EU citizens

Grob geschätzt drei Millionen EU-Bürger leben derzeit im Vereinigten Königreich, drei Millionen, die seit dem Brexit-Referendum ihre Gegenwart, und noch viel mehr ihre Zukunft im Inselreich gefährdet sehen. Unter diesen finden sich nach einer Erhebung des britischen Office for National Statistics aus dem Jahr 2013 rund 135,000 Deutsche. Auch ich bin einer von diesen. Meine Frau dagegen ist Britin, die Kinder ebenfalls.

Egal ob Deutsche, Italiener, Holländer oder Rumänen in Britannien, wir sind alle Bürger der Europäischen Union, mit klar umrissenen Rechten und Pflichten, bisher in nahezu allen Belangen den Briten gleich gestellt. Lediglich von den Wahlen zum britischen Parlament sind wir ausgeschlossen. Ausgeschlossen waren wir außerdem von der Teilnahme an eben jenem Referendum am 23. Juni 2016, dessen Ausgang nun maßgeblichen Einfluss auf unser künftiges Schicksal im Vereinigten Königreich, auf die Zukunftsplanung von Einzelnen und von ganzen Familien hat. Einige mussten zu ihrem Entsetzen feststellen, dass selbst enge britische Freunde gegen einen Verbleib des Landes in der EU und gegen weitere Einwanderung von EU-Bürgern gestimmt hatten. „Ich habe ja nichts gegen dich persönlich, aber es gibt einfach zu viele von euch“, ist die höfliche Version von „Verzieh dich endlich!“

Europaflagge
Europaflagge

Geschockt sind auch viele Briten, und nicht nur die 48 %, die für einen Verbleib des Landes in der EU gestimmt hatten, denn ihnen dämmert so langsam, dass mit dem Brexit der Verlust aller europäischen Bürgerrechte einhergeht. „European Citizenship“, bisher kaum mehr als ein vager Begriff für viele, wird plötzlich zu einem wertvollen Gut. Die Realisierung, dass mit dem Brexit die Reisefreiheit eingeschränkt wird, die Freiheit in anderen EU-Ländern zu leben und zu arbeiten, Familien zu gründen oder als Studenten den einheimischen Studierenden gleichgestellt zu sein, bereitet inzwischen selbst manchen von jenen Bauchschmerzen, die eigentlich für den Ausstieg aus der EU gestimmt haben. So überrascht es nicht, dass ein Run auf zweite Staatsbürgerschaften eingesetzt hat, der mit jedem Tag an Intensität gewinnt. Vor allem irische Pässe sind gefragt, aber auch zyprische, französische, polnische oder deutsche. Besonders pikant: die deutsche Botschaft in London registriert seit dem Brexit-Votum eine starke Nachfrage nach deutschen Pässen von britischen Juden, deren Vorfahren einst mit knapper Not der Massenvernichtung durch Deutschland entkommen waren. Ihre europäische Staatsbürgerschaft will zumindest jene Hälfte der Briten nicht so ohne weiteres aufgeben, die gegen den Brexit gestimmt hat. Eine praktische Lösung ist die Annahme einer zweiten EU-Staatsbürgerschaft wo immer möglich. Andere Lösungen werden derzeit in Internet-Foren diskutiert. Eine interessante, wenn auch eher unrealistische Idee ist die Einführung einer echten EU-Staatsbürgerschaft, die Bürger aus Nicht-EU-Staaten wie Großbritannien nach vollzogenem Brexit auf Antrag die Beibehaltung oder den Erwerb des EU-Passes (also nicht den eines Mitgliedslandes) erlaubt. Dieser Ansatz wird vor allem auf der Website www.stilleu.uk diskutiert.

Uns EU-Bürger im Vereinigten Königreich treibt indes die Sorge um die möglichen Brexit-Folgen für das eigene Leben um. Im Alltag erleben wir einen rasanten Anstieg von offener, manchmal gewalttätiger Fremdenfeindlichkeit, während sich konservative Politiker um Premier-Ministerin May auf ihrem Parteitag in haarsträubenden Konzepten zur Kontrolle der fremden Plage überbieten. Das Gespenst einer möglichen Abschiebung nach vollzogenem Brexit, so wenig realistisch diese Option zur Zeit auch erscheinen mag, verängstigt viele von uns. Was uns jedoch am meisten verunsichert, ist, dass unsere Stimme nicht gehört wird und bislang kaum jemand für uns sprechen mochte, zumindest nicht in den ersten Wochen nach dem Referendum. Die Zeit des Schweigens allerdings ist vorbei. Unter dem Motto „We are the 3 Million“ formieren sich die EU-Bürger in Großbritannien und beginnen Druck auf Abgeordnete und Regierungsmitglieder auszuüben. Die Bewegung, obwohl immer noch in ihren Anfängen, hat mittlerweile einige Beachtung gefunden, jedenfalls in den wenigen liberalen Medien auf der Insel. Initiiert hat sie eine kleine Gruppe von Freiwilligen um den Franzosen Nicolas Hatton, ein Marketingexperte aus Bristol.

