Bon Jovi auf dem Moscow Music Peace Festival, 1989

Diese Zeitgeschichte erzählt von einigen kalten Wintertagen Ende 1988 in der russischen Hauptstadt Moskau. Damals gab es noch die Sowjetunion, Mikhail Gorbatschow war der neue Vorsitzende der KPdSU und hatte gerade sein Programm der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erneuerung gestartet. Glasnost und Perestroika waren die Schlagworte für Konzepte gesellschaftlicher Erneuerung, die nicht nur im Sowjetblock die Menschen elektrisierten. In der Folge zeigte der Eiserne Vorhang, der Europa in der Zeit des Kalten Krieges in zwei hermetisch voneinander abgeschottete Hälften, geteilt hatte, erste Rostlöcher. Durch diese schlüpften auch westliche Rockbands. Im April 1988 war ich mit den Scorpions in Leningrad später im selben Jahr dann mit den Toten Hosen und Ülo in Litauen, damals noch eine Teilrepublik der Sowjetunion. Die Winterreise, der dritte Ausflug in die Sowjetunion im Jahr 1988, von der in der Folge die Rede sein wird, hatte zwei Gründe. Zum einen war ein Treffen mit Stas Namin anberaumt, in dem ausgelotet werden sollte, ob es eine Zukunft für eine russischsprachige Version des Metal Hammer geben könnte. Zum anderen gab es etwas zwischen Stas Namin und dem Bon Jovi-Manager Doc McGhee zu besprechen, das auf ein Großereignis im August 1989 hindeutete. 

Väterchen Frost zeigte sich streng. Minus 15 Grad bescherte er den Moskauern und dazu jede Menge Schnee. Und das bereits Ende November, zu einer Zeit also, in der sich unser heimatliches Klima noch beharrlich weigert, die Temperaturen unter die magische Marke Null sinken zu lassen, uns höchstens einmal in höheren Lagen Schneeregen und morgendliches Glatteis beschert. Was mitteleuropäischen Autofahrern jedoch durchaus schon als Grund reicht, ein bemerkenswertes Chaos auf Straßen und Autobahnen anzurichten.

Ganz anders in Moskau. Die Autofahrer der zehn Millionen Einwohner zählenden Sowjet-Metropole beherrschen ihre Vehikel in jeder Schnee- und Eislage perfekt. Ein Blick auf den Tacho beweist es: Mit 80 Sachen prescht unser Fahrer über eine Fahrbahn, die so spiegelglatt ist, wie sie aussieht, schleudert leicht in den Kurven, hat jedoch den Wagen in jeder Sekunde der Fahrt voll unter Kontrolle. Nicht unter Kontrolle ist dagegen der eigene Herzschlag, der ständig neue Spitzengeschwindigkeiten vorlegt, wenn der Wagen in hohem Tempo auf einen Fußgängerüberweg zubraust, auf dem sich Scharen von Passanten bewegen. Bremsen ? Freilich, aber doch bitteschön erst in letzter Sekunde. Es ist alles eine Frage der Gewöhnung. Die Passanten lassen sich nicht aus der Ruhe bringen, der Chauffeur nicht, nur Metal Hammer Chefredakteur Edgar Klüsener  und Metal Hammer-Herausgeber Jürgen Wigginghaus

Jürgen Wigginghaus 1988

stöhnen immer wieder gepeinigt auf und sind heilfroh, als die Fahrt am ihnen zugedachten Hotel endlich ihr Ende findet. Der Name der Unterkunft ist unaussprechlich, lässt sich aber, so versichert der uns für die Dauer unseres Aufenthaltes zugewiesene Schutzengel Sascha, bequem auf CeDeTe abkürzen. Nun denn, halten wir’s also für derhin damit. Ansonsten ist das Hotel bemerkenswert gigantisch. 22 Stockwerke, mehrere Restaurants und Bars (die um 23.00 Uhr Ortszeit schließen), Swimming Pool (überdacht natürlich) und ein professionelles Tonstudio beherbergt es ebenso wie diverse kleine Läden und Verkaufsstände. Trotzdem ist es keins von den besten der Stadt. Die befanden sich am Tage unserer Ankunft noch fest in den Händen des französischen Ministerpräsidenten Mitterand und seiner Gefolgschaft, den Delegiertinnen des Frauenverbandes der KPdSU und anderer offizieller Würdenträger und Amtsinhaber.

