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Musik Reportagen

MOSCOW MUSIC PEACE FESTIVAL 1989: Friede, Freude, Dope und Perestroika

Es sah gar nicht gut aus für Doc McGhee. Er hatte sich erwischen lassen, mit reichlich Koks in der Tasche. Schlimmer noch, er war außerdem als Großimporteur südamerikanischer Cannabis Sativa-Ernten aufgeflogen. Weswegen ihm 1988 in North Carolina der Prozess gemacht wurde. Normalerweise sprechen amerikanische Richter harsche Urteile gegen Importeure illegaler Substanzen aus. Doc McGhee war allerdings nicht irgendein hergelaufener Allerwelts-Dealer, sondern in den Achtziger Jahren einer der einflussreichsten Musikmanager der Welt. Zu seinem Stall gehörten die Glamrocker Mötley Crüe ebenso wie Bon Jovi oder die Scorpions..Weswegen die Geschichte dann auch etwas anders verlief als erwartet.

Die einstige First Lady Nancy Reagan (photo: official White House press photo)

Amerikas damalige First Lady, Nancy Reagan, Schirmherrin einer Anti-Drogen-Kampagne, mischte sich ein. Als sie von Doc McGhees Problemen mit der Justiz hörte und realisierte, dass der mit Bon Jovi, Mötley Crüe, den Scorpions und Skid Row einige der seinerzeit heißesten und erfolgreichsten Rockbands unter Vertrag hatte, schaltete sie schnell. Wer, so die Überlegung, könnte besser zu Überbringern der Anti-Drogen-Botschaft geeignet sein als Rockmusiker mit ausreichender eigener Drogenerfahrung? Also nahm sie Kontakt zu ihm auf und unterbreitete ihm ein Angebot, das er in seiner Rechtslage nur schwer ablehnen konnte. Für Doc McGhee war das die ‚Du kommst aus dem Gefängnis‘- Karte, und entsprechend schnell und entschlossen griff er nach dem Strohhalm, der ihm da so unversehens von der First Lady hingehalten wurde. So endete Doc nicht auf dem Etagenbett in einer amerikanischen Gefängniszelle, sondern im Sommer 1989 im Moskauer Olympiastadion, mitten im Herzen des untergehenden Sowjetreiches, zu einem Zeitpunkt, als dort Glasnost und Perestroika in der Luft lagen.

Irgendwie passte nichts so richtig zusammen in diesem Sommer 1989, und so bizarr wie die Vorgeschichte war in Teilen auch das Festival, das unter dem Namen Moscow Music Peace Festival in die Rock-Annalen eingehen sollte als einer der Momente in denen hart rockendes Entertainment und Weltgeschichte sich als eher widerwillige Gefährten in einem gemeinsamen Bett wiederfanden. Rockmusiker, die ihre gelegentlich lebensbedrohliche Vorliebe für berauschende Substanzen nie verhehlt hatten, sollten plötzlich für Abstinenz werben und vor den Gefahren von Alkohol- und Drogenmissbrauch warnen, überlebensgroße Egos sich einem guten Zweck unterordnen und der Kalte Krieg mit einem Friede-Freude-Eierkuchen-Fest zu Grabe gerockt werden.

