Mystische Kanalatmosphäre
Langsam... du bist zu schnell!
Langsam… du bist zu schnell!

Nicht so schnell, runter vom Gas!!!“ Irritiert schaue ich auf den Käptn. Ich bin gerade von zwei gemächlich ausschreitenden Spaziergängern auf dem Pfad neben dem Kanal überholt worden. Trotzdem werde ich nun des Rasens bezichtigt. “Jau”, sagt der Käptn. “Du bist zu schnell. Wenn du an ankernden Kanalbooten vorbeifährst, musst du schön langsam bleiben. Sonst schlägst du zu hohe Wellen und die Leute in den Booten werden durchgeschaukelt und verschütten ihren Tee. Also runter mit dem Tempo!”? Gehorsam drossele ich die Geschwindigkeit weiter. Vom Motor ist jetzt kaum noch was zu hören, beinahe lautlos gleitet unser Boot an der friedlich am Uferrand ankernden „Ellie“ vorbei. So langsam, dass ich mir ziemlich sicher bin, dass niemand an Bord der Ellie auch nur einen Tropfen Tee verschütten wird. Dafür ist mein Puls jedoch erheblich beschleunigt. Die Wasserstraße ist eng, sehr eng. Zwischen unserem Boot, der Ellie und dem gegenüberliegenden Ufer passt auf beiden Seiten kaum mehr als ein Paar Stiefel. Die Gefahr, die Ellie versehentlich zu schrammen ist durchaus real. Dann dürften wohl mehr als nur ein paar Tropfen Tee verschüttet werden. „Du machst das gut.“ sagt der Käptn, „sieh nur zu, dass du das Boot gerade hältst.“

Das Boot ist gute 20 Meter lang, ich stehe am hinteren Ende, und der Bug scheint meilenweit entfernt. Was da vor der Bootsspitze im Wasser treiben könnte, kann ich weder sehen noch erahnen, höchstens befürchten. Ich klammere mich ans Ruder, bemüht, es so ruhig wie möglich zu halten. Aus dem Inneren des Bootes klingt Musik, Stimmengewirr, das Klirren von Gläsern und Besteck. Keine Frage, meine Mitpassagiere genießen die Reise. Dass die mitten durch die urbanen Vororte von Greater Manchester geht, kann man an Bord nur ahnen. Dicht bepflanzte Böschungen schirmen den Kanal auf beiden Seiten ab, vom Boot aus sieht man selten mehr als viel lauschiges Grün, pittoreske Brücken aus dem ausgehenden Neunzehnten Jahrhundert und andere Kanalboote, die entweder gemächlich einem unbekannten Ziel entgegen tuckern oder am Ufer angeleint sind. Zu meiner grenzenlosen Erleichterung gab es seit Beginn der Bootsfahrt kaum nennenswerten Gegenverkehr, die Herausforderungen an meine begrenzten Steuermanns-Fähigkeiten blieben daher wohltuend begrenzt. Das soll sich jedoch schnell ändern. Ausgerechnet in einer Kurve kommt mir die Sunderland entgegen.

Das Boot ist lang, der Gegenverkehr macht mulmig
Das Boot ist lang, der Gegenverkehr macht mulmig

Okay, jetzt nur keine Panik”, sagt der Käptn und wirkt plötzlich hellwach. “Das kriegen wir schon hin. Geh mal noch ein bisschen mehr vom Gas runter.” Er steht jetzt direkt neben mir, bereit, mir jederzeit das Ruder aus der Hand zu nehmen, falls erforderlich. Aber noch darf ich. Vom Heck sieht es beinahe so aus, als würde irgendwo ganz weit da vorne der Bug des Bootes sich langsam, aber unaufhörlich in die Seite der Sunderland rammen. Tatsächlich aber trennen die beiden Boote noch gut fünfzehn Zentimeter schmutzig-graues Wasser voneinander. “Du machst das gut, Junge”, sagt der Käptn aufmunternd. Seine Körpersprache allerdings drückt eher alarmierte Besorgnis aus. Irgendwie komme ich am Ende doch berührungsfrei an der Sunderland vorbei. “Das war die Härteprüfung”, sagt der Käptn. „Jetzt können wir dich auf die Kanäle loslassen.“

