Ihre Kinder

Diese kleine Auseinandersetzung mit dem Text des Liedes ‚Weißer Schnee, Schwarze Nacht‘ der Band Ihre Kinder erschien in dem 2011 von Erik Waechtler und Simon Burke herausgegebenen Band ‚Lyrix: Lies Mein Lied – 33 1/3 Wahrheiten über deutschsprachige Songtexte‘. Im Westen Deutschlands waren Ihre Kinder die Pioniere deutschsprachiger Rockmusik, die unter anderen Udo Lindenberg dazu inspirierten, es ebenfalls mal mit der bis dahin arg diskreditierten Muttersprache zu versuchen. 

Der silberne Löffel kocht für sie ab; der Gürtel schnürt ihr die Vene ab; sie drückt die Nadel tief in ihr Blut; dann schießt sie ab und versinkt in der Glut“.

Mit dieser trockenen, teilnahmslosen Beschreibung des kurzen Wegs zum flüchtigen Frieden mit der Welt hatte die Gruppe Ihre Kinder 1972 einen Song in deutscher Sprache über Drogenkonsum geschrieben. Die Nürnberger waren die erste westdeutsche Rockband, die konsequent auf deutsche Texte setzte. Sie schrieben poetische Lieder, eine Art psychedelischer deutscher Beatlyrik, konnten aber auch sehr eindeutig und präzise sein, wenn sie politische Themen aufgriffen. Musikalisch deckten sie eine enorme Bandbreite ab, das Spektrum reichte von akustischem Folk über satten Blues und orientalisch angehauchten Psycho-Pop bis hin zu hammerhartem Rock. Deutsch war da als Rockidiom noch weitestgehend diskreditiert, die Sprache seicht-rosafarbener Schlagerromantik. Englisch hingegen war cool, die Sprache neuer Freiheiten und Träume. Deutsch war nicht nur vorbelastet, es schien nach 1945 auch extrem provinziell. Und so radebrechten in deutschen Jugendzentren und Vorortkneipen hunderte von hoffnungsvollen Nachwuchsrockern englische Lyrics, die weder sie noch ihr Publikum so recht verstanden. Dass die westdeutsche Musikindustrie ähnlich fühlte und dachte, dass ihr allein schon bei der Vorstellung grauste, Rockmusik könne auch mit deutschen Texten funktionieren, belegt die Geschichte der Nürnberger.

Das erste Album der Band wurde von deutschen Plattenfirmen zunächst mal als viel zu unkommerziell abgelehnt. Rockmusik, das war die vorherrschende Meinung in der Tonträgerbranche, konnten Engländer und Amerikaner viel besser. Und dann noch deutsche Texte? Wozu gab’s schließlich englisch?

Am Ende bewies dann doch eine Plattenfirma Mut: Philips brachte das Album heraus, allerdings so halbherzig, dass es beinahe sang- und klanglos unterging. Immerhin, Hermann Zentgraf, der zuständige A&R-Mann bei Philips brachte die Gruppe anschließend bei dem Münchener Independent-Label Kuckuck unter und ebnete ihr damit den weiteren Weg im Wirtschaftswunderland.

Ihr drittes Album trug als Titel schlicht die Seriennummer, war in ein Jeanscover verpackt und die Originalausgabe erzielt heute unter Sammlern Höchstpreise. Es war zugleich das stärkste Album der aus heutiger Sicht Bestbesetzung der Band. Bei Ihre Kinder herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Nur Gitarrist, Sänger und Komponist Ernst Schultz, der Schlagzeuger Muck Groh und der Sänger Sonny Hennig konnten als Kernbesetzung gelten. Das Jeansalbum bescherte dem Kuckuck-Label seinen ersten Hit und war zugleich das wütendste und bissigste Album der Nürnberger. Auf ihm findet sich auch die Ballade „Weißer Schnee, schwarze Nacht“.

Ihr viertes Album „Werdohl“, benannt nach einer grauen Industriestadt in den idyllischen Tälern des Sauerlandes, sollte auch schon das letzte sein.

Nach „Werdohl“ wurde es ruhig um Ihre Kinder. Aber ihr Vorbild hatte bereits Schule gemacht. Udo Lindenberg, der sich ausdrücklich auf die Nürnberger als Vorbilder beruft, war der erste, der Rock mit deutschen Texten endgültig etablierte, viele weitere sollten folgen.