Gorki Park Center Winter 1988

Doch zunächst einmal ein Sprung zurück in den Winter 1988, in das Moskauer Gorki Park Center im Herzen der Riesenstadt, zu dem Zeitpunkt noch Hauptstadt der seitdem untergegangenen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, was sich bequem zu Sowjetunion, SU oder UdSSR abkürzen ließ. Oder auch, etwas theatralischer, zu Empire of Evil (Das Reich des Bösen), eine Sprachregelung, die besonders amerikanische Präsidenten zu bevorzugen schienen. Im November 1988 war Moskau außerdem saukalt. Im Gorki Park Center liefen die Heizungen bereits auf Höchsttouren, als sich vom Flughafen Scheremetjewo aus eine Autokolonne auf den Weg machte, für die die Polizei die gesamte 35 km lange Strecke vom Flughafen zum Gorki Park Center abgeriegelt hatte.Von mehreren Polizeifahrzeugen eskortiert konnte die Kavalkade so trotz vereister und verschneiter Straßen zügig durchbrettern. In den Limousinen saßen Bon Jovi, Bandmanager Doc McGhee, mitgereiste Journalisten sowie Offizielle des sowjetischen Friedenskomitees. Letzteres war seit der Gründung im August 1948 eine nominell unabhängige Organisation, stand allerdings der Partei sehr nahe und wurde vor allem zu Zeiten des Kalten Krieges häufig verdächtigt, kaum mehr als eine Tarnorganisation des allgegenwärtigen sowjetischen Geheimdienstes KGB zu sein. Seit 1949 war das Friedenskomitee reguläres Mitglied im World Peace Council. Erst Mitte der Achtziger Jahre löste sich das Friedenskomitee langsam von der Partei und urteilte zunehmend kritischer auch über Aspekte sowjetischer Außenpolitik und staatliche Rüstungsprogramme. Das Komitee war spezialisiert auf die Organisation und Durchführung aller möglichen und unmöglichen Aktionen, die der Propagierung und der Sicherung des Friedens dienen sollten. Es lud Delegationen ausländischer Friedensgruppen ins Land, führte Tagungen und Kongresse durch, warb für Frieden und Abrüstung ebenso wie für Völkerverständigung und unterstützte offen und versteckt die Aktivitäten des Centers. Außerdem war es nun involviert in einen sowjetisch-amerikanischen Deal ganz besonderer Art. Ebenso wie Stas Namin, dem der Besuch der Amerikaner vor allem galt.

Schon vor Glasnost und Perestroika war Stas Namin ein äußerst erfolgreicher sowjetischer Popstar gewesen, dessen Platten sich auch außerhalb der UdSSR gut verkauften und die selbst in den USA und in Australien in den Hitparaden landeten. Als Gorbatschow die große Wende einleitete, die schließlich zum Abgang der Sowjetunion von der Bühne der Weltgeschichte führen sollte, war Stas Namin unter den ersten Sowjetbürgern, die die sich neu bietenden Gelegenheiten beim Schopfe ergriffen. Er gründete eine private Management- und Produktionsfirma, die auf westlichem Niveau agierte. Er baute eine Konzertarena auf und Tonstudios, schuf professionelle Übungsräume für Moskauer Bands, investierte in neue Medien und andere Bereiche der Unterhaltungsbranche. Heute ist das Stas Namin Center eines der größten und bedeutendsten Kulturunternehmen Europas. Aber schon im Herbst 1988 kam an Stas Namin kaum noch jemand vorbei, der in Moskau im Pop- und Rockgeschäft etwas auf die Beine stellen wollte. Diesen Mann also hatte sich Doc McGhee als Partner für die Großveranstaltung im Moskauer Olympiastadion ausgeguckt, die im Sommer 1989 über die Bühne gehen sollte. Das Konzept war einfach und stammte im Prinzip von Nancy Reagan. Die Präsidentenfrau war 