Unterstützt wird sie nicht nur von dem überparteilichen Aktionsbündnis Open Europe, das aus der Pro-EU Referendum-Kampagne hervorgegangen ist und in dem eine Reihe hochrangiger Politiker aller Parteien aktiv sind, sondern auch von einer Vielzahl von britischen Prominenten und normalen Bürgern. Eine der Aktionsformen von „We are the 3 Million“ ist der ‚Pledge‘ (Die Selbstverpflichtung), mit dem sich Parlamentarier aller Parteien ausdrücklich dazu verpflichten sollen, für die Belange der EU-Bürger in ihren Wahlkreisen einzustehen.

Theresa May
Theresa May

Die geschlossene Facebook-Gruppe der Kampagne besteht erst seit einigen Wochen, hat aber bereits einige tausend Mitglieder. Die Postings in der Gruppe erlauben tiefe Einblicke in die Gemütslage der EU-Bürger in Großbritannien, ihre Ängste und das allgemeine Gefühl der Unsicherheit über ihre Zukunft. Solange Premierministerin Theresa May unser Schicksal vor allem als Trumpfkarte im Verhandlungspoker mit der EU begreift, ist unser künftiger Platz im UK alles andere als klar. Entsprechend besorgt, aber auch kämpferisch ist die Stimmung. Und nicht nur unter den EU-Bürgern in Großbritannien, denn natürlich betrifft der Brexit gleichermaßen die rund zwei Millionen Briten, die in anderen EU-Ländern leben, ebenfalls oft schon seit Jahrzehnten. Die haben sich gleichfalls organisiert und suchen im Moment vor allem die juristische Auseinandersetzung mit der Brexit-Regierung. Eine der einflussreichsten Expat-Gruppierungen ist die ECREU (Expat Citizens Rights in EU), die es sich zum Ziel gesetzt hat, für die Rechte britischer Bürger in der EU und europäischer EU-Bürger im Vereinigten Königreich einzutreten. Der Schulterschluss zwischen „We Are the 3 Million“, ECREU und britischen Unterstützern wird überall in Europa aufmerksam verfolgt.

All jenen, die in den vergangenen Jahrzehnten wie selbstverständlich von ihrem EU-Bürger-Grundrecht Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, ist spätestens seit dem 23. Juni 2016 klar, dass European Citizenship durchaus keine Selbstverständlichkeit ist, sondern verteidigt werden muss. In einer Zeit, in der Rechtsextreme und Rechtspopulisten in ganz Europa Oberwasser bekommen, stellen wir das Gegenmodell zu rapide um sich greifenden Nationalismen dar. 2014 lebten bereits acht Millionen Europäer dauerhaft in einem anderen Mitgliedsstaat. Hinzu kommen Studenten, pendelnde Arbeitnehmer, und eine weit größere Zahl von Menschen, die nur kurzfristig in einem anderen EU- Land leben. Wohlgemerkt, das sind keine Eliten, sondern in der überwiegenden Zahl ganz normale Arbeitnehmer aus allen Gesellschaftsschichten, für die Europa zum Alltag geworden ist, die sich aber bisher auch kaum Gedanken um ihre Identität, um Zugehörigkeit machen mussten. Das hat sich seit dem Brexit-Referendum dramatisch geändert. Die anfangs auf Post-Brexit-Britannien beschränkte Diskussion um eine europäische Identität, um den Wert einer europäischen Staatsangehörigkeit, um Bürgerrechte findet nun europaweit statt. EU-Bürger beginnen sich zu solidarisieren und zu organisieren. Das Eigeninteresse spielt da natürlich eine Rolle, ebenso aber die Erkenntnis, dass Europa in der Tat schon lange weit mehr als der Politzirkus in Brüssel ist, nämlich ganz realer Alltag, der plötzlich gefährdet erscheint.

So wie sich die Rechtsradikalen und Populisten internationalisieren und europaweit vernetzen, so vernetzen und organisieren sich nun auch EU-Bürger unionsweit. Am weitesten fortgeschritten ist die Entwicklung derzeit wohl in Großbritannien, doch die Stimmen aus Polen, Deutschland, Frankreich, Holland oder Italien werden gleichfalls lauter. Hier ist, eine eher unerwartete Konsequenz des Brexit-Referendums, eine europäische Bürgerbewegung im Entstehen. Die Zukunft wird zeigen, welches Gewicht sie erlangen kann.

 C 2016 MuzikQuest/Edgar Klüsener

(Unveränderte Weiterverbreitung und Nachdruck ohne vorherige Genehmigung erlaubt)

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