ExtrabreitExtrabreit live beim Tower-Festival. Foto: Frank Schwichtenberg (Schwicht de Burgh Photography), Creative Commons

Nena, Extrabreit, Eroc, Grobschnitt…. Für einen kurzen Augenblick in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts war Hagen eine Popmetropole von westdeutsch-nationaler Bedeutung. „Komm nach Hagen, werde Popstar“, texteten Extrabreit damals, und der Ruf wurde gehört. Die Medien wurden aufmerksam und kamen nach Hagen, Musiker zogen aus anderen Städten zu, die Stadt am Volmestrand war plötzlich angesagt. Eine Art Seattle-Effekt in der westfälischen Provinz. Bald darauf jedoch versank die Stadt wieder in provinziellem Tiefschlaf, die Karawane zog weiter. Hagens flüchtiger Moment als Popmetropole der BRD hatte dennoch Folgen für die deutsche Rock- und Medienwelt.

Irgendwo am Rande des Sauerlands, fast noch Ruhrgebiet, aber eben doch nicht mehr ganz, liegt diese kleine Großstadt. Dicht bewaldete Hügel des Sauerlandes begrenzen sie im Süden, im Westen die Höhen des Bergischen Landes und im Norden und Osten die an manchen Stellen fast idyllischen Flußlandschaften von Lenne und Ruhr. Mitten durch die Innenstadt fließt die Volme, zu breit für einen Bach, aber auch noch kein richtiger Fluss. So wie Hagen zu groß für eine Kleinstadt ist, aber zu klein für eine Großstadt. Etwas über 200.000 Menschen lebten hier noch in den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Seitdem fällt die Zahl ständig. Schuld daran ist vor allem die Industrie. Oder vielmehr: deren Fehlen. Denn die Schwerindustrie hatte noch bis ins letzte Drittel des Zwanzigsten Jahrhunderts das Bild der Stadt bestimmt, hatte Brot und Arbeit garantiert und ein kleines bisschen Wohlstand. Sie hatte arbeitssuchende Einwanderer aus Ländern wie Italien, der Türkei oder Griechenland angelockt und so dazu beigetragen, dass die Stadt zumindest an der Oberfläche ein wenig multikultureller wurde. Als jedoch die Stahlindustrie starb, starb auch Hagen, langsam und schleichend. Aber nicht lautlos. Mitten in der Depression explodierte die Stadt plötzlich in einem kurzen, aber dafür umso grelleren Feuerwerk der Kreativität. Das war, als Hagen plötzlich rockte.

Hagener Innenstadt
Hagener Innenstadt

Musik war für viele der letzte, der einzige Ausweg aus der grauen Öde der siechenden Stadt, ein Aufschrei der Frustration, irgendwie auch ein Hilferuf. Der erdrückenden Langeweile, der provinziellen Enge konnte nur noch mit schrillen Tönen begegnet werden. Hagen war allerdings nicht Hamburg, München oder Berlin. Nicht einmal Köln. Hagen war Provinz, was dort vor sich ging, interessierte schon zehn Kilometer weiter meist weniger als der Jahresbericht des Taubenzüchtervereins. Gut, es gab Grobschnitt, die Progressiv-Rocker, die in den Siebzigern mit langatmigen Mega-Kompositionen wie ‚Solar Music‚ zu Krautrock-Pionieren geworden waren. Aber das war’s auch schon. Auf Popmusik aus Hagen hatte niemand gewartet. Nicht einmal im benachbarten Dortmund. Wer was werden wollte, wer künstlerische Ambitionen hatte, Freiheit und Abenteuer suchte, der verließ die Stadt so schnell wie möglich. Wie die Humpe-Schwestern, die nach West-Berlin ausbüchsten. Andere aber blieben. Und weil weder Medien noch Plattenfirmen freiwillig nach Hagen kamen, schufen sie sich eben eigene Medien, Plattenfirmen, Managements, Konzertbüros und Musikverlage und schrien ihre Existenz laut in die Welt hinaus. Es gab verschiedene Epizentren des Bebens, das von Hagen aus in den nächsten Jahren die bundesdeutsche Musikwelt erschüttern und verändern sollte. Die meisten konzentrierten sich auf den Ortsteil Wehringhausen, das Viertel der links angehauchten Studentenszene, der Künstler und Musiker und der Kinder der Nacht.

