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Etwas weniger als sieben Jahre sind seit der Veröffentlichung des letzten Metallica-Studioalbums ‘Hardwired … to Self-Destruct’ am 18. November 2016 vergangen. Und was für ein prophetischer Titel das damals war. Das Album erschien in demselben Jahr, in dem Trump das Weiße Haus zum ersten Mal eroberte, der Brexit das große Britannien in ein fremdenfeindliches und in sich zerstrittenes Inselchen transformierte und in dem der Wind der Veränderung sich erneut zu einem Orkan aufblies. Sieben weltgeschichtlich turbulente Jahre später melden sich Metallica mit einem neuen Album zurück. Das trägt den Titel „72 Seasons“ und hat es in sich: es ist wütend, zeugt von Bitterkeit, Frustration und Ohnmacht, aber auch von distanzierter Reflexion. So viel sei schon jetzt gesagt, wer Fan der frühen Metallica ist, von Alben wie ‚And Justice for All‘ oder ‚The Black Album‘, der wird mit ‚72 Seasons‘ besonders gut bedient sein.

Dem Album liegt ein Konzept zugrunde, das James Hetfield wie folgt erklärt: „Die 72 Seasons (Jahreszeiten) sind die ersten 18 Jahre unseres Lebens, die Phase unseres Lebens, in der sich unser wahres oder falsches Selbst formt. In diesem Zeitraum lehren uns Eltern, soziales Umfeld, Kindergärten und Schulen, wer und was wir sind und wie wir sein sollen. Vieles, was wir als Erwachsene erleben, ist eine Wiederholung oder Reaktion auf diese Kindheitserfahrungen. Bleiben wir Gefangene der Kindheit oder befreien wir uns von ihren Fesseln?“ Für Hetfield ist das fortlaufende Studium dieser anerzogenen Grundüberzeugungen höchst interessant, nicht zuletzt deshalb, weil sie letztlich bestimmen, wie wir die Welt sehen und erfahren.

Theorien des Selbst finden wir vor allem in der Psychologie, aber auch in Philosophie und Soziologie, und von Plato über Bourdieu bis hin zu Goffman oder May versuchen sich Theoretiker und Laien an der Beantwortung der ganz großen Frage: Wer bin ich, was bin ich und wie bin ich geworden, wer und was ich bin? Während Goffmans Performativity Theory das Selbst als Schauspieler identifiziert, die auf wechselnde Bühnen ihre jeweils wechselnden Rollen spielen und Goffman in letzter Konsequenz die Existenz eines Selbst an sich infrage stellt, ist für Hetfield das Selbst die Arena, in der Menschen die bittersten inneren und äußeren Konflikte austragen.

Das Selbst ist die Arena, in der Menschen die bittersten inneren und äußeren Konflikte austragen.

In den überragenden Texten des Albums, einige davon vielleicht die besten, die Metallicas Frontmann je geschrieben hat, setzt er sich so mit existenziellen Fragen in einer enervierenden Intensität auseinander. Wie die Texte reflektiert auch die Musik eine Zeit, in der die Welt aus den Fugen geraten ist. Was Kirk Hammett gern zugesteht.

Der Gitarrist hat im April 2023 in seiner Residenz im sonnigen Hawaii zum Telefon gegriffen, um ein wenig über „72 Reasons“ zu plaudern. 30 Minuten hat die Plattenfirma zugestanden, weit über 50 Minuten sollten es am Ende werden.

Geschrieben wurden die Songs des Albums zu einer Zeit, in der auch Metallica sich auf sich selbst zurückgeworfen fanden, inmitten einer Pandemie, die die Welt zum vorübergehenden Stillstand brachte. Ob die veränderten Umstände einen Einfluss auf die Arbeit der Band gehabt haben?

Aber unbedingt“, bestätigt der Gitarrist die naheliegende Vermutung, und fährt fort: „Diese ganze Lockdown-Sache war ein ziemlicher Tiefschlag, und ich war wirklich besorgt, ob wir ein paar Jahre in unserer Karriere verlieren würden oder nicht. Wir haben gründlich über die Situation nachgedacht und schließlich beschlossen, das Beste aus der Lage zu machen und mit dem Schreiben von Songs zu beginnen. Gott sei Dank konnten wir die Zeit nutzen und mussten nicht ohnmächtig zusehen, wie zwei Jahre einfach den Bach runtergingen.“

Wie der Rest der Covid-erschütterten Welt, mussten sich die Metallica-Musiker ebenfalls über Nacht mit Videokonferenz-Software wie Zoom, Teams oder Jitsi vertraut machen. Für Kirk Hammett eine ganz neue Erfahrung.