Dass es in der Sowjetunion bereits lange vor dem Fall des Eisernen Vorhangs eine rege Metalszene gab, war damals im Westen weitgehend unbekannt.

Aber zurück zum CeDeTe: Zum Hotel gehört außerdem eine Konzerthalle, in welcher gelegentlich auch Rockbands, darunter, man höre und staune, sogar sowjetische Speed- und Thrash-Kapellen auftreten. In der Hauptsache ist die Örtlichkeit jedoch Kongressen, Meetings und der eher seichten Muse vorbehalten.Das CeDeTe erfüllt offensichtlich alle Ansprüche. Doch nicht seinetwegen sind wir in die Metropole an der Moskwa gereist. Der Grund für den Ausflug in Eis und Schnee ist vielmehr ein Besuch im Moskauer Musik-Center, das erste privatwirtschaftlich organisierte professionelle Musik, Veranstaltungs-, Produktions- und Managementunternehmen in der Geschichte der UdSSR. Glasnost und Perestroika machten’s möglich.

Sascha holt uns eine Stunde nach dem Einchecken wieder vom Hotel ab. Mit einem neuen Wagen und einem anderen Fahrer. Auf geht’s in den Gorki Park, idyllisch und tief verschneit am Ufer der Moskwa sich dahinstreckend. „Knapp drei Kilometer des Parks„, erklärt Ssascha, „sind von der Zivilisation erschlossen, bebaut und vielfältig genutzt. Die restlichen 5O Kilometer überwuchert ein natürlicher Urwald…“ Die Erklärung beeindruckt ebenso wie die geschilderten Dimensionen. Das Musik-Center liegt Gott sei dank im erschlossenen Teil des Parks, ist also mit dem Wagen bequem erreichbar.

Und es hat ein Restaurant. Oder vielmehr eine Cafeteria, in der auch warme Mahlzeiten serviert werden. Es sind nur wenige Leute anwesend, eine kleine Gesellschaft also, die jedoch umso internationaler ist. Doc McGhee ist da, bekannt als Manager von Bon Jovi, den Scorpions, Cinderella und vieler anderer Majorbands. Bob Tulipan ist da, ein freier Promoter mit Offices in London und New York, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die Stars des Bolschoi-Ballets mit denen der Leningrader Konkurrenz vom Kirov-Ballet zusammen auf Tour zu schicken. Außerdem Dmitry V. Shavirin, Redakteur der Tageszeitung Moskovsky Komsomolets sowie der Präsident Dennis Berardi (seinen Vize hat er gleich auch noch mitgebracht) von Kramer-Guitars. Letztere beiden haben im übrigen das Management der Gruppe Gorki Park, wir haben sie Mitte letzten Jahres bereits einmal vorgestellt, übernommen. Und dann sind da noch einige ausgesprochene Schönheiten weiblichen Geschlechtes. Und zwar die letztjährige Miss Moskau, ihre Kollegin Miss Sibiria und, ebenso ansehnlich wie schüchtern, Miss Asia. Mit diesen jungen Damen hat es eine besondere Bewandtnis: Sie alle nämlich werden ebenfalls vom ‚Center‘ gemanaged. Womit sich zeigt, dass dessen Aktionsradius weit über die schnöde Rockmusik hinausreicht…

Amerika entdeckt anscheinend die Sowjetunion. Glasnost und Perestroika machen’s möglich, dass die Rockwelt West enger als bisher mit der Rockwelt Ost zusammenwächst Die Rockwelt West, Sektion West-Germany (Plattenfirmen von WEA bis BMG Ariola), wird übrigens eine Woche nach diesem Treff in der Cafeteria des Musik-Centers erneut geschlossen in Moskau sein. Diesmal um der Livepräsentation von rund 30 sowjetischen Metalbands beizuwohnen. Aber das nur am Rande.

