Kann Musik die Welt retten? Kann ein simples Lied den Unterschied machen zwischen Krieg und Frieden? Welche Rolle kann Musik spielen in einem Europa, das nach historisch beinahe beispiellosen 77 Friedensjahren plötzlich entsetzt feststellen muss, dass die Bestie Krieg auch in seinen Grenzen jederzeit wieder die blutigen Fänge zeigen kann. Noch ist er auf die vom britischen Historiker Timothy Snyder so treffend benannten ‚Bloodlands‘ konzentriert, die blutgetränkten Felder und Städte der Ukraine, die im vergangenen Jahrhundert bereits zweimal von deutschen und russischen Heeren gebrandschatzt, verwüstet und ausgeblutet worden sind. Doch wie jeder Krieg, hat auch dieser seine eigenen Gesetze, und wie noch jeder europäische Krieg der Vergangenheit, wird dieser ebenfalls das Antlitz des Kontinents dauerhaft verändern. Entziehen können wird sich ihm und seinen Folgen auf Dauer niemand. Hier nicht, in unseren Nachbarländern nicht, nirgendwo in Europa und darüber hinaus.
Was also kann Musik hier ausrichten? Kann sie die Herzen und Seelen ansprechen, in einer Welt am Rande eines weiteren Abgrundes? Kann sie die Geschicke der Menschen ändern oder zumindest erleichtern?
„Ein klares Nein zu alledem“, wird der Zyniker nun mit sardonischem Lächeln antworten, „was für eine lächerliche und naive Vorstellung.“ Der selbsternannte Realist wird mit ernster Miene beipflichtend nicken.
Obwohl Musik die oft bewiesene Macht besitzt, Gefühle wie Trauer, Freunde, Lust oder Wut zu wecken und zu verstärken, kann ein einfacher Song wohl tatsächlich keinen Schutz bieten gegen kaltherzigen Massenmord, gegen Raketen, Panzer und Bomben, noch kann er etwas ausrichten gegen das blinde Wüten machthungriger Diktatoren und deren Lust auf Zerstörung.
Dennoch kann Musik, so ist nun einmal die Natur des Menschen, eine Rolle spielen, vor allem in Zeiten von bitteren Konflikten, in den Alptraum-Szenarien, die bestimmt sind von tödlichen Feindschaften, ungleicher Machtverteilung, ideologischer Raserei und scheinbar unüberwindbaren Gräben zwischen Menschen und Nationen.
Am Ende war es ein Lied, dass Soldaten des Zweiten Weltkriegs über alle Schlachtfelder, Frontlinien und Schützengräben hinweg anrührte, das sie ansprach und das sie zu lieben lernten. Die bitter-süße Ballade „Lili Marleen’ über einen Soldaten, der fernab der Heimat von seiner Liebsten träumt, wie sie einst unter der Laterne vor der Kaserne auf ihn wartete, wurde zuerst vom deutschen Soldatensender Belgrad ausgestrahlt und avancierte bald zum weltkriegsweiten Hit über alle Sprach- und sonstigen Grenzen hinweg. Die Atmosphäre des Songs, das grundlegende Sentiment sprach die Soldaten unmittelbar an. Es brachte eine Saite tief in ihrem Inneren zum Klingen, berührte ihre Menschlichkeit und schlug so Brücken zwischen Männern, und es waren fast ausschließlich Männer, die einander feindlich gegenüberstanden, gefangen im blutigen Alptraum mechanisierter und industrialisierter Massenschlächterei des Weltkrieges.