Auch selbst ein erfolgreicher Musiker: Stas Namin

engagiert in der Bekämpfung des Drogenmissbrauchs unter Amerikas Jugend und hatte schnell realisiert, dass diese Jugend einfach dreist weghörte, wenn Außenstehende und Angehörige der Elterngeneration oder gar Regierungsoffizielle die direkte Ansprache suchten und vor den Gefahren von Drogenmissbrauch warnen wollten. Da er nun schon einmal in der Sache drinsteckte und ohne längere Zwischenstation im Knast aus dieser auch nicht wieder herauskommen konnte, wollte er zumindest für sich, seine Firma und seine Bands das Bestmögliche herausschlagen. Und das war sicherlich nicht das ein oder andere Anti-Drogenkonzert in irgendwelchen Kleinstädten in Amerikas Mittelwesten oder ein paar Benefiz-CDs für die eigens gegründete „Make A Difference Foundation“. Nein, ganz groß sollte die Sache werden, möglichst weltgeschichtlich. Da traf es sich gut, dass in der Sowjetunion ein gewisser Mikhail Gorbatschow gerade eine Revolution von oben gestartet hatte und mit Perestroika und Glasnost das Riesenreich von Grund auf umbauen wollte. Zum Umbau gehörte eine bis dahin undenkbare Öffnung zum Westen hin, und damit auch offenere Türen für Rock’n’Roller. Türen, die die Scorpions, seit kurzem ebenfalls bei McGhee unter Vertrag, im Jahre 1988 mit zehn ausverkauften Konzerten in St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß, bereits ein großes Stück weiter aufgestoßen hatten. Kontakte in die UdSSR gab es also schon in ausreichendem Maß. Dank der Vorarbeit der Scorpions vor allem auch zu Stas Namin. Warum also nicht mal das ganz große Rad drehen und das erste große Rockfestival auf sowjetischem Boden veranstalten, dachte sich Doc McGhee, am besten 20 Jahre nach Woodstock und genau zu einem Zeitpunkt, an dem die Sowjetunion sich ihr Scheitern eingestand und nach neuen Orientierungspunkten und Horizonten suchte. Zumal die Sowjetunion schon seit längerem selbst auch ein massives Drogenproblem am Hals hatte. Soweit die kurz geraffte Vorgeschichte, die in einer eiskalten Nacht im Gorky Park-Center ihren weiteren Verlauf nahm und schließlich in einer Wodka- und Krimsekt- befeuerten Party endete, an der auch Miss Siberia, Miss Georgia und andere sowjetische Schönheitsköniginnen – alle bei Stas Namin unter Vertrag – ihren regen Anteil hatten.

Moskau 1989: Randale im Olympiastadion

Wollte eine Extrawurst und wäre beinahe vorzeitig abgereist

Im August 1989 hatte die Vorhut des real existierenden Kapitalismus endgültig stabile Brückenköpfe in der Hauptstadt des sowjetischen Riesenreiches etablieren können. Der erste McDonalds-Frikadellenbrater hatte eröffnet und war einen kurzen Sommer lang die größte Attraktion Moskaus, und Coca Cola stand bereit, den Kommunismus endgültig in brauner Brause zu ersäufen. Die Vorboten des Kapitalismus wurden wie VIPs behandelt, zumindest wenn sie rockten und rollten. Nirgendwo wurde das offensichtlicher als an jenem heißen Augusttag 1989, an dem auf dem Moskauer Flughafen der Magic Bus landete, die Maschine, in der die Hauptakteure des zweitägigen Moscow Music Peace-Festivals gepfercht worden waren. Direkt auf dem Rollfeld hatten sich – undenkbar noch ein oder zwei Jahre zuvor in der Sowjetunion – Kamerateams und Journalisten versammelt, um sie alle zu begrüßen, die Ozzy Osbournes, Mötley Crües, Cinderellas, Skid Rows und Scorpions. Die entstiegen dem Flieger aufgeregt, aber auch teilweise verbittert, denn der Flug war trocken gewesen. Scorpions-Basser Francis Buchholz kommentierte die Stimmungslage einiger seiner Kollegen nach diesem Flug mit leichter Häme:
„An Bord herrschte striktes Alkoholverboot. Für den einen oder anderen Kollegen ein harter Schlag.“

Erst während des Fluges hatten, so schien es, die Musiker erstmalig realisiert, dass der Auftritt auf einem Anti-Drogen-Festival und die offizielle Unterstützung der Botschaft tatsächlich auch Konsequenzen für den persönlichen Rauschmittelkonsum nach sich zog. Als daher Jon Bon Jovi später im provisorisch am Ufer der Moskwa aufgebauten Hardrock-Café auf seine bescheidene Bitte „Kann ich bitte ein Bier haben“ nur ein harsches Njet zur Antwort erhielt, zuckte er nur noch resigniert mit der Schulter. Es sollte allerdings nicht lange dauern, bis alle Musiker, die es darauf anlegten, herausfanden, dass in Moskau, damals wie heute, die nächste Flasche Wodka nie weit weg war.