Verlassen wir nun das Musik Center und schlendern wir zurück ins Hotel CeDeTe. Dort läuft gar nichts mehr, die Bar ist ebenso dicht wie die Souvenirshops. Nightlife auf sowjetisch? Nicht die Bohne, als Alternative bleibt nur das Bett. Aus dem es am nächsten Morgen recht zeitig wieder rausgeht. Dmitry Shavirin hat sich angesagt und will sein Interview mit dem Metal Hammer/Crash. Über diese unsere Publikation, in der SU ebenso bekannt wie unerschwinglich (80 Rubel, das entspricht einem legalen Umtauschwert von 240 DM, ist der Schwarzmarktpreis für eine Ausgabe), soll in der Moskowsky Komsomolets (Auflage immerhin gut 1 Million Exemplare täglich) eine große Geschichte erscheinen.

Das Interview

Nach dem Interview dann Sightseeing. Soweit bei dem grautrüben Winterwetter, das draußen das Bild bestimmt, von ‚Sehen‘ überhaupt die Rede sein kann. Es schneit ununterbrochen.

Sascha kommt – mit neuem Auto und neuem Chauffeur…

Sagmal, Sascha, wo bekommst Du eigentlich ständig die Fahrzeuge her?

Ich stehle sie…

Du machst waaaasss?!

Naja, stehlen ist vielleicht das falsche Wort. Ich leihe sie mir halt aus… Vom Peace Committee.

Das ‚Peace Committee‘ ist eine staatliche Organisation, die direkt dem ZK der KPdSU untersteht. Aufgabe des Komitees ist die Organisation und Durchführung aller möglichen und unmöglichen Aktionen, die der Propagierung und der Sicherung des Friedens dienen. Das Komitee lädt Delegationen ausländischer Friedensgruppen ins Land, führt Tagungen und Kongresse durch, wirbt für Frieden und Abrüstung ebenso wie für Völkerverständigung, stellt sich dabei auch schon mal gegen die eigene Regierung und gegen Armee und Partei und unterstützt offen und versteckt die Aktivitäten des Centers. Für seine Zwecke, in diesem Fall Abrüstung, wirbt das Komitee auch schon mal mit ebenso anzüglichen wie griffigen Slogans. Make Love Not War ist so einer, bekannt von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung Ende der Sechziger, und Fuck For Peace ist ein anderer, doch bitteschön jeder beherzigen sollte.

Wenn Sascha nicht gerade Metal Hammer/ Crash-Redakteure, -Herausgeber und ähnliche Leute auf Schritt und Tritt begleitet, dann arbeitet er als Dolmetscher und Betreuer ausländischer Gruppen für das ‚Peace Committee‘. Das wiederum unterhält einen eigenen Wagenpark (samt zugehöriger Chauffeure), aus dem sich Sascha denn auch schamlos, obzwar nicht ganz legal, für unsere Transportzwecke bedient Es folgt ein Abstecher in eins der riesigen Moskauer Kaufhäuser. Deren Ausstattung läßt sich kaum an westlichen Standards messen, zu frisch ist noch Perestroika und zu schlecht noch die Versorgung mit Konsumartikeln, selbst in der Hauptstadt des Eurasischen Riesenreiches. Zumindest offiziell. Auf dem Schwarzmarkt ist die Situation wesentlich besser.

