Es ist ein perfekter Sommertag für ein perfektes Primal Scream Konzert in einer perfekten Umgebung. Die Castlefield Open Air Arena liegt im ehemaligen Kanalhafenbecken Manchesters, zu Füßen der alten römischen Befestigung Castra Mancunium, der die Stadt ihren Namen verdankt. Hinter der Bühne sind Hausboote angedockt und ein Wirrwarr von Eisenbahn-, Tram- und Autobrücken überzieht das Hafenbecken, während der industriellen Revolution einer der wichtigsten Transportknotenpunkte Englands. Als Walt Disco, die erste von insgesamt drei Vorbands, die Bühne betreten, brennt die Sonne von einem wolkenlos blauen Postkartenhimmel auf eine zu diesem Zeitpunkt bestenfalls halb gefüllte Arena. Die Band aus Glasgow hat unlängst ihr Debütalbum ‚Unlearning‘ veröffentlicht, das von der Kritik weitgehend wohlwollend aufgenommen worden ist. Musikalisch bedienen sich Walt Disco freizügig im Glamrock-Repertoire der Siebziger und Achtziger und reichern die Anleihen mit Goth- und New Wave-Elementen und einer gehörigen Prise Punk an. Das funktioniert überraschend gut. Live spielt die Band bewusst provozierend mit Gender-Klischees, und Sänger James Potter wirbelt im durchsichtigen purpurfarbenen Kleid über die Bühne. Mit hochenergetischen Songs wie ‚Cut Your Hair‘ oder ‚I Had The Perfect Life‘ heizen Walt Disco das Publikum an, das sie am Ende dafür auch kräftig feiert. Den Namen Walt Disco sollte man sich merken.

Als nächste spielt LoneLady auf. Hinter dem Namen verbirgt sich die Sängerin, Gitarristin , Songwriterin und Produzentin Julie Campbell aus Manchester. Während ihres Sets füllt sich die Arena weiter. Sie und ihre zwei MitmusikerInnen haben hier ein Heimspiel, und sie machen das Beste daraus. Ihre post-punkigen elektronischen Stücke haben einen industriellen Hauch, der perfekt zur postindustriellen Atmosphäre Castlefields passt. Dennoch, Teile des Publikums nutzen die Gelegenheit, die der Lo-Fi Funk Set des Trios bietet, um sich an den Bier- und Würstchenständen mit Proviant für die anstehende Hauptattraktion zu versorgen.
Bevor es dann endlich Zeit für Primal Scream ist, sind zunächst noch The Mysterines aus dem benachbarten Liverpool an der Reihe. Inzwischen ist die Menge sichtlich angewachsen und freie Plätze sind in der Arena zunehmend schwerer zu finden. Seit sein Debütalbum im März in den Top Ten der Albumcharts gelandet ist, wird das Quartett aus der Klopp- und Beatles-Stadt in britischen Musik-Medien als ganz heißer Tipp gehandelt, und schon der Opener ‚Life‘s A B*tch (But I Like It So Much) macht klar, dass was dran ist am Mysterines-Hype. Als Anheizer sind die vier großartig, ihr grunge-lastiger und manchmal hypnotisch schwerer Rock sowie die großartige Performance von Gitarristin und Sängerin Lita Metcalfe heizen die ohnehin schon fantastische Stimmung in der inzwischen proppenvollen Arena um einige weitere Grade an. Nach dem letzten Akkord der Mysterines zeigt lang anhaltender und teils frenetischer Applaus, dass die Liverpooler auch in Manchester gewonnen haben.
Die mittlerweile 8.000, eine bunte und erwartungsfrohe Mischung der Generationen, sind endgültig bereit für die Hauptattraktion.
Punkt 21 Uhr baut sich zunächst der fünfköpfige Gospel-Chor auf einem Podest im Hintergrund der Bühne auf, vom Band ertönt ‚I Belong to Glasgow‘ von Andy M. Stewart. Dann schreitet Bobby Gillespie gemächlich an den Bühnenrand. Er trägt einen maßgeschneiderten Anzug in den psychedelischen Farben von ‚Screamadelica‘, des Albums, das dem einstmaligen Indieact Primal Scream 1991 den Durchbruch in den Massenmarkt gebracht hatte. Die kurze Tournee, die die Schotten in diesem Jahr spielen, steht ganz im Zeichen des dreißigjährigen Jubiläums von ‚Screamadelica‘.