Das größte Rockereignis seit Woodstock 1969 konnte, genau zwanzig Jahre später, seinen Lauf nehmen. Anders als Woodstock, das vor allem durch Chaos, Improvisation, Missmanagement und massiven Drogenkonsum geprägt war, war allerdings das Moscow Music Peace-Festival von A-Z perfekt durchorganisiert. Nichts, aber wirklich gar nichts, war dem Zufall überlassen, weder dem sowjetischen noch dem westlichen. Nur gegen den Drogenkonsum auf dem Festivalgelände war auch in Moskau, allen Einlasskontrollen zum Trotz, kaum was zu machen.

Während die Bands und ihr Tross zunächst einmal in ihren Hotels verschwanden, herrschte im Lenin-Stadion Hochbetrieb. Das gigantische Rund, gebaut als zentrale Wettkampfstätte für die Olympischen Sommerspiele 1980, war der vorgesehene Austragungsort für das Festival. Doc McGhee hätte das Festival gern mitten auf dem Roten Platz, direkt vor den Mauern des Kreml, über die Bühne gehen lassen, aber so weit reichte die neue Freizügigkeit unter Gorbatschow denn doch noch nicht. So war das Olympiastadion dann nicht die zweitbeste, sondern die einzige brauchbare Lösung. Die Olympiade von 1980 hatte der Westen seinerzeit wegen des Einmarsches sowjetischer Truppen in Afghanistan kurz vor deren Start beinahe geschlossen boykottiert. In den Jahren seit dem Einmarsch hatte sich das Afghanistan-Abenteuer als das sowjetische Vietnam entpuppt. Auch hier eine Parallele zu Woodstock. 1969 vermittelte das Festival nicht nur für einen Moment die trügerische Illusion grenzenloser Freiheit, es gab auch für einen ebenso kurzen Moment einer ganzen Generation eine Stimme, die scheinbar geeint im Aufruhr gegen die Gesellschaft der Eltern stand und sich vor allem vehement gegen den Krieg wandte, den ihr Land im fernen Vietnam führte und der einen von Tag zu Tag höheren Blutzoll forderte. So wie damals Amerika in Vietnam in einen militärischen Sumpf geraten war, aus dem es sich nur noch unter hohen Verlusten wieder lösen konnte, so hatte sich auch Afghanistan für die UdSSR in einen Morast verwandelte, der Abertausende junger Sowjetbürger das Leben kosten sollte.

Weil nichts dem Zufall überlassen werden sollte und sowjetische Technik außerhalb der Nuklear- und Weltraumbereiche alles andere als High-Tech erschien, wurde die gesamte Licht- und Beschallungstechnik kurzerhand aus dem Westen nach Moskau verfrachtet. Insgesamt 55 Sattelschlepper waren nötig, um Bühne, PA und all die andere notwendige Technologie nach Moskau zu transportieren. Nicht nur die Technik allerdings, auch die Security kam aus dem Westen. Verantwortlich für alle Sicherheitsbelange innerhalb des Geländes war die britische Firma Showsec, gegründet von dem vormaligen Mitglied britischer Spezialeinheiten 

Dr. Mick Upton: Wie sich die Zeiten ändern. Heute ist Mich Upton, Gründer von Showsec, ein weltweit anerkannter Sicherheitsexperte und Regierungsberater

