Glastonbury 2003 (pic: unbekannt/ Wikipedia)

Zwischen Pop und Aromatherapie: Wie sich das britische Provinznest Glastonbury mit seiner Rolle als Pilgerstätte für Musikfans und Mystiker arrangiert hat.

Glastonbury Festival for Contemporary Performing Arts“ – der umständlich lange Name sagt es schon: Nicht nur Popmusik wird geboten, auch Theater, Dichterlesungen, Workshops, Pantomime und vieles mehr. Aber das ist kaum mehr als kulturelles Beiprogramm, im Vordergrund stehen natürlich die Superstars und Hitparaden-Eintagsfliegen der angloamerikanischen Popkultur. Wer eine Gitarre halten oder auch nur ein DJ-Deck bedienen kann, kennt auf der Insel eigentlich nur ein Ziel: Einmal Attraktion von Glastonbury sein. In diesem ersten Jahr nach dem Brexit-Referendum ist als erste Topp-Attraktion die Band Radiohead bereits bestätigt. Sie treffen vom 22. bis 26. Juni im ländlichen Südwesten Englands auf der Farm des Bauern Michael Eavis auf rund 150.000 Fans. Radiohead spielen bereits zum dritten Mal als Headliner auf dem wichtigsten Festival Großbritanniens.

Eavis‘ „Worthy Farm“ liegt allerdings gar nicht in Glastonbury, noch nicht einmal in der Nähe. Das Festivalgelände befindet sich rund zwölf Kilometer entfernt am Rande des Dorfes Pilton, zu dem es von Glastonbury aus nur eine Busverbindung (einmal pro Stunde tagsüber) gibt. Kein Wunder, dass seit fast drei Jahrzehnten fast Jahr für Jahr Tausende in Glastonbury hängen bleiben und es nie bis zum Festival schaffen. Wer zum Glastonbury-Festival via Glastonbury anreist, hat sowieso mit einiger Sicherheit was falsch gemacht, da Pilton von den Städten Bath oder Bristol aus wesentlich einfacher zu erreichen ist. Warum es dann trotzdem Glastonbury-Festival oder kurz „Glasto“ heißt? Bauer Eavis, Veranstalter und Erfinder des Open-Air-Events hatte seinerzeit geglaubt, dass „Glastonbury-Festival“ einfach besser klingt als „Pilton-Festival“. Außerdem ist die Gemeinde Glastonbury für die Lizenzvergabe zuständig – wenn auch nicht in jedem Jahr dazu bereit. 2001 war zum Beispiel so in Jahr, in dem Britanniens Popzirkus ohne „Glasto“ auskommen musste, weil die Behörden zu viel zu mäkeln hatten. 

The Temple of the Goddess (pic: Edgar Klüsener)
The Temple of the Goddess (pic: Edgar Klüsener)

Es gibt freilich schlechtere Orte, in denen man stranden kann, als dieses Provinznest. Denn nichts anderes ist Glastonbury auf den ersten Blick, eine verschlafene englische Kleinstadt, eingebettet in eine überkultivierte bäuerliche Landschaft. Eine Hauptstraße, ein zentraler Platz mit Kriegsdenkmal und einigen Geschäften, eine Kirche – man fährt durch und ist schon wieder draußen, während man noch die Innenstadt sucht. Nichts Erwähnenswertes offenbart sich dem Durchreisenden, zumindest nicht auf den ersten Blick. Und doch gibt es Besonderheiten und Kuriositäten ohne Ende. Es ist ein warmer Herbsttag, das Glastonbury-Festival 2016 liegt schon einige Wochen zurück, und trotzdem sieht es so aus, als hätten viele Festivalbesucher schlicht vergessen, wieder abzureisen. Wie wohl in jedem Jahr, denn neben Teenagern im Neo-Hippie-Outfit flanieren auch alt gewordene Punks, das schütter gewordene Haar mühsam zum Stachel-Irokesen hochgeklebt, und Althippies, die schlohweiße Lockenpracht zum Pferdeschwanz gebündelt, die Hauptstraße entlang. Wo mögen nur die Einheimischen stecken, fragt sich der verwirrte Besucher, der bodenständige englische Landbevölkerung erwartet hatte. „In den umliegenden Dörfern„, erklärt die Kellnerin in einem der kleinen freundlichen Cafés, das gezielt damit wirbt, dass Raucher willkommen seien. Zumindest sie ist eine Einheimische, kommt aber nur zur Arbeit nach Glastonbury. Dass Glastonbury anders sein könnte als andere englische Kleinstädte, hatte schon die Zimmersuche vermuten lassen. Die Website des Kreises Glastonbury listet eine ganze Reihe von Pensionen, Bed & Breakfasts und Hotels auf, die fast alle mit unerwarteten Besonderheiten werben. Bei einigen ist die Aromatherapie im Übernachtungs-Preis inbegriffen, andere richten sich ausdrücklich nur an Vegetarier oder bieten spirituelle Erfahrungen – kaum eine Herberge beschränkt sich aufs simple Kerngeschäft, das traditionell aus einem gemachten Bett und einem ordentlichen Frühstück besteht.

klassisches Glastonury B&B (pic: Edgar Klüsener)
klassisches Glastonbury B&B (pic: Edgar Klüsener)

