Die Styal Mill in Cheshire

Das Örtchen Styal liegt gerade mal eine Steinwurfweite weg vom geschäftigen Flughafen Manchesters. Styal ist nicht viel mehr als eine Durchfahrtsstraße von Manchester nach Wilmslow, ein paar Häuser, ein Ortsschild, das war‘s. Rundherum viel Flughafen und ein wenig wunderschöne Landschaft, schließlich beginnen hier die lieblichen Hügel und Gärten der Grafschaft Cheshire. Am Ortsende biegt rechts eine schmale Zufahrtsstraße zur Quarry Bank Mill ab, die in einem enormen Parkplatz endet. Reisebusse stehen da und jede Menge Autos. Vom Parkplatz aus geht es über Treppen hinab in ein schattiges Flusstal, in dessen Grund langgestreckte Fabrikgebäude stehen, die Quarry Bank Mill.

Hier hat sie also begonnen, die industrielle Revolution, die England zur ersten Supermacht der Neuzeit machte und die schließlich den zersplitterten und heillos zerstrittenen europäischen Kontinent für mehr als ein Jahrhundert zum wirtschaftlichen, technologischen und politischen Mittelpunkt der Erde wachsen ließ. In dieser lauschigen Senke, die der River Bollin in Jahrtausenden aus dem Sandstein gefräst hat, hat Samuel Gregg 1784 die Grundsteine für ein globales Baumwollimperium gelegt und quasi im Alleingang die Industrielle Revolution gestartet. Es war wohl kaum die romantische Schönheit des Flusstals, die ihn bewogen hat, ausgerechnet an diesem Ort seine Fabrik aufzubauen, sondern vielmehr die verkehrsgünstige und geschützte Lage am Rande Manchesters sowie die Wasserkraft, die der Bollin in unbegrenzter Menge bereitstellte. Samuel Gregg war einer der neuen Reichen seiner Zeit. Die finanziellen Mittel zum Aufbau der Fabrik stammten größtenteils aus dem Familienvermögen, erwirtschaftet im Sklavenhandel, dessen weltweites Zentrum die nahe gelegene Hafenstadt Liverpool war. Gregg war nicht nur reich und geschäftstüchtig, er war auch ein Visionär. Wie kaum ein anderer Unternehmer seiner Zeit realisierte er die Möglichkeiten zur Automatisierung und Rationalisierung von Arbeitsprozessen, die neue Erfindungen und Technologien und die Nutzung von Wasserkraft und bald darauf Dampf offenbarten.

Mechanischer Webstuhl
Mechanischer Webstuhl

Seine Arbeiter rekrutierte Gregg in den umliegenden Tälern, Hügeln und Waisenhäusern der Grafschaften Cheshire und Lancashire. Auch die neuartigen Maschinen, die er so konsequent einsetzte wie niemand sonst, waren örtliche Produkte, ausgedacht und produziert von Erfindern und Ingenieuren in den benachbarten Ortschaften und Städten. Greggs Fabrik wurde so zur Keimzelle einer globalen technologischen Revolution, das kleine Styal und die Nachbarorte in Cheshire und Lancashire zu einem Innovationszentrum, das noch am ehesten vergleichbar ist mit dem Silicon Valley des späten 20ten und frühen 21ten Jahrhunderts.

Die fieberhafte Geschäftigkeit jener Tage ist heuer nur noch eine vage Erinnerung. Statt der Arbeiter, die im Akkord die aus allen Ecken des Empires importierte Baumwolle industriell in hochwertige Garne, Stoffe und Tücher verwandelten, wimmeln nun Schulklassen und Touristen aus allen Teilen Großbritanniens durch die liebevoll restaurierten Fabrikgebäude.

Die Fabrik ist ein Technologiemuseum der besonderen Art, einzigartig in Großbritannien. Erhalten, gepflegt und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht vom britischen National Trust, dokumentiert es die Geschichte der industriellen Baumwoll-Verarbeitung im Vereinigten Königreich und führt zurück in eine kurze Zeit, in der britischer Erfindergeist und britische Technologien weltweit konkurrenzlos waren. Für den Historiker Sven Beckert war Baumwolle das eigentliche Gold des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, und die beinahe absolute Kontrolle über den kompletten Baumwollkreislauf vom Anbau über die Verarbeitung bis hin zur Vermarktung das wahre Fundament, auf dem das gesamte britische Imperium beruhte.