Bis dahin war Zoom für mich nur ein altes Kinderprogramm im Fernsehen. Doch dann sprachen plötzlich alle von Zoom, aber diesmal war es der Name dieser Video-Konferenz-Software. Daran musste ich mich erst einmal gewöhnen. Der Typ, der diese Software entwickelt hat, tat dies genau zum rechten Zeitpunkt und dürfte inzwischen von seinen Erträgen recht gut leben können.

Der schnelle Hausbesuch oder die gemeinsame Arbeit im Übungsraum gehörten damit zunächst einmal einer besseren Vergangenheit an. Stattdessen wurde notverordnet im Eigenheim gewerkelt und Ideen wurden in Zoom-Konferenzen debattiert und vorgespielt. Kreativität, das Schreiben von Songs, wurde zum Ausweg aus der Ausnahmesituation und ermöglichte es den Musikern zudem, diese zu reflektieren.

Grundsätzlich haben wir unsere Arbeitsweise gar nicht so stark verändert, nur war sie diesmal weniger aus freien Stücken so, sondern eher durch die Umstände erzwungen. Wir waren froh, dass die Technologie es uns ermöglichte, unsere Kreativität sinnvoll und konstruktiv auszuleben. Das Schreiben von Songs gab uns Halt in einer Zeit, in der die Welt wirklich aus den Fugen geraten schien.

Kirk Hammett, das sei am Rande erwähnt und ist eigentlich eine andere Geschichte, nutzte die Zwangspause nicht nur, um am neuen Metallica-Album zu arbeiten, sondern auch, um sein superbes Soloalbum ‚Portals‘ zu schreiben, aufzunehmen und zu veröffentlichen.

Während COVID bin ich ins Studio gegangen und habe mein eigenes Soloalbum produziert, ich habe mich einfach auf meine Erfahrungen aus der Vergangenheit verlassen, die ich in jahrelanger Arbeit im Studio gesammelt habe. Deshalb konnte ich die Verantwortung für die Produktion meiner eigenen Musik, den Sound und das Abmischen ohne Probleme übernehmen. Ich wusste genau, was zu tun war und wie.

Was er damit ebenso sagt: Mit gut 40 Jahren Studio-Erfahrung auf dem Buckel können die Musiker längst jedem Producer auf Erden mehr als nur das Wasser reichen. Dennoch hat sich die Band dafür entschieden, bei den Aufnahmen von „72 Seasons“ erneut mit Greg Fidelman als Produzent zu arbeiten, der sich die Producer-Credits brüderlich mit Hetfield und Ulrich, den treibenden Kräften hinter Metallica, teilt. Welchen Beitrag konnte Fidelman in einem solchen Szenario überhaupt leisten, in dem ihm die Musiker an Erfahrung und Kompetenz ebenbürtig waren und in dem er zudem mit starken und selbstbewussten Charakteren arbeiten musste. Oder, anders gefragt, braucht die Band überhaupt noch einen Produzenten?

Wenn’s ums rein Fachliche geht, erklärt Hammett, dann wohl eher nicht. Dass sie es alle drauf haben, hätten sie schon ausreichend unter Beweis gestellt, Rob Trujillo nicht zuletzt bei Ozzy Osbourne. Überhaupt, Robert Trujillo. Dass etwas anders lief bei der Arbeit an „72 Seasons“ macht Hammett auch am Beispiel Trujillo fest. Der Bassist hat gleich an drei Tracks mitgeschrieben, einer davon, ‚Screaming Suicide‘, ist einer der stärksten und eindringlichsten Titel auf dem Album. Die anderen beiden sind ‚Sleepwalk My Life Away‘ und ‚You Must Burn‘.

