Woodstock 1969 - Ein Traum von Love and Peace
Ten Years After vierzig Jahre später
Ten Years After vierzig Jahre später: Leo Lyons

Am Anfang war das Chaos: Hunderttausende junger Amerikaner eingepfercht auf schlammigen Kuhwiesen, heftige Regengüsse und Gewitter, katastrophale sanitäre Zustände und mangelhafte medizinische Versorgung. Alle Zufahrtsstraßen heillos verstopft, Nachschub an Nahrungsmitteln und Getränken kam nicht durch. Am Ende musste das Militär Nahrung, elementare Hilfsmittel und medizinisches Personal einfliegen. Das Festival glich einem Katastrophengebiet. Doch statt zum durchaus möglichen Desaster wurde Woodstock 1969 zur Legende, zum langlebigen Mythos einer globalen Jugendkultur.*

Für Leo Lyons war 1969 Woodstock zunächst einmal nur ein Festival unter vielen. Mit seiner Band Ten Years After tourte er in diesem Jahr kreuz und quer durch die USA. Auf dem Texas Pop- Festival hatten sie schon gespielt, dann auf dem Newport Jazz-Festival in St. Louis, zusammen mit Jazzern wie Dizzy Gillespie. Für den darauf folgenden Tag stand schließlich Woodstock auf dem Programm. Für die Briten nur ein Ortsname unter vielen, lediglich eine weitere Station auf ihrem endlosen Zug durch die Weiten Amerikas.?? „Wir wussten nur, dass Woodstock irgendwo in New York lag und dass wir am nächsten Morgen früh raus mussten, um den Flieger zu erwischen“??, erinnert sich Leo. „??Wir waren erst am zweiten Tag dran, als in Woodstock schon längst das Chaos tobte. Von dem wussten wir allerdings nichts. Erst unser Manager sagte uns schließlich auf dem Weg vom Flughafen nach Woodstock, was dort los war.??“

‚Los‘ waren weit über eine Million Menschen, die sich aus allen Teilen der USA auf den Weg nach Woodstock gemacht hatten. ‚Los‘ waren 400.000 Kids, die tatsächlich bis zum Festivalgelände durchgekommen waren. Das waren immer noch 350.000 mehr als die etwa 50.000, mit denen die Veranstalter ursprünglich gerechnet hatten. ‚Los‘ waren außerdem niedergerissene Zäune und die vom Massenandrang erzwungene Umwandlung des Festivals in ein kostenloses Konzert, die den Veranstaltern zunächst einmal Millionenverluste einbrachte.

Überhaupt, die Veranstalter: Da waren zum Einen die Jung-Investoren John Roberts und Joel Rosenman, beide aus vermögendem Haus und eher an der Wall Street zuhause denn in den Hippiekommunen der späten Sechziger, und zum anderen ein Duo örtlicher Musiker und Musikunternehmer, Artie Lang und Martie Kornfield. Letztere verstanden wenigstens von der technischen Seite der Konzertorganisation etwas und hatten einige der besten Bühnen- und Technikcrews verpflichtet, die in den USA zu der Zeit zu haben waren. Aber keiner der Vier hatte eine wirkliche Vorstellung von der Logistik, die eine Veranstaltung dieser Größenordnung erforderte.

Das Chaos war schon beinahe perfekt, bevor auch nur der erste Musiker auf die Bühne trat. Und trotzdem wurde Woodstock zum Mythos der Hippiebewegung, zum Jubelfest der amerikanischen Antikriegsbewegung, zur Wiege des Traums von einer globalen Hippie-Jugendkultur neuen Typs. Gründe dafür gab’s verschiedene. Einer war sicherlich das Aufgebot von namhaften Bands und Musikern, von denen etliche damals bereits zu den ganz großen Namen zählten oder doch zumindest vor dem Durchbruch standen. Unter ihnen Arlo Guthrie, Sohn der Folklegende Woodie Guthrie, Joan Baez und Santana. Andere waren Bands wie The Who, The Grateful Dead, Crosby, Stills, Nash & Young oder die britischen Underground-Rocker Ten Years After.