„Weißer Schnee, schwarze Nacht“ war ein Novum: ein deutscher Rocksong über Drogengebrauch, der weder sensationslüstern überzeichnend war noch Drogen als Mittel zur Bewusstseinserweiterung und als bewussten Protest gegen die als kalt und autoritär empfundenen Strukturen des frühen Nachkriegsdeutschland verherrlichte. Ebensowenig bediente der Song die längst auch in Deutschlands Gegen- und Jugendkultur verbreiteten und anerkannten stereotypischen Klischees des „Sex&Drugs&Rock’n’Roll“-Lebensstiles.

Ihre Kinder

Die sechziger und frühen siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren im Westen Deutschlands das Jahrzehnt, in dem politisches Engagement sinnlich wurde, in dem der Aufstand gegen die Welt der Väter und deren düsteres Erbe auch ein Aufstand gegen eine Realität wurde, die als kalt, bedrückend und erschreckend eindimensional empfunden wurde. Die Auseinandersetzung fand in den Straßen ebenso statt wie in den Köpfen, und sie wurde mit vollem Körpereinsatz geführt; Sinnlichkeit und Erotik wurden ebenso zu Waffen der Auseinandersetzung wie Haschisch, LSD und Heroin.

„Turn on, tune in, drop out“ (Schalte ein, stimme dich ein, steig aus), hatte der amerikanische Psychologie-Professor und LSD-Prophet Timothy Leary Mitte der sechziger postuliert und LSD zur Allzweckwaffe in der Befreiung des Bewusstseins erklärt. Die amerikanische Hippiebewegung hatte den Slogan mit wachsender Begeisterung aufgenommen. Die Vermengung aus entstehender globaler Popkultur anglo-amerikanischer Prägung mit wachsendem politischen Unwohlsein einer ganzen Generation war explosiv. Eine ganze Generation wechselte, so schien es, auf die Überholspur. Live fast, die young (Lebe schnell, stirb jung) war ein anderer Slogan, den vor allem Rockmusiker ernst zu nehmen schienen.

Ian Dury fasste das Credo schließlich kurz und knapp zusammen:Sex and drugs and rock and roll ; Is all my brain and body need ; Sex and drugs and rock and roll ; Are very good indeed“ (Sex und Drogen und Rock’n’Roll ; Ist alles was mein Gehirn und mein Körper brauchen ; Sex und Drogen und Rock’n’Roll ; sind in der Tat sehr gut)“.

Sex, Drogen, Rock’n’Roll – das stand für ein Leben im Ausnahmezustand, für grenzenlose Freiheit, neue Erfahrungen, für Lust und Exzess. Ein Leben am Abgrund, in den man durchaus stürzen konnte – was den Spaß am Risiko eher noch erhöhte.

Ihre Kinder waren eine Rockband, und damit waren Drogen beinahe zwangsläufig Teil auch ihres Lebensumfeldes. Sie wussten genau, worüber sie schrieben. Der Song richtete sich an ein Publikum, das ebenfalls verstand.

Die eingangs beschriebene Prozedur ist jedem Junkie bestens vertraut und schnell in Fleisch und Blut übergegangen. Das Abkochen des Heroins, häufig vermischt mit ein bisschen Zitronensäure, im Löffel, das Aufziehen der wässrigen Lösung in die Spritze, das Abschnüren der Blutzufuhr knapp über dem Ellenbogen mit einem Ledergürtel, das Suchen nach einem Stück heiler, noch nicht verhärteter Vene, der Einstich, der Abdruck, der kurze, heiße Kick wenn die Droge an den Rezeptoren andockt, und dann die wohlige Taubheit gegenüber der Welt, das Abschalten für einige Momente.

1968 waren Junkies immer noch ein relativ seltenes Phänomen in Westdeutschland, zumeist nur in den ganz großen Städten zu finden. Die veröffentlichte Meinung reagierte ebenso sensationsgeil wie hysterisch auf die langsam aber stetig steigende Zahl von Heroinsüchtigen; absurde Horrorstories dominierten die Schlagzeilen, sachliche Berichterstattung fand kaum statt. Stattdessen wurden von Haschisch über LSD bis zu Heroin alle Drogen über einen Kamm geschoren und gleichermaßen verteufelt. In „Weißer Schnee, schwarze Nacht“ ist davon nichts zu finden. Nüchterne Vertrautheit mit dem Subjekt zieht sich durch den ganzen Text. In den ersten Zeilen des Liedes wird zunächst die Szene gesetzt:

Die Wände sind grau und das Zimmer ist kahl; Der Boden ist feucht und das Licht eine Qual, ein Mädchen braucht keine Liebe mehr, ohne Schnee ist ihr Leben leer.