Aber zurück zu Greg Fidelman, dessen Rolle, und ihre Wichtigkeit, Kirk Hammett wie folgt beschreibt: „Greg ist der Mann, der die Übersicht hat. Er ist bei jedem Schritt dabei, er überwacht alles. Wir kommen rein und erledigen unseren Teil, machen unsere Parts, und Greg sorgt dafür, dass alles konsistent ist, dass wir alle auf derselben Ebene sind und alles gut zusammenpasst. Er ist sehr wertvoll geworden, weil er bereit ist, die unverschämt lange Zeit zu investieren, die es braucht, um ein Metallica-Album aufzunehmen und fertigzustellen. Das ist wahrlich kein schneller Prozess, sondern einer, der Monate, manchmal Jahre dauert. Greg Fidelman ist derjenige, der die Geduld, die Mittel, die Intuition und den Fokus hat, um sicherzustellen, dass alles musikalisch zusammenkommt und stimmig ist. Und das ist keine leichte Aufgabe. Für mich ist er der König, wenn es um den Aufnahmeprozess geht.“

Lars Ulrich (Pic Gage Skidmore, CC BY-SA 3.0,)

Die Metallica Musiker, insbesondere James Hetfield und Lars Ulrich, sind selbstbewusste und willensstarke Persönlichkeiten, die genau wissen, was sie wollen und ihre eigenen Vorstellungen haben. Um als Produzent in diesem Umfeld bestehen zu können, ist diplomatisches Geschick wohl ebenfalls eine gefragte Qualität.

Absolut,“ bestätigt Kirk Hammett, „Umso mehr, wenn wir alle weit voneinander entfernt arbeiten und interagieren müssen. Greg bringt uns zusammen, hat einen konkreten Plan, was zu tun ist, und er kann uns auf das Wesentliche fokussieren. So müssen wir uns nur auf drei oder vier Dinge konzentrieren, die an diesem Tag erledigt werden müssen, und schon haben wir es geschafft. Anstatt uns durch 200 oder mehr Details quälen zu müssen, um schließlich diese drei oder vier Dinge zu finden, aber völlig ermüdet und erschöpft zu sein, wenn wir endlich so weit sind. Mit anderen Worten: Er hat sich also durch eine Menge Lärm gekämpft, um ein Signal zu finden.

Es ist offensichtlich, dass Band und Produzent sich über die Jahre hinweg gut kennengelernt haben und dass Metallica Greg Fidelman nicht nur vertrauen und seine fachliche Kompetenz anerkennen, sondern ihn zudem als Autoritätsperson akzeptieren.

Er muss sich auskennen, und er muss gute Sounds, gute Mischtechniken und eine gute Produktion beherrschen. Denn jeder von uns könnte sich hinsetzen“, wiederholt Kirk Hammett, „und den Job erledigen, falls nötig. Die Frage ist allerdings, ob wir das an diesem Punkt unseres Lebens und unserer Karriere überhaupt noch wollen. Zehn Monate lang zehn Stunden am Tag im Studio sitzen? Das war okay, als wir in unseren Dreißigern oder Vierzigern waren, aber das ist jetzt etwas anderes. So viele andere Sachen spielen heute eine Rolle in unserem Leben. Wir haben alle Familien. Wir alle haben Verantwortung. Da ist es sehr hilfreich, dass wir Greg an diesem Punkt unseres Lebens haben. Er ist vertrauenswürdig, er hat, wie ich schon sagte, denselben Instinkt wie wir. Wir vertrauen seinem Gehör und seinem Gespür. Es hilft unserer Perspektive, wenn wir jemanden wie Greg um uns haben. Wir profitieren von seinen Ideen, er weiß, was funktioniert und was nicht. Das ist großartig. Ich sage das nur ungern und es klingt wie ein Klischee, aber er ist das neue fünfte Mitglied von Metallica.“

Metallica haben es Fans und Kritikern in der Vergangenheit manchmal nicht einfach gemacht. Immer wieder haben sie bewusst musikalisches Neuland betreten und sich auf Experimente eingelassen, die nicht alle nachvollziehen konnten. Die Zusammenarbeit mit Lou Reed war so eins, die in dem Album „Lulu“ (2011) mündete und die Metallica-Gemeinde und Kritiker in Lager teilte, die einander beinahe unversöhnlich gegenüberstanden. Die einen hassten das Album, eine an Alban Bergs unvollendete Oper ‚Lulu‘ angelehnte Vertonung von Frank Wedekinds Tragödien ‚Erdgeist‘ und ‚Die Büchse der Pandora‘, die anderen liebten es und sahen es als ein Meisterwerk moderner Musik. Für meinen britischen Kollegen JR Moores war es gar eins der zwei wichtigsten je veröffentlichten Alben (das andere ist laut John „Metal Machine Music“). Ich würde zwar nicht so weit gehen wie John, aber gehöre dennoch zu denen, die das Album für einen sträflich unterbewerteten Meilenstein halten. Nach Experimenten oder selbstironisch- autobiographischem Material wie dem Country-Blues ‚Mama Said‘ vom „Load“-Album sucht (oder hofft) man auf „72 Seasons“ vergeblich. Stattdessen ist das Album roh, düster und aggressiv geraten, die oben schon erwähnten Reminiszenzen an „And Justice for all….“ und „The Black Album“ sind unüberhörbar.