Woodstock 1969 - Ein Traum von Love and Peace
Woodstock 1969 – Ein Traum von Love and Peace

Ein anderer Grund war, dass das Festival trotz des allgegenwärtigen Chaos friedlich blieb. Es kam weder zu Gewalt noch zu Massenpaniken, stattdessen herrschte ein Geist der Kooperation, des „Jede hilft Jedem“. Und die Menge hatte trotz allem, trotz sintflutartiger Regenschauer, trotz Gewitter, trotz Chaos und trotz fehlender sanitärer Einrichtungen ihren Spaß. Woodstock war der Höhepunkt des Summers Of Love, ein Hippietraum von Love and Peace, der für einige Tage Wirklichkeit werden sollte. Außerdem war Woodstock eine politische Demonstration. Bei aller Naivität, die vor allem in der historischen Rückschau so verblüffend scheint, hatte die Hippiebewegung und ihre radikaleren Ausformungen wie Yippies und andere linke Gruppierungen durchaus eine politische Agenda. Sie war Part des breiten Widerstands gegen den Vietnamkrieg und Teil der Bürgerrechtsbewegung, beeinflusst vom LSD-Propheten Timothy Leary ebenso wie von Black Panther-Führer Eldridge Cleaver und den radikalen Aktivisten um Jerry Rubin und Abbie Hoffman, die in einem Chicagoer Gerichtssal den Begriff von der Woodstock Nation prägten. Die Politisierung der amerikanischen Jugend war umfassend und erstaunte Europäer, die in diesem Jahr in die USA reisten.

Leo Lyons verblüffte die starke Politisierung seines amerikanischen Publikums:

„Die britische Definition von ‚Underground‘ war in jenen Jahren primär eine musikalische. Kleidung und Aussehen hatten nicht diese politische Signifikanz wie in Amerika. Als wir unsere erste Amerika-Tour spielten, waren wir überrascht, wie sehr unser Aussehen und unsere Musik uns in den Augen des Publikums und der Presse automatisch in eine ganz bestimmte politisch-weltanschauliche Ecke stellten. Überraschend war auch, wie schnell Gespräche mit Fans und Presseleuten ins Politische wechselten, Themen wie die Bürgerrechtsbewegung und den Vietnamkrieg berührten.“

Der Höhepunkt des Festivals war der Moment, in dem Jimi Hendrix die amerikanische Nationalhymne systematisch in einer Orgie von Rückkopplungen und Verzerrungen zerstörte, stellvertretend für alles, was hässlich war an diesem Amerika der Sechziger. Es war zugleich ein ambivalenter Moment, denn der ehemalige, nach dreizehn Monaten allerdings vorzeitig entlassene, GI Jimi Hendrix war durchaus ein Patriot und alles andere als ein überzeugter Anti-Militarist.

Trotz allem, Woodstock wäre wohl nur ein Festival von vielen geblieben, wenngleich ein spektakulär schlecht organisiertes und ein Millionenverlust für die Veranstalter, hätte es da nicht noch diesen Film gegeben. Erst der dreieinhalbstündige Film, der ein gutes Jahr nach dem Festival in die Kinos kam, begründete wirklich und nachhaltig den weltweiten Mythos Woodstock.

Da hatte die Wirklichkeit den Mythos allerdings bereits überholt. Die Hippiebewegung war in unzählige Sub-Subkulturen zersplittert, einige waren in den Terrorismus abgewandert, und exzessiver Drogenkonsum dezimierte in den folgenden Jahren die Schar der Rockmusiker dieser Generation erheblich. Festivals verschanzten sich hinter Stacheldraht wie in Fehmarn oder uferten in Gewalt aus wie in Altamont. Und als dann noch das Publikum begann, Festivalbühnen abzufackeln, wie 1977 in Scheeßel, war der Mythos auch hierzulande endgültig am Ende.

Edgar Klüsener

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