Das Möbel steht in einem Erker. Aus bleigefassten Fenstern fällt bleicher Tagesschimmer in den Raum, weckt einen matten Glanz auf der blanken, dunklen Edelholz-Oberfläche. Das Möbel steht an diesem Ort seit mehr als hundertfünfzig Jahren. Draußen ist Europa in diesem Zeitraum zweimal in Blut ertrunken und seltsam vereint wieder auferstanden, sind Weltreiche in den Geschichtsbüchern für immer als verblichen abgelegt worden.
Das Möbel hat die Zeitläufte unbeschadet überstanden, nur bei genauem Hinschauen sind zarteste Kratzer und Abschürfungen zu erkennen. Scheinbar unberührt steht es im Erker, eingebettet in staubige Stille, die nur gelegentlich durchbrochen wird, wenn sich ein Besucher in das Zimmer verirrt. Der hat vielleicht ein Buch in der Hand und ist gekommen, um ein wenig in dem zu blättern und zu lesen. Vielleicht ist er aber auch einfach nur neugierig auf das Zimmer, auf den Tisch. Denn an diesem Tisch ist Geschichte geschrieben worden, sind Sätze auf Papier gebannt worden, die Europa, die Welt bewegt haben. Das Zimmer ist am Ende eines Flures, der an beiden Seiten von hohen Regalen begrenzt wird. Die Regale stehen hinter Gittern. In ihnen stapeln sich Bücher, schwere Schwarten, in brüchiges Leder gebunden, zwischen ihnen zierliche, schmale Bändchen. Man sieht den Büchern ihr hohes Alter an, und doch, sie wirken zeitlos, so wie manches von dem Wissen, das in ihnen schlummert, zeitlos scheint. Der Flur ist im Obergeschoss des Seitenflügels des ältesten Teils eines Gebäudekomplexes, das an eine mittelalterliche Klosteranlage erinnert. Langgestreckte Gebäude umschließen einen großzügigen Innenhof. Ein viel zu großer Teil der einst üppigen Ziergartenfläche hat Parkplätzen weichen müssen. Schattige Wandelgänge vertiefen den klösterlichen Eindruck. Einst war das alles Bibliothek, die Chetham Library in Manchester. Heute sind die meisten Gebäude von der Chetham Music School, eine der führenden Musikschulen Englands, belegt. Studenten eilen über die Innenhöfe, aus den Fenstern erklingt Musik. Irgendwo entlockt jemand einer Geige avantgardistisch anmutende Klangfetzen, aus einem Fenster direkt neben dem Eingang dringt der satte Ton eines Alt-Saxophons heraus. Im hintersten Gebäude, im Zimmer am Ende des Flures im Obergeschoss ist davon nichts zu vernehmen.

Hier steht die Zeit still. Ich sitze an dem Tisch im Erker, schaue aus dem Fenster in einen wolkenlos blauen Himmel über Manchester, so wie vor hundertfünfzig Jahren Friedrich Engels an diesem Tisch gesessen haben mag, vor sich ausgebreitet Bücher und Papier, daneben eine Tasse heißen Tees und frisch gebackene Teeküchlein. Ihm gegenüber hockte da wohl sein Freund Karl Marx, auch vor ihm Bücher, Papier, Teegebäck und Tee. Das Teegebäck in der Chetham Library haben sie beide geliebt, und sich später, als Karl wieder zurück in London war, in Briefen sehnsüchtig über die Köstlichkeiten und den würdigen alten Bibliotheksdiener, der sie servierte, ausgelassen. In den Fünfziger Jahren des Neunzehnten Jahrhunderts verbrachte das Freundespaar, das nach der gescheiterten Revolution von 1848 Deutschland hatte verlassen müssen, viele Tage an diesem Tisch, studierte, recherchierte und arbeitete an einem Werk, das das Schaffen von Karl Marx krönen sollte: Das Kapital. Zuvor hatten die beiden mit ihren Schriften schon für erhebliche Unruhe in Europa gesorgt. Friedrich Engels hatte während seines ersten Aufenthalts in Manchester von 1842 bis 1845 für sein Werk über die Lage der arbeitenden Klasse in England recherchiert, das 1844 in Deutschland erschien und das die Grundlage für das von Marx wenig später verfasste Kommunistische Manifest bilden sollte. „Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus“, so beginnt das Manifest und mit ihm das Zeitalter der sozialistischen Utopien von der massenmörderischen Stalin-Variante bis hin zur mild-wohltätigen Sozialdemokratie der skandinavischen Art.

Die Tischplatte fühlt sich angenehm kühl an unter der Handfläche und behält ihre Geheimnisse für sich. Wie mag das Kratzen der Feder geklungen haben, mit der Marx seine Notizen auf Papier bannte? Welche Gespräche mögen die Freunde während ihrer Stunden fern von Frau Marx und Engels irischer Lebenspartnerin Mary Burns in diesem Erker geführt haben? Nur hochgeistige oder auch ganz banale? War das Wetter ein Thema, der neue Arbeitersport Fußball oder gar die irische Band, die in einem der Pubs in den Arbeiterslums am River Medlock zum Publikumshit geworden war?
In den Slums und Pubs des Fabrikproletariats war Friedrich Engels ein häufiger Gast. Der Sohn aus einer bergischen Fabrikantenfamilie, tagsüber leitender Angestellter im väterlichen Unternehmen und somit selbst einer der kapitalistischen Ausbeuter, verbrüderte sich bei Nacht mit irischen, polnischen, deutschen und englischen Arbeitern, soff mit ihnen, tanzte mit ihnen und führte dabei mit der kühlen Distanz eines unbeteiligten Beobachters Buch über die katastrophalen Lebensumstände in den Arbeiterghettos, denen er jederzeit in seine komfortable Firmenvilla oder in das gemeinsam mit Lebensgefährtin Mary Burns und deren Schwester Lizzy – seine spätere Ehefrau – bewohnte Mietapartment entfliehen konnte.
Ob er mit Karl Marx auch über seine Beziehung zu den Schwestern Burns geplaudert haben mag? Der Tisch schweigt, bei ihm ist jedes Geheimnis sicher aufgehoben. Wir wissen nur aus den Briefen von Jenny Marx and Karl Kautsky, das Marxens Ehefrau die unkultivierte irische Geliebte des Friedrich Engels nicht sonderlich sympathisch gewesen war.
Draußen färbt sich der Himmel langsam in ein rötliches Gold. In der Ferne, hinter den Dächern von Manchester und Salford, liegt das Meer, liegt die Hafenstadt Liverpool und ihr gegenüber Irland. Die Zeit im Erker ist wie Bernstein, sie scheint still zu stehen, den Tisch und den Raum für immer eingeschlossen zu haben. Fast meine ich Marx und Engels miteinander wispern zu hören, aber dann ist’s doch nur eine Mitarbeiterin der Bibliothek, die in leisem Tonfall darauf aufmerksam macht, dass in einigen Minuten geschlossen wird. Ein letzter Blick zurück auf den Tisch, an dem Geschichte geschrieben wurde. Unberührt und zeitlos steht er da, versinkt langsam im Dämmerlicht, und ich weiß, dass er auch in hundert Jahren noch so dastehen wird. Ein Zeitreisender, losgelöst von Welt und Wahn.