Absicht? Eher nicht, erklärt Kirk Hammett, und fügt hinzu, dass man in der Vergangenheit zwar oft mit dem Vorsatz ins Studio gegangen sei, ein Album aufzunehmen, das an die alten Tage erinnere, doch dass diesmal ein anderes Anliegen im Vordergrund gestanden habe, die Rückbesinnung auf die eigenen musikalischen Vorbilder nämlich: „Wir sahen uns nur an und sagten ein Wort oder fünf Wörter: Neue Welle. Neue Welle des britischen Heavy Metal. Okay, sechs Wörter. Und genau das haben wir dann getan. Ich hatte Diamond Head im Sinn und Tygers of Pan Tang, Motörhead, Angel Witch oder Jaguar, Du weißt schon, so was in der Art. „And Justice for All“ oder das „Black Album“ war das Letzte, was ich Sinn hatte, um ehrlich zu sein. Umso überraschender ist es dann für mich, dass jetzt von allen Seiten die Vergleiche mit gerade diesen beiden Alben auf uns hereinprasseln. Eine schöne Überraschung allerdings.“

Die in den Songs durchklingenden Emotionen wie Wut und Frustration seien jedoch nicht der fernen Vergangenheit geschuldet, sondern den Krisen der Gegenwart, fährt Kirk Hammett dann fort: „Ich sehe dieses Album als eine Reaktion auf alles, was in den letzten drei Jahren in den Vereinigten Staaten passiert ist. Diese drei Jahre in diesen verdammten Staaten waren völlig verrückt. Sie waren unvorhersehbar, chaotisch, frustrierend und haben jeden wütend gemacht.

Die Rede ist hier nicht nur von COVID-19, erzwungener Isolation, und Impfdebatten, sondern auch von Donald Trumps versuchtem Staatsstreich, dem Sturm aufs Kapitol, dem gewalttätigen Auseinanderdriften Amerikas in zwei Lager, die sich zunehmend unversöhnlich gegenüberstehen und, schließlich, der völlig veränderten internationalen Lage.

 „Ich habe das Gefühl, dass diese Songs all diese Emotionen in sich vereinen. All diese Emotionen, denke ich, haben sich in diesem Album in unseren Köpfen festgesetzt. Und es ist immer unbewusst oder unterbewusst, denn man kann sich nicht hinsetzen und sagen, okay, ich bin verdammt sauer. So funktioniert das nicht. Man setzt sich einfach hin, macht den Kopf frei und spielt. Und die Emotionen, die dann rauskommen, sind echte, wahre, ehrliche Emotionen. Und die Emotionen, die herauskamen, waren groß und wütend, frustrierend, chaotisch. Ich denke, die Musik fängt das ein. Deshalb überrascht es mich in der Nachschau auch nicht, dass sich auf dem Album keine einzige Ballade findet, nichts, das auch nur annähernd ruhig ist, schön und anrührend. Dieses ganze Album ist ungemein intensiv, wütend, aggressiv, feindselig, konfrontativ. Purer Heavy Metal eben, so wie wir es verdammt noch mal mögen. Und wenn die Vergangenheit mir recht gibt, wenn wir etwas mögen, dann stehen die Chancen gut, dass unsere Fans es auch mögen.“

Obgleich sich auf dem Album keine einzige Ballade findet, verbergen sich in den Songs doch viele kleine und einige ganz große Melodien. Eine von der letzteren Sorte findet gegen Ende von ‚Room Of Mirrors‘, eine wunderschöne Gitarrenharmonie, die an Thin Lizzy erinnert, an Gary Moore, vielleicht sogar an Wishbone Ash. Ein bewusstes Zitat?