Mick Upton und heute einer der globalen Marktführer. Selbst die örtliche Milizen, die im und rund um den Bühnenbereich stationiert waren, unterstanden den Showsec-Spezialisten, letztere allesamt ehemalige Elitesoldaten. Das Catering war ebenfalls komplett einer westlichen Firma übertragen worden, die zudem das Gros der Nahrungsmittel der Einfachheit halber gleich mit gebracht hatte. Für die lokale Wirtschaft war das Festival daher kaum ein Gewinn, was hängenblieb, waren kaum mehr als ein paar Brotkrumen. Nur die Dealer profitierten wahrscheinlich prächtig. Weil die Sowjetarmee immer noch tief in dem afghanischen Sumpf steckte, aus dem Gorbatschow sie mit allen Mitteln herausholen wollte, selbst wenn der Preis das bittere Eingeständnis der Niederlage war, war die Versorgungslage Moskaus mit afghanischem Haschisch und Opiaten in diesem Sommer 1989 noch hervorragend. Und Bedarf gab es reichlich.

Die Rahmenbedingungen für das Moscow Music Peace Festival waren somit hervorragend, die Organisation des Ereignisses beinahe perfekt. Die Bands konnten sich somit ganz auf die immense Aufmerksamkeit konzentrieren, die ihnen in- und ausländische Medien schenkten. Dass das Moscow Music Peace Festival tatsächlich ein globales Ereignis war, wurde schnell klar. Fernsehcrews von der Tagesschau bis zu ABC-News waren vor Ort, alle großen Nachrichtenagenturen hatten ihre Moskauer Korrespondenten auf das Thema angesetzt, und die alten und neuen sowjetischen Medien waren ebenfalls massiv präsent. Schon bevor der erste Soundcheck die noch leeren Ränge des Olympiastadions zum Zittern brachte, hatten die Musiker einen Marathon von Interviews, Pressekonferenzen und Kameraterminen hinter sich gebracht und sich selbst von ungewohnt-verblüffenden Fragen nicht aus der Fassung bringen lassen. Auch Ozzy behielt die Ruhe, als ein russischer Journalist ihn löcherte: „Ozzy, haben Sie ihren Gitarristen mit nach Moskau gebracht?“ Die ebenso kurze wie trockene Antwort: „Nee, ich trete grundsätzlich ohne Gitarristen auf.“

Am ersten Tag füllte sich das Stadion schon Stunden vor dem offiziellen Start schnell. Westlichen Augen bot sich ein ungewohntes Bild. Das Innenoval der Arena war von einer Barrikade auf voller Länge vom Haupteingang bis zum Bühnenrand in zwei gleiche Hälften geteilt. Die Barrikade allerdings bestand nicht etwa aus toten Materialien wie Holz oder Metal sondern aus durchaus lebendigen Milizionären, die in Doppelreihe standen, die Gesichter der Menge zugewandt. Wer von einer Hälfte des Stadions in die andere wechseln wollte, musste eine entsprechende Berechtigung vorweisen. Nur wer die hatte, durfte durchschlüpfen. Ähnlich sah es vor der Bühne aus. Die übliche Absperrung vor der Bühne gab es zwar auch, nur wurde die ebenfalls von Milizionären gebildet, diese allerdings besonders kräftig gebaut und mit furchterregend wirkenden Muskelbergen bepackt. Dass die Bühnenordner außerdem kräftig zulangen konnten, sollten sie dann schon in den ersten Konzertminuten auf gelegentlich abstoßende Weise unter Beweis stellen.