Wichtiger noch aber war, zumindest für einige Monate, ein grauer Bürobau am Rande Wehringhausens. Die Berliner Straße verbindet die Innenstadt mit dem Vorort Haspe. Damals führte sie vorbei an dunklen Mietskasernen, an Fabriken und Lagerhallen. In einem tristen Zweckbau an der Berliner Straße, irgendwo zwischen Wehringhausen und Haspe, hatte sich 1979 eine kurzlebige Bürogemeinschaft etabliert, in der all die wichtigen Akteure der Hagener Szene und ihres Umfeldes unter einem Dach arbeiteten, die in den folgenden Jahren deutsche Musik- und Popmediengeschichte mitgestalten sollten.

Auf Popmusik aus Hagen hatte niemand gewartet…

Kai Havaii Foto: Peternfuchs (Creative Commons)
Kai Havaii
Foto: Peternfuchs (Creative Commons)

Angemietet hatten das Gebäude die Geschäftspartner Hartwig Masuch und Ulrich Wiehagen. Die beiden betrieben zusammen einen Musikverlag, bei dem unter anderen die Bands The Stripes, mit Sängerin Nena, und Extrabreit unter Vertrag waren, wie auch The Ramblers, deren Sänger Hartwig Masuch war, allerdings unter dem Künstlernamen Christian Schneider. Uli Wiehagen gab außerdem die Zeitschrift Musiker/ Musik News heraus. Deren Chefredakteur war für einige Monate Jörg Hoppe,  der Kopf hinter Extrabreit, und ihr Chefdesigner Kai Schlasse alias Kai Havaii. Eine weitere Mitarbeiterin war Gundi Brühl. Den Satz besorgte Jürgen Wigginghaus. Nebenan werkelte eine Konzertagentur, die Tourneen für Extrabreit, Fehlfarben, The Stripes und andere Bands buchte und in der Peter Dell, späterer Bassist der Heavy Metal-Gruppen Faithful Breath und Risk das Tagesgeschäft erledigte.

Alle, die hier arbeiteten, hatten zweierlei gemeinsam: sie wollten raus aus der Provinz, und sie sollten in den folgenden Jahren eine wichtige Rolle in Deutschlands Musik- und Medienwelt spielen.

Da wäre der Malersohn und Rolling Stones-Fan Hartwig Masuch, für den es schon zu Schulzeiten klar war, dass außer Musik für ihn nicht viel anderes in Frage kam. Er war nicht nur der Sänger der Band The Ramblers, er hatte mit seinem Partner Uli Wiehagen auch kurzerhand noch ein Management aufgebaut. Und einIn einem tristen Zweckbau an der Berliner Straße, irgendwo zwischen Wehringhausen und Haspe, hatte sich 1979 eine kurzlebige Bürogemeinschaft etabliert, in der all die wichtigen Akteure der Hagener Szene und ihres Umfeldes unter einem Dach arbeiteten, die in den folgenden Jahren deutsche Musik- und Popmediengeschichte mitgestalten sollten.en Musikverlag. Für letzteren nahm er fleißig junge Bands unter Vertrag. Wie Extrabreit, Ina Deter, Abwärts oder wie The Stripes. Die schickte er zum Aufnehmen von Demobändern nach Hiltpoltstein, wo Jonas Porst, Sohn des einzigen westdeutschen kommunistischen Großunternehmers und der Mann hinter Ihre Kinder, ein Tonstudio betrieb. Mit den Aufnahmen suchte – und fand- er dann Plattenfirmen für seine Bands. Zupass kam ihm da sicherlich auch das Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Ruhruniversität Bochum. Heute ist Hartwig Masuch längst kein Sänger Christian Schneider mehr, wohl aber unter eigenem Namen der CEO von BMG Rights Management und damit eine der Schlüsselfiguren im weltweiten Musikgeschäft.