Ach,“ lacht Kirk, „wir sind alle seit frühester Jugend glühende Thin Lizzy-Fans. Wenn also ein Gitarrenpart mal nach Gary Moore klingt, egal ob von mir oder James gespielt, dann ist das durchaus eine Hommage, manchmal eine bewusste, manchmal eine unbewusste, aber wir stehen beide unbedingt dazu.“

James Hetfiled
James Hetfield, Showcase in London 1998, pic: Edgar Klüsener

Die Texte nehmen die grundlegenden Stimmungen der Musik auf und kanalisieren sie. Wie schon so oft sind sie selbstreflexiv, spiegeln die innere Zerrissenheit Hetfields wieder, den Kampf gegen die eigenen Dämonen, lassen aber Raum für unterschiedliche Interpretationen. Hetfield selbst schweigt sich meist aus über seine Texte und deren Bedeutungen, und die anderen Musiker fragen ihn auch nicht danach, sondern respektieren die Haltung. Für Kirk Hammett schließt diese Akzeptanz von James Hetfields Rolle als alleiniger Texter ein, dass er nur dann Texte für seine eigenen Songbeiträge schreibt, wenn er von Hetfield explizit dazu aufgefordert wird. Doch obwohl Hetfield seine Texte nicht erklärt, begreifen seine Mitmusiker ihre Bedeutung oft intuitiv: „Einige der Texte sind für mich offensichtlich; ich weiß worüber er singt, weil ich James kenne. Er ist mein Bruder, also verstehe ich viele der Anspielungen, die er macht.“

Lyrics wie die von ‚Screaming Suicide‘ oder dem mächtigen ‚Crown of Barbed Wire‘ haben eine poetische Qualität, die seinen Bandkollegen in Kirk Hammetts Augen erneut als herausragenden – und immer noch sträflich unterbewerteten – Lyriker bestätigen.

Ich habe schon oft gesagt, dass James ein Dichter ist, der ein Gespür für Sprache hat und definitiv eins für den Rhythmus und die Bedeutung hinter den Worten. Bei diesem Album sind es vor allem die Texte, die mich umhauen. Aber nicht nur die Texte, sondern auch die Phrasierung am Anfang und am Ende des Liedes. Ich denke, James‘ Gesangsleistung auf diesem Album ist mit das Beste, was er je gemacht hat. Es war das erste Mal, dass er in seinem eigenen Haus gesungen hat. Mit ein paar Mikrofonen, ein paar Mikrofon-Vorverstärkern und ein paar Kompressoren, direkt in Logic oder Pro Tools oder was auch immer er benutzt. Und er sagte, dass es einfach einen großen Unterschied in der Performance macht, wenn man entspannt ist und zu Hause aufnimmt. Und ich sagte zu ihm: Das merkt man, Bruder, denn es ist verdammt gut.“

Was auffällt, sind die Anleihen bei religiöser Symbolik in einigen Songs wie ‚Crown of Barbed Wire‘ oder der bereits ausgekoppelten Single ‚Lux Æterna‘. Das ‚ewige Licht‘ (Lux aeterna), auf das Hetfield hier Bezug nimmt, brennt Tag und Nacht in christlichen Kirchen wie in Synagogen am Tabernakel und zeigt die Gegenwart Christi (im Christentum) und Gottes (im Judaism) an.

Dass der Sänger und Gitarrist eine spirituelle Ader hat, gesteht Hammett durchaus zu: „Nun, James hat einen spirituellen Aspekt, genau wie ich einen spirituellen Aspekt in mir habe. Der spirituelle Aspekt von James basiert auf dem Christentum, während mein spiritueller Aspekt eher im Osten und im Nondualismus angesiedelt ist. Wir koexistieren und treffen uns oft in unserer Spiritualität. Aber wir haben unterschiedliche Ansätze und unterschiedliche Ansichten. Wann immer er also über etwas Spirituelles oder Christliches nachdenkt, respektiere ich es vollkommen. Und wenn es das ist, worüber er singen will, dann soll es so sein.“

Das bereits thematisierte neue Chaos in der Welt beschränkt sich natürlich nicht nur auf die USA. In Europa hat Putins expansionistisches Streben nach der Restauration alter Sowjetmacht die alte Nachkriegsordnung, und damit eine 70jährige europäische Friedenszeit (nein, den Balkankrieg haben wir nicht vergessen, aber er hat die Nachkriegsordnung weit weniger erschüttert), endgültig über den Haufen geworfen und Krieg wieder Alltag werden lassen. Der Aufstieg Chinas zur zweiten Supermacht hat die globalen Machtverhältnisse gravierend verändert, und die Demokratie als Form der politischen Selbstorganisation ist weltweit, auch im Herzen Europas, auf dem Rückzug. Kalte und heiße Kriege haben selbstverständlich Auswirkungen auf eine Band, die ihre Fans auf allen Seiten der Frontlinien hat. Konzerte in Kiew oder Moskau dürften für Metallica vorläufig nicht mehr auf dem Programm stehen.