Diese Kanäle, die meisten während der Industriellen Revolution als schnelle und verlässliche Transportrouten für den Produktionsausstoß der Textilfabriken im Nordwesten Englands gebuddelt, durchziehen England kreuz und quer. Nennenswerter Fracht- und Güterverkehr findet nur noch auf den wenigsten statt. Mit dem Niedergang der einstigen Zentren britischer Textil- und Schwerindustrie sind auch die plumpen Lastkähne von den meisten Wasserwegen verschwunden. Ihren Platz nimmt nun eine ganz eigene Zivilisation der Frei- und Vollzeit-Wassernomaden ein. Das Leben auf dem Wasser ist nicht billig. Ein Boot wie das Narrow-Boat, das ich gerade mit schweißnassen Händen um die Kurve manövriert habe, kann voll ausgestattet gut und gerne 27.000 Euros kosten. Für den Preis gibt es allerdings auch allerhand Komfort. Bordtoilette und gut ausgestattete Küche sind ebenso im Preis inbegriffen wie separate Schlaf- und Wohnbereiche. Hinzu kommen Kosten für regelmäßige Wartung und Instandhaltung, Gas und Elektrizität. Rund 15.000 Briten haben mittlerweile das Reihenhaus oder die Mietwohnung gegen ein Kanalboot eingetauscht schätzt die britische Tageszeitung The Independent. Doch nicht nur sie haben die vielfältigen Reize der künstlichen Wasserwelten entdeckt. Die Ruhe und Gemächlichkeit, die die Kanäle mitten in urbanen Ballungsräumen bieten, zieht immer mehr Städter für kurze Ausflüge mit Freunden und Familien in gemietete Narrow-Boats. Sie suchen die Andeutung von Naturnähe und die verträumten Morgenstimmungen, wenn Dunstschleier die Grenzen zwischen Land und Wasser verschwinden lassen und eine Atmosphäre märchenhafter Unwirklichkeit schaffen, Oder sie feiern Parties auf den Booten, auch das ein Trend, der vor allem im traditionell partywütigen Manchester, wo mitten im Herzen der Stadt ein zentraler Kanal-Knotenpunkt eine ganz eigene urbane Wasserwelt zum Vergnügungszentrum geworden ist, den Wasserwegen neues Leben schenkt.

Mystische Kanalatmosphäre
Mystische Kanalatmosphäre

Rund um die Kanäle hat sich in den letzten Jahren eine florierende Touristikbranche entwickelt. Die Angebotspalette reicht von kurzen Kanaltrips für Familien und kleine Gruppen, die in der Regel nicht länger als drei oder vier Stunden dauern und bei denen die Bordverpflegung im Preis inbegriffen ist, über Tagesausflüge bis hin zu „Ferien auf dem Wasser“- Angeboten, in denen ein Boot für Tage oder Wochen gemietet werden kann. Wer letzteres bucht, muss allerdings durch eine Schulung, bevor dann eigenhändig das Boot in den Sonnenuntergang gesteuert werden kann. Der Schnellkurs macht künftige Freizeit- und Ferienkapitäne mit den Regeln der Wasserwege vertraut, mit der Handhabung des Bootes und mit den Ankerbestimmungen. Vor allem aber wird die Bedienung der unzähligen Schleusen trainiert, die das gemächliche Hingleiten immer wieder mal unterbrechen. Die stellen die größte Herausforderung für Freizeitkapitäne dar. Immer wieder mal schafft es einer, und nicht immer ist es ein unerfahrener, sein Boot in einer Schleusenkammer zu versenken. In der Regel kommen Bootsführer und Passagiere in solchen Situation mit dem Schrecken und einem gehörigen Sachschaden davon. Sehr gelegentlich allerdings gibt’s auch Schwerverletzte oder gar Tote. Kein Wunder, dass Bootsvermieter bei der Schulung nicht mit sich spaßen lassen und auch schon mal Kunden ablehnen, die während der Schulung keine gute Figur gemacht haben.

Mein Käptn scheint ganz zufrieden mit mir zu sein. Über Meilen geht’s jetzt einfach nur geradeaus, und so lässt er mich zum ersten Mal allein am Steuer um sich in der Kombüse mit Kaffee zu versorgen. Eine Viertelstunde später steht er wieder neben mir, erzählt von seiner Liebe für die Kanäle, von der Faszination des Lebens auf dem Wasser, der er voll und ganz erlegen ist. Und auch von den waghalsigen Touren, die Narrowboat-Kapitäne immer wieder mal unternehmen. Er kenne einige, erzählt er, die in ihren Kanalbooten den großen Kanal, den zwischen England und dem Kontinent, überquert haben und seitdem die Flüsse und Kanäle Europas entlang schippern. Er sagt das mit einem abwesenden, gedankenverlorenen Blick. Will er auch? „Vielleicht“, sagt er, „vielleicht fahre ich einfach eines Tages mal los und halte einfach nicht mehr an.“

Für mich und meine Freunde endet der Trip wenig später. Es war sicherlich nicht mein letzter!

Edgar Klüsener

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