Sascha: „Auf dem schwarzen Markt kann man nahezu alles bekommen. Es gibt eine regelrechte Mafia, die den schwarzen Markt kontrolliert. Vor allem georgische Bauern verdienen sich dumm und dämlich. Sie bringen nur einen Teil ihrer Erzeugnisse in den offiziellen Warenumschlag ein, der Rest versickert auf dem grauen und dem schwarzen Markt. Melonen zum Beispiel, legal in Moskau so gut wie gar nicht zu bekommen, werden auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Preisen gedealt. Bis zu 50 Rubel und mehr zahlt die Moskauer Hausfrau für eine Melone…

Vielmehr: die Hausfrau zahlt nicht, für sie ist die Melone schlicht unerschwinglich. Bezahlbar ist sie eigentlich nur für hohe Staatsbedienstete, für die neue Klasse der privaten Unternehmer und für andere finanziell Privilegierte. Wen wundert es da noch, dass es in den fruchtbaren und klimatisch begünstigten Schwarzmeer-Regionen die meisten sozialistischen Millionäre gibt?!

Wir haben, erstmals in der Geschichte der Sowjetunion, Ankunftszeit und -ort von Bon Jovi über die Tagespresse und übers Moskauer Fernsehen bekanntgemacht. Am Flughafen wird also die Hölle los sein…

Sascha grinst, als er uns dies mitteilt. Wir sind zurück im Center, wo sich die Belegschaft aufmacht, Bon Jovi am Flughafen zu empfangen. Ein Autokonvoi wird zusammengestellt, bestehend aus Wolga – 12 – Zylinder-Limousinen, BMW’s und anderen standesgerechten Fahrzeugen. „Bis vor acht Tagen war Bon Jovi in der UdSSR kaum bekannt, weit weniger jedenfalls als Bands wie die Scorpions oder Metallica. Dann haben wir unsere Medienkampagne gestartet, und jetzt kennt jeder Fan von Sibirien bis Leningrad die Jungs aus New Jersey. Ich schätze, dass am Flughafen trotz des miesen Wetters rund 7.000 Kids auflaufen werden…„, erläutert eine Mitarbeiterin des Centers. Ein Empfang also, wie er in unseren Breiten seit den seligen Zeiten der Beatles oder der Stones kaum noch einer Rockgruppe zuteil geworden ist.

Der Autokonvoi setzt sich in Bewegung, vornweg ein Polizeiauto mit eingeschaltetem Blaulicht. Damit beginnt eine der der beeindruckendsten Fahrten, die alle Beteiligten je miterlebt haben. Als gelte es, einen hochrangigen Staatsmann, von woher auch immer, sicher durch Moskau zu eskortieren, haben Milizen auf einer Länge von gut 30 Kilometern den Weg vom Center zum Flughafen, den der Konvoi nehmen sollte, durchweg für den normalen Feierabendverkehr gesperrt. Die Folge ist ein riesiger Verkehrsstau, den die an solches offenbar gewöhnten Moskauer jedoch geduldig und mit Fassung tragen.

Wie ist sowas möglich?

Auch selbst ein erfolgreicher Musiker: Stas Namin

Stas Namin„, so erklärt Sascha, “ ist ein Mann mit sehr weitreichenden Beziehungen. Die gehen bis in die obersten Spitzen des Politbüros, ermöglichen ihm also so einiges mehr als wahrscheinlich jedem anderen Vertreter der sowjetischen Rockszene…

Die Schätzungen waren nicht überzogen, runde 7.-8.000 Kids bevölkern die Hallen des internationalen Flughafens von Moskau, darunter ein Fernsehteam, sehr viele Fotografen — und erstaunlich wenig Miliz und anderes Ordnungspersonal. Die öffentliche Ordnung ist anscheinend völlig überrascht worden von dem Ansturm.

Bon Jon, Bon Jon…„, skandieren die Fans.

Und dann kommt die Band tatsächlich durch die V.I.P.-Abfertigung, eingekeilt zwischen Betreuern und Security. Nur wenige Anwesende erhaschen einen kurzen Blick auf die Amis, bevor diese dann in einem abgetrennten Bereich des Flughafens verschwinden. Recht verloren wirken die jungen Damen, die den Musikern Blumensträuße als Willkommensgruß überreichen sollten und nun vor dem Eingang zum V.I.P.-Bereich herumlungern.