Als besonders schmerzhaft allerdings empfindet Kirk Hammett, dass „…es für uns so aussieht, als würden unsere Fans gegen unsere Fans kämpfen. Das ist es, was hier passiert. Ja, ich weiß, es geht um mehr als das. Es sind Menschen, die gegen Menschen kämpfen. Aber für mich kommt ein persönliches Element hinzu. Wenn ich es als einen blutigen Kampf von Metallica-Fans gegen andere Metallica-Fans betrachte, bricht es mir das Herz.“

Dass der Status und die damit verbundene Prominenz nicht nur ein Segen sind, hat Kirk Hammett schon vor langer Zeit erkannt. Seine mentale Gesundheit hatte lange unter dem öffentlichen Druck gelitten, mit dem er sich als Metallica Musiker auseinandersetzen musste. Einen Halt fand er schließlich in seiner Hinwendung zur Spiritualität: „Es ist wichtig, sich mit etwas verbinden zu können, das größer ist als man selbst. Es ist wichtig zu wissen, dass der Anfang und das Ende des Universums nicht bei einem selbst beginnt. Wenn du wie ich psychische Probleme hast, aber auch eine Berühmtheit bist, dann müssen die Realitäten irgendwann miteinander kollidieren und in eine Krise münden. Ich hatte zahlreiche Krisen in meinem Leben. Meine Spiritualität und Nüchternheit halten mich heute auf dem Boden der Tatsachen. Spiritualität gibt mir das Gefühl, dass ich immer noch Teil der menschlichen Rasse bin. Sie hält mich davon ab, mich über oder unter allen anderen zu sehen. Am Ende ist alles außer der Musik irgendwie nur Blödsinn. Wenn man wirklich spirituell ist, durchschaut man den ganzen Scheiß. Deshalb denke ich, dass Religion und Spiritualität wichtig sind, besonders wenn man sich in einer Situation befindet, in der die Menschen von einem Inspiration, Führung und Positivität erwarten.“

Das Thema geht Kirk hörbar nahe. Treffend beschrieben haben diese Erfahrung seiner Meinung nach die Musiker von Black Sabbath, als sie ihr Greatest Hits Album schlicht ‚We Sold Our Souls To Rock‘n’Roll benannte: „Es ist wirklich großartig, 100 Millionen Alben zu verkaufen und all diese Ressourcen zu haben und in der Lage zu sein, ein anständiges Haus für deine Mutter zu kaufen und eine schöne Gitarre zu haben. Aber verdammt, Mann, wie viele meiner Freunde, die ich in den frühen 80ern um mich hatte, haben es nicht bis hierher geschafft? Eine Menge, Bruder. Viele meiner Freunde, die eine Überdosis nahmen, begingen Selbstmord. Es ist eine brutale Branche. Und im Nachhinein ist Sex, Drogen und Rock ’n‘ Roll der größte Mythos und so schädlich für die Gesundheit und das Wohlergehen und die verdammte Entwicklung eines Menschen. Ich wünsche, ich hätte es besser gewusst, als ich jung war und damals Sex, Drogen und Rock’n’Roll einfach ignoriert. Wenn man das jahrzehntelang gemacht hat, ist man am Ende eine ziemlich leere Hülle, und dann muss man seine Seele suchen und kommt schließlich zu dem Schluss, dass Sex, Drugs and Rock’n’Roll nur eine seltsame verdammte Mythologie ist. Worauf es am Ende nur ankommt, ist ausschließlich die Musik.“

Musik soll denn auch weiter im Vordergrund stehen, von Herzen kommende, wütende, manchmal an der Welt verzweifelnde und oft frustrierte Musik, wie sie so nur von Metallica kommen kann. Die Band hat mit „72 Seasons“ ein Album vorgelegt, das sosehr den gegenwärtigen Zeitgeist beschreibt wie schon seit langem keine Veröffentlichung mehr.

Edgar Klüsener

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