Gillespie wird mit tosendem Beifall und Sprechchören empfangen. Dann geht’s los. „Wir zelebrieren die heilige Dreifaltigkeit des Rock’n’Roll’“ adressiert er die Menge. „Seid ihr bereit?“ Ein ohrenbetäubendes ‚Ja‘ ist die Antwort der versammelten Gemeinde. Ab geht die Post mit dem gospelinspirierten ‚Movin‘ On Up’, dessen Zeilen anfangs zögerlich, dann zunehmend lauter von der Menge mitgesungen werden. Bobby Gillespie tänzelt leichtfüßig über die Bühne – kaum zu glauben, dass der Mann bereits 60 ist –, und seine Gestik erinnert in Momenten an die eines charismatischen Predigers. Nur dass seine Botschaften im Rahmen einer fundamental-christlichen Kongregation sicherlich ebenso fehl am Platze wären wie die kaum verklausulierten Referenzen zu drogeninduzierten psychedelischen Sinneserfahrungen. Stilistisch ließen sich Primal Scream mit dem Release von ‚Screamadelica‘ nicht mehr in eine vordefinierte Ecke drängen. Mit dem Album brachen die Schotten seinerzeit aus dem Hinterstübchen der Indierock-Klischees aus und öffneten sich für Gospel, Acid House, Dance, R&B und die Rave-Subkultur, die im England der späten Achtziger und frühen Neunziger ihre Hochblüte hatte. Dass das heute noch so frisch und unverbraucht klingt wie vor drei Jahrzehnten, belegt nicht nur der sehr hohe Anteil der unter-Dreißigjährigen im Publikum, sondern auch die Ekstase, in die sich die Menge steigert, je länger das Konzert fortdauert. Es folgen ‚Slip Inside This House‘ und ‚Don‘t Fight It, Feel It’. Letzteren Song widmet Gillespie Denise Johnson. Die Sängerin aus Manchester hatte auf dem Screamadelica Album gesungen und ist auf dem Höhepunkt der Pandemie im Alter von 56 Jahren gestorben.
Es folgt ein weiterer magischer Moment. In der Ansage geht Gillespie auf den Krieg in der Ukraine ein, auf die tiefen Risse die die britische Nation spalten, aber auch die Gesellschaften der USA, Frankreichs und anderer Nationen. Die Aufforderung ‚Come Together‘ ist in Brexit- und Johnson Zeiten so zeitgemäß wie wohl selten zuvor in den vergangenen 30 Jahren und wird zur zelebrierten Hymne für zumindest einen ebenso wunderschönen wie flüchtigen Sommerabend, in dem der zerrissenen Welt vor den Toren der Arena mit Eintracht begegnet wird. Zusammenschluss statt Zersplitterung bis zum Ende des Konzerts. Das weitere Programm besteht aus ‚Inner Flight‘, ‚Screamadelica‘, ‚I‘m Coming Down’, ‚Damaged‘, ‚Higher Than The Sun‘ und ‚Shine Like Stars‘.
Primal Scream haben sichtlich Spaß an ihrem Vortrag, und die pure Spielfreude schwappt von der ersten Sekunde an über auf die dichtgedrängte Menge vor der Bühne. Die Band ist eingespielt, die Show, illuminiert mit aufwändigen Lichteffekten und Videoprojektionen, die in vielen subtilen Variationen den psychedelischen Farbenrausch von ‚Screamadelica‘ wiederbeleben und interpretieren, spricht alle Sinne an. Die Musiker beweisen ihre technischen und musikalischen Qualitäten. Vor allem Bassistin Simone Butler wird schon seit Jahren zu den Besten ihres Faches gezählt und Gitarrist Andrew Innes besticht auch in Manchester mit präzisem Riffing und gefühlvollen Soli.
Vor allem aber ist es Frontmann Bobby Gillespie, der die Show trägt. Entertainer, Magier, Mr. Charisma höchstpersönlich. Er zieht das Publikum in seinen Bann und etabliert von der ersten Minute eine intensive Wechselbeziehung zwischen Bühne und Auditorium.
Um 22:15 Uhr beenden Primal Scream den Set und verlassen die Bühne. Weil die Arena sich in einem Wohngebiet befindet, gibt es strikte Vorgaben: Punkt 22:30 sollen die Lichter an und die Verstärker aus sein. Nach zwei Minuten schlurft Bobby Gillespie auf die Bühne zurück.
Vom Band erklingt das Intro zu ‚Loaded‘:
“We wanna be free, we wanna be free to do what we wanna do. And we wanna get loaded. And we wanna have a good time. And that’s what we’re gonna do. We’re gonna have a good time. We’re gonna have a party!”
Und eine Party wird es, Curfew hin, Vorschriften her. Auf ‚Loaded‘ folgen ‚Swastika Eyes‘ mit Videoreferenzen zu Trump, Johnson und Putin und schließlich ‚Jailbird‘. Und das ist’s dann endlich und eigentlich immer noch viel zu früh, 10:30 Uhr, Show vorbei. Denkste! An Aufhören denkt hier niemand, stattdessen bittet Gillespie eine lokale Legende auf die Bühne, Gary ‚Mani‘ Mounfield, ehemals Bassist der Stone Roses und, von 1997 bis 2008, Vorgänger von Simone Butler bei Primal Scream. Spätestens jetzt ist es purer Rock’n’Roll, der die wie ein Amphitheater aufgebaute Arena zum Toben brachte. ‚Rocks Off‘, der finale Song ist pures Dynamit und beendet schließlich eine sensationelle Vorstellung von Primal Scream in Manchester.
C 2022 by Edgar Klüsener