Wenn schon nicht Bon Jon, dann zumindest Metal Hammer…„, mag sich so mancher Fan gedacht haben, als irgendein Schlaumeier, weiß der Teufel wie, uns als Mitarbeiter eben dieser Zeitschrift identifiziert hat. Plötzlich sind wir umkreist von unzähligen Kids, die Autogramme verlangen, Poster zur Unterschrift präsentieren, alles über Anthrax wissen wollen und über U.DO, und ansonsten den Oliver Klemm vermissen, der beim Gros der deutschsprechenden sowjetischen Metal Hammer offenkundig als der Schreiber bekannt ist. Einer Versetzung des entsprechenden Herrn ins anheimelnde Sibirien stünde damit wohl nichts mehr im Wege. Als Fehler erweist sich dann eine freundlich gemeinte Geste von Jürgen Wigginghaus, der einige Exemplare des Metal Hammer an die Umstehenden verteilen will. Er geht unter in einem Pulk von Fans und wird fast zu Boden gerissen.

Woraufhin er dann dem Fahrer die Tüte mit den restlichen Magazinen in die Hand drückt und ihn bittet, diese im Wagen zu verstauen. Bis zu diesem allerdings kommt der Fahrer nicht, weil er vorher schon auf halber Strecke von zwei Herren in grauen Mänteln beiseite genommen und verhaftet wird. Es kostet Sascha eine Viertelstunde beredter Überzeugungsarbeit, den Chauffeur aus den Klauen des KGB zu befreien.

Wir treffen Bon Jon später im Center…

So die Auskunft eines entnervten Betreuers am Flughafen. Da die staatlichen Ordnungskräfte vom Ansturm der Fans ebenso überrascht wie überfordert scheinen, muss die Band auf Schleichwegen aus dem Flughafengebäude gebracht und zum Hotel verfrachtet werden.

Apropos Bon Jovi: Die sind nicht etwa zum Spielen ins moskowitische Großreich gekommen, sondern nur und ausschließlich zum Zwecke der Promotion. Promotet werden soll ein Festival, das Mitte 1989 in Moskau stattfinden wird, organisiert von der ‚Make A Difference Foundation‘. Das schreit nach einer weiterführenden Erklärung. Hier ist sie:

20 Jahre nach Woodstock…

Die Grundidee ist simpel. Vor Genau 20 Jahren fand im amerikanischen Bundesstaat New York, im Städtchen Woodstock, ein Rockfestival statt, das als eins der bedeutendsten in die Rockgeschichte ebenso eingegangen ist wie in die Geschichte der weltweiten Jugendbewegungen. Love & Peace war das Motto, die politischen Aussagen richteten sich gegen den Vietnamkrieg, gegen Rassismus und gegen die überholten Konventionen der Elterngesellschaft. Ein anderer Aspekt war die hemmungslose Propaganda für ‚bewußtseinserweitemde‘ Drogen. Tune in, tarn on, drop out der Kernslogan, die Aufforderung überkommenen gesellschaftskonformen Konventionen den Rücken zu kehren, auszusteigen und eine neue Welt der Jugend aufzubauen — mit Drogen als unentbehrlichen Hilfsmitteln.

Der Vietnamkrieg ging tatsächlich zuende, die Gesellschaft blieb im Prinzip wie sie war, nur die Drogen erlebten einen wahren Siegeszug, in West und Ost…

Das „Woodstock Jubilee“ Festival soll nicht nur an das Ereignis vor 20 Jahren erinnern, sondern auch neue Zeichen setzen für Völkerverständigung, Frieden und eine Jugendkultur, die nach wie vor lebendig ist, weltweit. Vor allem aber soll den Drogen, die einigen der Woodstock-Teilnehmern zum tödlichen Verhängnis geworden sind, diesmal eine klare und knallharte Absage erteilt werden. Als Teilnehmer werden derzeit gehandelt:

Ozzy Osbourne

The Scorpions, Bon Jovi, Mötley Crüe, Gorki Park und Ozzy Osbourne. Bereits im Frühjahr dieses Jahres wird eine LP erscheinen, auf der die angeführten Bands Songs covern werden von Musikern oder Bands, die an Drogen-Überdosen verstorben sind. Im Gespräch sind Titel von The Who (Gorki Park haben bereits ‚My Generation‘ aufgenommen), Led Zeppelin, The Doors, Janis Joplin, Elvis Presley, Sex Pistols, AC/DC, The Rolling Stones, Thin Lizzy, Free, T. Rex, Canned Heat, Badfinger und The Yardbirds. Das Festival wird übrigens weltweit per Satellit übertragen werden. Ob es auch in Deutschland oder anderen Ländern der EG auf die Bühnen gebracht werden wird, ist zur Zeit noch unklar…

Mit Bon Jovi ist auch ein Kamerateam von MTV, der Band seit etlichen Tagen auf den Fersen, in Moskau eingefallen. Abends drängen sich im Restaurant des Musik-Centers Gäste aus aller Herren Länder, Kamerateams von MTV und dem Sowjetischen Fernsehen, Fotografen, diverse Misses (Sibiria, Asia und so fort) und sowjetische Musiker. Die Party endet jedoch bereits gegen Mitternacht…

Der nächste Tag führt Bon Jovi in den Kreml, in die Redaktion der Komsomoletz Prawda, auf den Roten Platz, wo auch die Landestelle des Mathias Rust gebührend betrachtet wird, und schließlich abends wieder ins Center. „Moskau hat ursprünglich zwei Flughäfen. Den internationalen Airport und den nationalen. Nun hat der Volksmund die Moskwa-Brücke zum Roten Platz zum ‚Rust Airport‘ ernannt. Außerdem haben die Moskauer endlich auch eine Erklärung dafür gefunden, warum der riesige Springbrunnen im berühmten Kaufhaus Gum seit einiger Zeit ständig außer Betrieb und wasserleer ist: Die Obrigkeit befürchtet, dass hier eines Tages unbemerkt ein deutsches U-Boot auftauchen könnte …„.

Der Fahrer lacht sich halbtot, als er diese Anekdote erzählt. Später dann Studiotermin im sowjetischen TiVi. 250 Millionen Zuschauer werden diese Sendung später sehen, eine erschreckende Zahl, selbst für Bon Jovi, obwohl die aus ihrer US-amerikanischen Heimat schon so einiges gewohnt sind. Das Studio ist ausgestattet wie eine gutbürgerliche Wohnung, mit Küche, Wohnzimmer und allem drum und dran. In der Küche wird Borschtsch serviert, das russische Nationalgericht, eine Kohlsuppe mit Fleischeinlage und dicken weißen Fettaugen, die wie Eisinseln auf der Oberfläche schwimmen. Nicht unbedingt jedermanns Geschmack, aber zumindest nahrhaft. Vor den Kameras wenig später Bon Jovi, Doug McGhee, Kramer-komplett, Gorki Park und der Polygram-Präsident, der bei dieser Gelegenheit nicht nur bekanntmacht, dass er Gorki Park gesigned hat und phantastische Zukunftschancen für die Band sieht (warum sonst hätte er die Parks auch signen sollen???), sondern dass er darüberhinaus noch eine Vereinbarung mit Melodija getroffen hat, die Lizensierungen von Ost nach West und umgekehrt endlich möglich macht.

Lieber Herr Bongiovi, haben sie eine Message für unsere Zuschauer???

Na klar, ich bin der festen Überzeugung, dass die Kids überall in der Welt gleich sind. Rock’n’Roll ist ihre Sprache, die von China bis Brasilien überall verstanden wird und die sie einander näherbringt. Als Rockmusiker sind wir gleichzeitig Botschafter des Friedens und der Völkerverständigung.‘‚ Na also. Gorki Park erzählen noch ein bißchen über New York und über ihre Freundschaft mit den Jungs von Bon Jovi, und das war’s dann.