Jörg Hoppe, kurzzeitiger Chefredakteur des Musiker, war in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts Hagens Antwort auf Malcolm McLaren, ein umtriebiger Konzertveranstalter, Journalist, Promoter, Manager und Popideologe, vor allem aber Manager von Extrabreit. Seine Wohngemeinschaft in der Wehringhausener Buscheystraße 56 war eine der kreativen Kernzellen der Hagener Szene. In ihr lebte nicht nur Kai Hawaii, auch die Gruppe Kein Mensch und der Künstler Wolfgang Luthe waren Teil der WG. In späteren Jahren produzierte Hoppe Deutschlands erste Heavy Metal TV-Show für den damals noch jungen und aufregenden Privatsender Tele 5, gründete zusammen mit Christoph Post und Marcus Rosenmüller die Film- und TV-Produktionsgesellschaft MME, war Gründungsgesellschafter von VIVA und erhielt nicht zuletzt 2000 den Grimme-Preis für die bahnbrechende TV-Dokumentation „Pop 2000“.

Jürgen Wigginghaus 1988
Jürgen Wigginghaus 1988

Jürgen Wigginghaus hatte schon ein Kapitelchen deutscher Rockgeschichte geschrieben, bevor es ihn als Setzer in die Berliner Straße verschlug. 1976 hatte er im Heideörtchen Scheeßel ein dreitägiges Rockfestival veranstaltet, bei dem jede Menge großer Namen aus Europa und den USA auftreten sollten. Sollten ist hier das passende Wort, denn einige von den amerikanischen Hauptattraktionen zogen es vor, zwar die Vorkasse einzustreichen, dann aber doch nicht in die Heide zu reisen. Was dazu führte, dass die niederländischen Rocker Golden Earring den längsten Gig ihrer Karriere spielten, aber trotzdem nicht verhindern konnten, dass wütende Fans am Ende die Bühne abfackelten und den Veranstalter am nächsten Baum aufknüpfen wollten. Der entkam dem Chaos knapp im Kofferraum eines Mercedes. „Rock in Scheeßel, Feuer in der Nacht“ war der Titel des Songs in dem die Deutschrocker Franz K das Geschehen später besingen sollten. Und „Scheeßel“ war der Schlachtruf den wütende Konzertbesucher Wochen später auf den Lippen hatten, als auf der Lorelei erneut eine Bühne in Brand gesetzt wurde, diesmal, weil Jefferson Airplane einfach nicht erschienen waren. Jürgen Wigginghaus sollte nicht lange der Setzer in der Berliner Straße bleiben, sondern sich bald selber zum Verleger wandeln. 1984 gründete er das Magazin Metal Hammer, das bereits 1988 das größte Heavy Metal Magazin der Welt war. Landessprachliche Ausgaben erschienen in Holland, Großbritannien, Spanien, Griechenland, Italien, Frankreich, Ungarn, Polen und am Ende sogar in Gorbatschows UdSSR. Anfang 1986 hatte es noch ein Konkurrenzmagazin gegeben, herausgegeben von der Münchener Marquardt-Gruppe (Musik Express/Sounds, Cosmopolitan, Harper’s Bazar), das den Titel Crash trug und dessen Chefredakteurin die bereits erwähnte Gundi Brühl war. Als Jürgen Wigginghaus 1986 den Metal Hammer an die Marquardt-Gruppe verkaufte, wurden Metal Hammer und Crash zu einem Magazin zusammengelegt. Heute ist Metal Hammer immer noch eine der wichtigsten Rockzeitschriften der Welt. Jürgen Wigginghaus allerdings hat sich wieder ins Sauerland zurückgezogen, wo er von Lüdenscheid aus ein kleines Regionalmagazin-Imperium aufbaut.

Der Bürogemeinschaft in der Berliner Straße war kein langes Leben beschieden. Doch ohne die, die damals für kurze Zeit in ihr arbeiteten, sähe Deutschlands Musikwelt heute anders aus.

 

Ach ja, fast vergessen: Der Autor, Edgar Klüsener, war von 1987 bis 1990 Chefredakteur des Metal Hammer und natürlich ebenfalls aus Hagen. Zusammen mit Peter Dell, dem späteren Bassisten von Faithful Breath und Risk, betrieb er von der Berliner Straße aus außerdem die Konzertagentur ALLES LIVE, die unter anderen Tourneen für Extrabreit buchte.

Ein Gedanke zu „Es war einmal… in Hagen“

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