Die offizielle Eröffnung des Festivals geschah mit all dem Bombast, der dem Ereignis gerecht wurde. Auf der Bühne drängeln sich die Offiziellen um die Mikrofone. Unter ihnen Moskaus Oberbürgermeister, der amerikanische Botschafter und andere Würdenträger. Auch die riesige olmpische Fackel, die hoch über dem Stadion ind den wolkenlos blauen Himmel ragte, kam noch einmal zu Ehren und wurde wieder entfacht. Kurze Reden wurden gehalten, Händeschütteln, Schulterklopfen, und immer wieder die Blicke auf die Menschenmassen vor der Bühne und das Schielen auf die Kameras. Und dann ging’s endlich los. Den Auftakt machten drei sowjetische Bands, Nuance, Brigada S. Und schließlich Gorky Park. Die ersten beiden passten nicht so recht ins musikalische Konzept des Festivals, ihr eher avantgardistisch geprägter und jazzangehauchter Rock fiel zudem noch dem hundsmiserablen Sound zum Opfer. Unter dem hatten anschließend Gorky Park ebenfalls zu leiden. Derweil kam es vor der Bühne immer wieder zu fiesen Prügeleien zwischen Gruppen aus dem Publikum, darunter etliche dienstfreie Soldaten, und den sowjetischen Sicherheitskräften vor der Bühne. Schließlich eskalierte die Situation so weit, dass Mick Upton die Einsatzleiter der sowjetischen Sicherheitskräfte zum Gespräch bat und ihnen unmissverständlich zu verstehen gab, dass die Ordner sich zurückhalten mussten. Jene, die besonders aggressiv aufgetreten waren, wurden außerdem aus dem Stadion abgezogen.

Die Kulisse war atemberaubend.

Gorky Park hatten ein Heimspiel. Wenn auch kein wirklich gelungenes. Zwar ging das Publikum deutlich besser mit als bei den beiden vorhergegangenen Bands und fand auch offensichtlich Gefallen an den eingängigen melodischen Hardrock-Kompositionen der Moskauer, doch eine gewisse Zurückhaltung war ebenfalls spürbar. Die lag, so Gorky Park-Gitarrist Alex Belov später, vor allem darin begründet, dass manche Landsleute es der Band ausgesprochen übel nahmen, dass sie auf englische statt russische Texte setzte. Kein Problem waren die englischen Texte für die nachfolgenden Bands Mötley Crüe, Cinderella, Skid Row, Ozzy Osbourne, Scorpions und am Ende Bon Jovi. Im weiteren Verlauf des ersten Festival-Tages besserte sich nicht nur der Sound, auch die Reaktionen der Menschenmassen im Stadion wurden enthusiastischer, es kam langsam Stimmung auf.

Die amerikanischen Bands mussten allerdings auch feststellen, dass sie in der Sowjetunion weit weniger bekannt waren als im Rest der Welt. Viele von denen, die zu Mötley Crüe oder Skid Row vor der Bühne abrockten, hatten vorher noch nie von der Band gehört. Langsam wurde das Festival seinem Anspruch gerecht: Love, Peace, Sonnenschein und Völkerverständigung im Gitarrengewitter. Zumal die anfänglichen Prügeleien vor der Bühne nach dem energischen Eingreifen des Showsec-Bosses auch abgeklungen waren. Hinter der Bühne allerdings sah die Sache anders aus. Da rangelten die Musiker vor allem um die Auftrittsreihenfolge. Ozzy wollte unbedingt als letzter auf die Bühne und legte filmreife Tantrums hin. Mötley Crüe fühlten sich von Bon Jovi, und mehr noch von dessen Manager DocMcGhee – der nebenbei auch ihr eigener war – von vorn bis hinten verarscht weil Bon Jovi ganz klar bevorzugt wurden. Weswegen Tommy Lee denn auch hinter der Bühne mal laut, mal leise vor sich hinwütete. Wodka floss mittlerweile reichlich. Auch die Scorpions waren sauer. Sie waren die einzigen, die zuvor schon in der Sowjetunion gespielt hatten – zehn Shows in Leningrad (heute St. Petersburg) im Jahr davor – und daher zu Recht von sich behaupten konnten, dass sie bereits einen großen Namen und eine beträchtliche Zahl von Fans im Lande hatten. Trotzdem gebärdeten sich Ozzy und Bon Jovi auch ihnen gegenüber, als seien sie die naturgegebenen Headliner des Festivals und niemand sonst. Ozzy zumindest mit einer gewissen Berechtigung, seit Black Sabbath-Zeiten war auch er eine bekannte Größe in der UdSSR 