Party

It’s Party-Time.. Jede Menge Mädchen, Musiker und Offizielle bevölkern das Musik-Center. Ein musikalischer Leckerbissen ist angekündigt. Vorerst jedoch wird zunächst einmal ausgiebig dem heiligen Wässerchen (Wodka) zugesprochen, und Sekt und andere Alkoholika fließen in Strömen. Entsprechend entwickelt sich die Stimmung. Ganz Wagemutige haben zudem die Möglichkeit, eine Fahrt im Pferdeschlitten entlang der Moskwa zu unternehmen. Bei Minus 20 Grad Celsius nicht gerade für jedermann die angenehmste Vorstellung. Dann schon lieber der kurze Fußmarsch durch Eis und Schnee hinauf in das kleine Studio, in dem Gorki Park sich live präsentieren.

Seitdem ich die Band das letzte Mal gesehen habe (April 1988 in Leningrad), ist sie noch um einiges besser geworden. Was nicht weiter verwundert, wenn man bedenkt, dass die Jungs sich für einige Monate in den USA aufgehalten haben, in New Jersey, wo selbst sie intensiv an sich, an ihren Englischkenntnissen und an ihrem Material gebastelt haben. Mit einigen kleinen Hilfestellungen von Jon Bon Jovi und Ritchie Sambora übrigens. Aus New York hat Gorki Park einiges an neuem Demo-Material mit an die heimische Moskwa gebracht, darunter auch ihren Beitrag zum ‚Make A Difference‘-Sampler, das Who-Cover ‚My Generation‘, ein Titel, der für die Jugend der UdSSR als Hymne eine Bedeutung erlangen könnte, die er im Westen schon lange verloren hat.

Der Set zeigt, dass Gorki Park nicht umsonst speziell in den USA so hoch gehandelt wird, wie das zur Zeit der Fall ist. Anders als Kruiz oder Master steht Gorki Park für eher kommerziellen Hardrock mit russischen Einflüssen, ist aber zugleich eine Band, die ein ungeheures Feeling für gute Melodien und Riffs hat, technisch nahezu perfekt ist, einen brillanten Sänger hat und doch voller ungezügelter Power steckt. Vor allem ‚Hit Me“, ein Song, der leichte Blues- und Souleinflüsse verarbeitet, hat das Zeug zu einem Riesenhit all over the world.

Die Band kommt an, und entsprechend ist die Stimmung im ebenso kleinen wie überheizten Studio. Eine Steigerung scheint kaum noch möglich zu sein, wird jedoch wahr, als unversehens Jon Bon Jovi, Ritchie Sambora und ihre Bandkollegen ebenfalls auf der kleinen Bühne auftauchen und alle zusammen zu einer phantastischen Session ansetzen. Blues steht auf dem Programm und alte Rockstandards. Was auch immer, es gefällt allen Beteiligten ebenso wie den einfach nur Zuhörenden. Entsprechend aufgedreht rutscht und schlindert, perfekte Gelegenheit, mal eben eine der jungen Damen unterzuhaken, die bunte Gesellschaft schließlich zurück ins Center, quer durch die Arena mit ihrer riesigen Bühne und ihren wie in einem antiken Amphitheater hochgezogenen Sitzreihen, die Platz bieten für ca. 12.000 Zuschauer.

Hier veranstalten wir im Sommer riesige Konzerte für die Moskauer Kids. Nach den Konzerten geht’s dann ab auf Flußschiffe (die Arena liegt direkt am Flußufer), auf denen wir die ganze Nacht durchfeiern können“, beschreibt Stas Namin und fügt hinzu: „Nächsten Sommer mußt Du unbedingt mal zu einem der Festivals kommen.“ Mein Wort drauf!

„Ihr Deutschen habt mir wirklich einige Probleme bereitet.

David Bryan Rashbaum, bei Bon Jovi verantwortlich für schwarze und weiße Tasten, lässt kurz ab von seinem Glas und erklärt weiter:“ Ich habe Klassik studiert, Beethoven genauso gespielt wie Bach und Mozart. Und dann bekomme ich eine deutsche Notation in die Hände und finde da eine Note, von der ich vorher noch nie gehört hatte. Ein ‚H‘ als Notenbezeichnung. Mein Gott, ich hab‘ ’ne ganze Zeit gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass das nichts anderes war als unser gutes altes amerikanisches ‚B‘.