Dieser Krieg sollte der letzte gewesen sein auf europäischem Boden, darin waren sich die Nationen und ihre Führer nach 1945 weitestgehend einig. 77 Jahre hielt dieser, in Zeiten des Kalten Krieges oft brüchige, Konsensus. Doch nun wütet wieder ein bewaffneter Konflikt im Herzen Europas, der die Geister der grausigen Vergangenheit erneut heraufbeschwört. Lange hatten sich Europäer komfortabel in einem Zustand eingerichtet, der vielen wie ein ewig währender, unerschütterlicher Frieden erschien. Doch dieser Frieden war nie mehr als eine Illusion, eine traumgleiche Wirklichkeit, die in dieser Form nirgendwo sonst in einer Welt geteilt wurde, in der Blutvergießen und bewaffnete Konflikte nach wie vor zum Alltag gehörten und gehören. Viel zu schnell haben Europäer zudem vergessen, dass vor zweieinhalb Jahrzehnten auch auf dem Balkan ein zwar kurzer, trotzdem sehr blutiger Krieg getobt hatte. Ebenso wie schnell wieder vergessen wurde, wie selbstverständlich – und beinahe unwidersprochen – Russland der Ukraine 2014 die Krim entrissen hatte.
Mitten im Frieden haben wir uns zu sehr an die Geschichten und Bilder von Gewalt, Verwüstungen und unermesslichem menschlichen Leid gewöhnt, die uns per TV, Internet und Sozialen Medien frei Haus auf die großen und kleinen Bildschirme geliefert wurden und die mit einer kurzen Fingerbewegung weggewischt werden können. Wir haben die Bilder und Nachrichten aus Afghanistan, dem Jemen, Syrien oder Libyen zur Kenntnis genommen, irgendwie, aber dann beinahe sofort wieder vergessen. Der blutige Konflikt in der Ukraine hat unsere Wahrnehmung verändert. Er findet unangenehm nahe statt, quasi direkt vor unserer Haustür. Das unerträgliche Leid, dass wir nun täglich sehen, ist nicht mehr das irgendwelcher Menschen irgendwo anders auf dem Planeten, sondern das unserer europäischen Nachbarn. Für viele ist der Krieg in der eigenen Familie angekommen. Wir sind direkt betroffen, auch weil die Lebensmittelpreise steigen, der Benzinpreis und die Heizkosten. Vor allem aber, weil wir mit hineingezogen werden in diesen Konflikt, jeden Tag ein Stückchen weiter. Dennoch, wie lange wird es dauern, bis wir selbst von diesen Bildern genug haben und uns einmal mehr in den Zustand angenehmer Betäubung zurückziehen werden? Soll die Welt doch machen, was sie will, was geht mich das an?
Musik kann Brücken schlagen. Lili Marleen ist ein Beispiel dafür. Das außerordentliche Werk der israelischen Band Orphaned Land mag als ein anderes dienen. Die Gruppe ist unter israelischen und palästinensischen Jugendlichen gleichermaßen populär und versucht ganz bewusst mit ihrer Musik, aber auch in Wort und Tat, die Gegensätze zwischen beiden zu überwinden und wirbt für Verständnis und Anerkennung.
Musik kann machtvolle Verbindungen zwischen Menschen aller Rassen, Religionen, Nationen und Überzeugungen knüpfen. Sie kann Träume erschaffen und für sie werben, sie kann Gefühle wecken und Hoffnung wie Verzweiflung eine Stimme geben. Das Bedürfnis nach Frieden und Freiheit, nach grundsätzlicher Menschenwürde, ist es, was uns über alle kulturelle, religiöse, ethnische oder linguistische Barrieren hinweg miteinander verbindet.
Hier kommt Music Against War ins Spiel, eine globale Initiative, die darauf abzielt, so viele Menschen in so vielen Sprachen wie möglich zu erreichen, um so Gräben zuzuschütten und die Einheit in Träumen und Wünschen zu fördern.
„Freedom“ ist der Titel des Liedes, das der italienische lyrische Tenor Allessandro Rinella auf Englisch aufgenommen hat, und er wird bei dieser Aufnahme von Sängern aus allen Teilen der Welt begleitet, die in ihrer jeweiligen Muttersprache singen, auf Griechisch, Arabisch, Hebräisch, Russisch, Ukrainisch, Deutsch und viele andere. Die Botschaft ist klar: Lasst uns Einheit, Frieden und Freiheit in einem kraftvollen Statement feiern, welches das Chaos in Frage stellt, in das die Welt hinabgleitet.
Titlebild: Photo by Darius Soodmand on Unsplash