Ein Mädchen hat sich für den Schnee, damals ein weit geläufigeres Synonym für Heroin als heute, entschieden, und Schnee ist längst der Mittelpunkt ihres Lebens. Die Kargheit des Raumes, der Mangel selbst an einfachem Komfort versinnbildlicht die Tragweite der Entscheidung. Und eine solche, eine freiwillig getroffene, war es irgendwann mal. Nun ist der Schnee alles, was sie noch hat. Die Freiheit, die die sie gesucht haben mag, den Ausweg aus einem Leben, das wenig versprechend erschien, der Durst nach Abenteuer – all das spielt keine Rolle mehr. Sie mag es nicht wahrhaben wollen, immer noch an ein Spiel glauben, aber alles was zählt, ist am Ende nur noch der Schnee. Er gibt ihr alles. Doch sie zahlt einen Preis dafür. Und der Preis wird benannt:

Freiheit wird zur Einsamkeit; Sie glaubt nicht was kommt und sie glaubt nicht was war; Sie stirbt ihr Leben, bevor sie es überhaupt sah“.

Warum wird das namenlose Mädchen zum Junkie? Warum der Griff zur Droge? Der Text stellt diese Frage nicht, beantwortet sie aber. Die Suche nach Freiheit ist ein Grund. Die Lust aufs Experiment, auf die spielerische Erforschung der Grenzen dieser Freiheit ein anderer. „Das ist Leben für sie,“ heißt es, und weiter: „Doch sie glaubt an ein Spiel.“ Keine Rede von den sozialen Gründen, die in die Drogenabhängigkeit führen können, von der Armut und Ausweglosigkeit, die das Leben sozialer Randgruppen in modernen Großstädten bestimmt, für die die Droge ein Teil des beklemmenden Alltags im Abseits ist. Stattdessen der Verweis auf den anfangs spielerischen Umgang mit dem Schnee, auf die angenommene Funktion der Droge als Mittel und Weg zu Freiheit und Ekstase. Und die bittere Schlussfolgerung, dass was als unbefangenes Spiel mit dem Feuer begann, am Ende in schwarzer Nacht endete. Spätestens hier wird der Text zur Parabel auf die drogenbefeuerte Protest-, Pop-, Hippie- und Rock’n’Roll-Kultur der Sechziger und frühen Siebziger Jahre.

„Weißer Schnee, Schwarze Nacht“ ist von daher auch ein Abgesang auf die Träume und Ideale einer Jugendbewegung, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ihre Unschuld und Naivität endgültig verloren hatte. Die Erkenntnis, dass tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen nicht auf die Schnelle zu haben sind und dass das Erschließen neuer Bewusstseinszustände und alternativer Realitäten auch als ganz banale Flucht in eine eher noch düsterere Wirklichkeit münden kann, mochte sich zwar 1972 längst noch nicht in nennenswerter Weise durchgesetzt haben, Ihre Kinder gaben sich aber schon da skeptisch. Die Freiheit, eine sehr egozentrische Auffassung von Freiheit, die die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse, Sehnsüchte und Wünsche über alles stellt, wird da zur Einsamkeit der Einzelkämpfer, der Verlorenen. Die enttäuschten Träume und Ideale münden in eine desillusionierte Resignation, in der kein Platz mehr ist für Glaube, Begeisterung oder Hoffnung. Die Party mag noch weiter gehen, am Ende aber winkt ein prächtiger Kater.

„Weißer Schnee, schwarze Nacht“ ist ein merkwürdiger Song. Er propagiert nicht, noch verurteilt er; der so typisch deutsche erhobene Zeigefinger bleibt in entspannter Ruhestellung. Er beschreibt eine freie Wahl und ihre Folgen, die Ernüchterung, die noch jedem Rausch folgt. Zugleich hinterfragt er, ohne zu werten, ideologische und kulturelle Ideen-Konstrukte, die Drogen als Mittel zur Selbstbefreiung, zur Förderung oder gar Entfesselung der Kreativität anpreisen.

Als die Band das Lied 1972 erstmals veröffentlichte, schien die kleine Akustik-Ballade mit ihren nüchternen Beschreibungen und dem melancholischen Unterton seltsam zeitfern, zollte so gar nicht dem Zeitgeist Tribut. Gerade diese skeptische Distanz jedoch ist es, die „Weißer Schnee, Schwarze Nacht“ auch 39 Jahre später in einer in vielerlei Beziehungen radikal veränderten Welt noch anrührend und authentisch klingen lässt.

 

 

Erstabdruck: 2011, Copyright 2011/2022 Edgar Klüsener

Klüsener, E. (2011). Freiheit wird zur Einsamkeit. In E. Waechtler & S. Bunke, eds. Lyrix: lies mein Lied: 33 1/3 Wahrheiten über deutschsprachige Songtexte. Freiburg: Orange Press, pp. 91–96.

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