Ritchie Sambora hat andere Probleme mit dem Deutschtum. Ein lautes Schmutz! ertönt wodkagetränkt aus seiner Ecke. Und noch einmal. Und ein weiteres Mal. Sein Lieblingswort ist ganz klar ‚Schmutz‚.

Sag mal, was bedeutet das eigentlich, dieses ‚Schmutz‘?„, fragt dann später nach.

„Ach so, Dreck, Mist und so … naja, es klingt auf jeden Fall gut.“,.

„Schmutz!“

Nebenbei bemerkt: Mischt nie Wodka mit Sekt! Die Wirkung kommt, mit leichter Zeitverzögerung, der einer Atombombe gleich!

Schmutz!

Wir werden im Dezember einige große Konzerte in Moskau spielen. Anschließend geht’s zurück nach New York, wo die Plattenfirma einen Präsentationsgig für uns arrangiert hat, als Vorprogramm eines Major-Actes und vor etlichen tausend Leuten. Das wird am 21. Januar sein…“  Originalton Gorki Park, bevor sich Alex Belov und ein Bandkollege dann mit einer jungen Ballettänzerin aus Leningrad aus dem Staub machen.

Russische Frauen sind extrem anspruchsvoll, die schafft ein Mann alleine nicht. Deshalb teilen wir uns den Spaß meist zu Dritt…“ erklärt ein völlig übernächtigter Gorki Park-Gitarrist am nächsten Morgen. Sexismus und Mysoginie sind auch in Moskau leider Rock’n’Roll-Alltag.

Weiter zur nächsten großangelegten Pressekonferenz.. Diesmal ist die schreibende sowjetische Presse geladen. Kramer-Guitars erläutern noch einmal ausführlich ihre Pläne, in der UdSSR eine Gitarrenfabrik aufzubauen und solchermaßen die Versorgung sowjetischer Musiker mit akzeptablen Gitarren zu akzeptablen Preisen sicherzustellen. Angepeilt ist ein Joint-Venture mit Stas Namins Musik-Center… Zur Erklärung: Derzeit muss ein sowjetischer Gitarrist noch bis zu 20.000 Rubel für eine professionelle E-Gitarre mit westlichem Standard hinblättern. Das entspricht guten 60.000 Mark oder drei bis fünf Jahresgehältern!!! Kein Wunder, dass die Kramer-Pläne in der Szene Begeisterung auslösen.

Immer wieder unterbrochen von kritischen Fragestellern, erklären anschließend Doug McGhee und Mister Polygram noch einmal detailliert, was sie sich so alles für 1989 vorgenommen haben, Jon Bon Jovi gibt letzte Statements und dann ist es auch schon soweit, Bon Jovi und das MTV-Kamerateam brechen auf in Richtung Flughafen und Germany, wo sie einige Tage später zusammen mir Craaft und Lita Ford auf unseren Bühnen agieren werden. Wir bleiben noch bis zum nächsten Morgen, bis es dann auch für uns heißt: „Doswidanja Moskwa.“

Aber wer weiss, vielleicht fliegen wir ja bald mal wieder hin, in die UdSSR. Schließlich gibt’s da bis heute noch keine Musikzeitung…

Nachbemerkung:

Ich flog in der Tat wieder nach Moskau, im August 1989. Und den Metal Hammer gab’s dann kurz darauf tatsächlich auch in russischer Sprache, allerdings unter dem Titel Pop/ Metal Hammer,  ein Joint Venture mit einer sowjetischen Pop-Gazette. Der Deal war sinister, und dass es schon in der UdSSR eine rege Mafia gab, die von den Brüchen und Umbrüchen der Gesellschaft besonders profitierte, sollten wir bald darauf auch lernen.

C 2022 Muzik/Quest, Edgar Klüsener (Erstveröffentlichung in Metal Hammer 12/88)

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