Valerie Smith betreibt eine dieser Pensionen, die Old Bakery. Ein kleines Bed And Breakfast, am Rande des Ortskerns gelegen. Das Haus, erbaut im 19. Jahrhundert ist blitzsauber und denkmalgeschützt. Schuhe müssen im Eingangsbereich ausgezogen werden. Das Frühstück ist strikt vegetarisch, das Obst – frische Feigen inklusive – stammt aus dem eigenen Garten und ist selbstredend organisch angebaut. Die Badewanne ist von duftenden Teelichtern in verschiedenen Farben umgeben, damit die Vibrations auch bei der Entspannung in heißem Wasser noch stimmen. Frau Smith, eine freundliche, redegewandte Mittfünfzigerin, die weit jünger wirkt, ist natürlich keine Einheimische. Ursprünglich stamme sie aus Bristol, habe aber viele Jahre in Kalifornien gelebt. Ihre Pension verströmt dann auch ein bisschen spirituell angehauchtes Westküstenflair mit keltischem Einschlag. Nach Glastonbury sei sie wegen der einzigartigen Atmosphäre gekommen, sagt sie. Mit dem Popfestival hat sie jedoch nichts zu tun. Das ist ihr eher ein Ärgernis, weil das Städtchen alle Jahre wieder für zehn endlose Tage heillos übervölkert ist. Und weil mit den Popfans auch die unerwünschten Elemente nach Glastonbury kommen, die Straßenräuber, die besoffenen Schläger, die Drogendealer, die Eckenpinkler, Taschendiebe und Randalierer. Zehn Tage lang ist dann die sonst so heile Glastonbury-Welt in absoluter Unordnung.

Die öffentliche Ruhestörung nehmen die Einwohner dennoch erstaunlich gelassen: „Das sind halt die Begleiterscheinungen. Aber am Ende ist natürlich das Festival gut für die Wirtschaft Glastonburys. Schließlich bringt es Besucher in den Ort.“ Darüber sind sich Café-Kellnerin, Gastronomen und örtliche Buchhändler einig.

Glastonbury's älteste Herberge, das Georg Hotel and Pilgrim's Inn (pic: NotFromUtrecht)
Glastonbury’s älteste Herberge, das Georg Hotel and Pilgrim’s Inn (pic: NotFromUtrecht)

Apropos Buchhändler: Glastonbury beherbergt in seinen engen Gassen mehr Buchhandlungen als so manche deutsche Großstadt. Und ausnahmslos alle haben überproportional große Abteilungen für esoterische Literatur, von der ein Großteil Glastonbury selbst gewidmet ist. Das kommt nicht von ungefähr, denn die Stadt ist auch das Zentrum des mythischen Avalon und außerdem Fokuspunkt für diverse heidnische Kulte. Druiden tummeln sich hier, Buddhisten, Pagans – Anhänger wieder belebter keltischer Religionen – und Anbeter der Erdgöttin Gaia, die mitten in der Innenstadt ihren eigenen Tempel hat. Für spirituelle Zirkel und alle möglichen anderen New-Age-Touristen ist Glastonbury ein heidnisches Mekka, in das sie zu Tausenden strömen. Busladungen voller Mystik-Pauschalreisender aus der Rheinpfalz machen Stadt und Umland unsicher, deutsche Heavy-Metal-Gruppen suchen am Grab von König Arthur (das sagt zumindest die Grabplatte, wer wirklich drin liegt, ist eher umstritten) Inspirationen fürs nächste Konzept-Album („Irgendwas mit Excalibur oder so“), und angehende Lehrerinnen aus dem sonnigen Kalifornien schnuppern schnell noch mal einen Hauch keltischer Mystik, bevor es dann in den Schulen von South Central endgültig tödlich ernst wird.

Glastonbury hat also nicht nur während des alljährlichen Popspektakels Hochkonjunktur. Und da so viele Besucher vergessen, wieder abzureisen, ist auch der lokale Immobilienmarkt seit Jahren auf dem Höhenflug. Häuser und Wohnungen werden zu Preisen gehandelt, die frappierend an jene in den besseren Londoner Wohnvierteln erinnern. Normalsterbliche Engländer können da nicht mehr mithalten. Kein Wunder, dass ein Teil der Ureinwohner längst abgewandert ist und die Innenstadt dem aus den Metropolen zugewanderten, besser betuchten Künstler- und Esoterikvolk überlassen hat.

Eine Aura der Unwirklichkeit liegt über der Stadt, die in einem Paralleluniversum zu existieren scheint, das ebenso weit von der umliegenden englischen Countryside entfernt ist wie vom hektischen Alltag der britischen Großstädte. Die Hippie-Mädchen jonglieren, ein alternder Punk spricht mit verdächtig deutschem Akzent, amerikanische Touristen spielen japanische Touristen und fotografieren alles und jeden, weil’s doch alles „so europäisch“ ist, „the history, you know“. In der alten Abbey sucht eine weitere Busladung deutscher Touristen das Grab vom König Arthur; nur der Gitarrist, der jeden Abend in einem der vegetarischen Restaurants aufspielt, träumt von Pilton. Weil da das Popfestival ist, für ihn das echte Glastonbury, und da will er auch mal auf der Bühne stehen. Wie jeder britische Musiker, der auf sich hält. Vielleicht wird’s ja in diesem Jahr was. Oder im nächsten, die Erdgöttin vom Tempel nebenan wird’s schon richten.

Ach ja, das Glastonbury-Popfestival 2017 ist übrigens seit Wochen restlos ausverkauft.

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