Der Autor vor Ort (photo: Sylvie Simmons)

Auch die Scorpions reagierten zunehmend irritiert auf das Gezetere und Gezerre hinter der Bühne. Ihr Auftritt am ersten Abend des Festivals bewies nicht nur einmal mehr ihre Qualitäten als eine der besten Livebands des Planeten, sondern auch, dass sie in diesem Sommer 1989 in der Tat die Band mit der größten Fangemeinde in der Sowjetunion waren. Sie hätten also allen Grund gehabt, mit sich und der Moskauer Festivalwelt zufrieden zu sein. Dennoch erschienen sie am zweiten Tag genervt. Kurz vor ihrem Auftritt erklärte Rudolf Schenker dann die Gründe für den Unmut der Hannoveraner: „Wir sind ziemlich sauer. Diese ganzen Profilneurosen, die hinter der Bühne hochgekommen sind, sind uns gewaltig auf die Nerven gefallen. Wir waren klar die beste Band des Abends, haben mit Abstand die meisten Fans in der Sowjetunion, trotzdem spiele sich andere als die großen Stars auf. Wir haben eine ziemliche Wut im Bauch, und die werden wir heute auf der Bühne voll rauslassen.“ So geschah es, die Scorpions spielten sich in einen wahren Rausch, und der Funke sprang sofort auf das Publikum über. Zwischen Band und Publikum knisterte es, die elektrisierende Hochspannung zwischen beiden war beinahe körperlich fühlbar.

Zum großen Finale kamen noch einmal alle Musiker auf die Bühne, und mit dem Yoko Ono/ John Lennon-Klassiker „Give Peace A Chance“ beendeten die miteinander zerstrittenen Helden zweier Tage in seltener Eintracht ein Festival, das auf eine seltsame Art Geschichte geschrieben hat. Ein aufgeflogener Drogendeal in den USA, ein Rockmanager, eine Präsidentengattin, Schwer- und Glam-Metal Rocker, eine Antidrogenbotschaft, das zwanzigjährige Woodstock-Jubiläum, Egomanen, Love, Peace und Wodka, ein zerbröselndes Weltreich, das Ende des Kommunismus und des Kalten Krieges, kommerzielles MTV Bezahlfernsehen – das alles und noch einiges mehr waren die Zutaten, aus denen in Moskau ein Ereignis zusammengebraut worden war, das zu einem nahezu perfekten geschichtlichen Zeitpunkt über die Bühne ging und so in die Rockgeschichte im Allgemeinen und in die russische Populärkultur-Geschichte im Besonderen eingegangen ist.

Edgar Klüsener

Nachtrag: Los Angeles, Juni 1990, etwas weniger als ein Jahr nach dem Moscow Music Peace Festival. Im Studio von Keith Olsen spielt mir Klaus Meine einen Song vor, den die Band gerade eingespielt hat. „Was hältst du davon?“, fragt er. „Die Idee zu dem Song ist mir in der UdSSR gekommen, als ich in einer Sommernacht im Gorki Park-Center saß und auf die Moskwa blickte. Ursprünglich war das gar nicht für das Album gedacht. Ich hatte das Stück nur so für mich aufgeschrieben. Das Lied ist meine persönliche Aufarbeitung dessen, was in den letzten Jahren in der Welt passiert ist. Der Titel ist „Wind of Change“. Diesen Wind der Veränderung, der wie ein Orkan durch Ost und West getobt hat, haben wir ja in Moskau und Leningrad am eigenen Leibe spüren können.“ Ein Jahr später wurde der Song veröffentlicht und zur Hymne einer Zeit der massiven Umwälzungen, die die Nachkriegsordnung in kürzester Zeit völlig umkrempelten.

 

 

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