut hat er diese Entscheidung seit damals nicht. Die Band, die auf dem Flughafen von Tokio landete um zum zweiten Mal in Japan Triumphe zu feiern, bestand aus den Gitarristen Rudolf Schenker und Matthias Jabs, dem Sänger Klaus Meine, dem Bassisten Francis Buchholz und dem Schlagzeuger Hermann Rarebell. Diese Formation sollte mehr als eine Dekade lang stabil bleiben. Und bis heute ist das Trio Schenker, Jabs und Meine der kreative Nukleus der erfolgreichsten deutschen Rockband aller Zeiten.
Edgar Klüsener
Die Schenkers kommen aus Laatzen, nicht Larzen 😉 Ansonsten hat es viel Spaß gemacht zu lesen!