Am Anfang war's noch Handarbeit
Am Anfang war’s noch Handarbeit

Der Tour in die Wiege der industriellen Revolution beginnt im Ticketoffice. Über eine kleine Treppe geht es in den ersten Stock, dann über eine kleine Brücke hinüber in die eigentlichen Fabrikgebäude. Auf dem Weg in die Maschinenhallen passiert der Besucher kleinere Ausstellungsräume, die die Anfänge der Spinn- und Webtechnologie in England dokumentieren und die einen Eindruck von den Lebens- und Arbeitsplätzen im England an der Schwelle zur industriellen Revolution vermitteln. Obwohl das Museum vor allem die industriellen Fertigungsprozesse dokumentiert, die technischen Errungenschaften und Erfindungen, die in der Styal Mill zuerst zum Einsatz kamen, vermittelt es auch Eindrücke in die Lebenswelten des entstehenden Industrieproletariats auf der einen wie die der Kapitalisten auf der anderen Seite. Denn die industrielle Revolution war natürlich auch eine soziale Revolution, deren gewaltige Umwälzungen zunächst England, dann Europa und schließlich die Welt von Grund auf verändern sollte. Ihre dramatischen Auswirkungen hat Friedrich Engels rund sechzig Jahre nach Produktionsbeginn in der Quarry Bank Mill in seinem bahnbrechenden Bericht zur „Lage der arbeitenden Klasse in England“ beschrieben. Auf dem Rundgang durch das Museum lernen Besucher daher nicht nur über Maschinen, Dampf und Wasserkraft, sondern auch über die sozialen Bewegungen, die in und um Manchester ihren Ursprung hatten, über die Geburt der Arbeiterbewegung ebenso wie den unermesslichen Reichtum, den die Bourgeoisie in diesen Jahren anhäufen konnte.

Sanfte Flusslandschaft
Sanfte Flusslandschaft

Die Hauptattraktionen des Museum sind sicherlich die Maschinen, das gigantische Wasserrad, das sie einst antrieb und die Dampfmaschinen, die in späteren Tagen die Wasserkraft ablösten. Speziell geschulte Mitarbeiter des National Trust demonstrieren die Apparaturen, die mit teils ohrenbetäubendem Lärm neue Fäden spinnen und zu feinem Tuch verweben. Doch viele der Besucher kommen gar nicht in erster Linie des Museums wegen, sondern vielmehr wegen der verwunschenen Schönheit des Secret Garden. Der geheime, oder besser verwunschene, Garten schmiegt sich in die an manchen Stellen sehr schroffen Sandsteinhänge, die das Bollin-Tal von der Außenwelt abschirmen und ist von außerhalb nicht einsehbar. Angelegt wurde der Garten von Gregg und seiner Ehefrau Hannah, die vor allem für das Design verantwortlich war. Sie passte den Garten der rauen Lieblichkeit des Flusslaufes und des steilen Uferhanges an, gliederte die Ecken und Kanten des Sandsteinbruchs gezielt in die Gestaltung ein. Serpentinenartige Pfade und kurze Treppen erschließen die verschiedenen Bereiche des Gartens, geschickt platzierte Ruhezonen laden zum Verweilen und eröffnen grandiose Ausblicke auf das Tal und die Flußlandschaft. Üppige Blumenbeete, arrangiert mit feinem Gefühl für Farb- und Duftkombinationen dominieren den Wiesengrund, Rhododendron- Haine kontrastieren mit nahezu naturbelassenem ursprünglichen Flusswald und jahrhundertealten Buchen. Die Freiwilligen Helfer des National Trust haben den versteckten Garten der Greggs in jahrelanger Arbeit nach alten Bildern und Beschreibungen so wiederhergestellt, wie er wahrscheinlich Ende des Achtzehnten Jahrhunderts aussah.

Der verwunschene Garten
Der verwunschene Garten

Zum Schlendern lädt auch die Teichlandschaft des River Bollin ein, dessen Restaurierung von einem industriellen Nutzwasser zu einem natürlichen Gewässer seit einigen Jahren abgeschlossen ist. Inzwischen finden selbst die Lachse wieder ihren Weg in den Bollin bis hin zur Quarry Bank Mill. Der Secret Garden, das idyllische Flusstal und das familien- und kindgerechte Ambiente der Quarry Bank Mill zieht längst nicht mehr nur Historiker und technikbegeisterte Besucher aus aller Herren Länder nach Styal, sondern ebenso Ausflügler aus der Umgebung und zunehmend Reisende aus dem europäischen Ausland.

Edgar Klüsener

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