Die Mauer bröckelt…
„The Division Bell“ sollte das bislang letzte Studioalbum bleiben. Erst 2014 meldete sich die Band mit „Endless River“ zurück. Die Musiker gingen nach wie vor ihre eigenen Wege. Die Mauer zwischen Rogers und dem Rest der Band allerdings, die lange unüberwindlich schien, hatte bereits in den Neunzigern wieder zu bröckeln begonnen. Die Anwälte hatten sich ihre Ferraris verdient, die Rechtslage war zufriedenstellend ungeklärt, friedliche Koexistenz war der Status Quo, auf den alles hinsteuerte. Auch wenn Roger Waters angeblich eine Einladung Gilmours ausschlug, zur Band auf deren Abschlusskonzert in London auf die Bühne zu kommen, man sprach jedenfalls wieder. Nicht immer in höchsten Tönen übereinander, aber zumindest miteinander.
Und dann standen sie plötzlich tatsächlich doch wieder zusammen auf der Bühne. Das war am 2. Juli 2005, auf Bob Geldofs Neuauflage des legendären Live Aid-Festivals, das diesmal unter dem Titel Live 8 über die Bühne ging. Vorausgegangen war das übliche Tauziehen. Geldof hatte zunächst David Gilmour kontaktiert, ob der sich einen Auftritt von Pink Floyd auf dem Festival vorstellen können, war jedoch von dem abschlägig beschieden worden. Nun ist Geldof keiner, der eine Absage einfach so auf sich beruhen lässt. Ganz im Gegenteil, er fasste sie als Herausforderung auf und begann nun erst recht zu bohren, zerren und ziehen. Durch seine Rolle in der Verfilmung von „The Wall“ hatte er die Band sehr intim kennengelernt und wusste genau, wer wo wie zu packen war. Zunächst jedoch schien er auf Granit zu beißen. Pink Floyd gab es eigentlich nur noch auf dem Papier, und Gilmour war bis über beide Ohren in seinem Soloprojekt vertieft. Er wollte nicht nur nicht, er konnte auch nicht. So sah er es zumindest, und so machte er es Geldof klar. Der war freilich anderer Meinung. Und rief als nächsten Rick Mason an. Doch der sagte ebenfalls Nein. Dachte dann aber noch einmal in Ruhe darüber nach – und schickte Roger Waters eine Email. Das Verhältnis zwischen den beiden hatte sich inzwischen weitgehend normalisiert und war durchaus wieder freundschaftlich. Waters mailte umgehend zurück und wollte wissen, was genau Geldof denn mit diesem Festival vorhabe. So ganz genau konnte Mason die Frage auch nicht beantworten. Also rief Waters kurzerhand bei Bob Geldof an und verlangte weitere Infos. Was er hörte, gefiel ihm, zumal die politische Ausrichtung und das Anliegen des Festivals sehr wohl mit Waters‘ eigenen politischen Standpunkten korrespondierte und daher unbedingt unterstützenswert erschien. Er äußerte also vorsichtige Bereitschaft, in irgendeiner Form mitzuwirken. Erst zwei Wochen später allerdings wurde ihm mit einem Mal wirklich bewusst, dass es bis zum Festival nur noch ein Monat war. Dass die Zeit drängte, war in dieser Situation eine wahre Untertreibung. Rogers rief Gilmour an. Der zögerte noch einen Moment, vor allem, weil er befürchtete, dass seine Stimme und sein Gitarrenspiel mit der Zeit ein bisschen eingerostet sein könnte. Doch Waters redete ihm die Bedenken schnell aus, und nicht einmal 24 Stunden später war die Pink Floyd- Reunion beschlossene Sache.
Das Medienecho, vor allem in Großbritannien, war gigantisch. Gigantisch war auch Pink Floyds Auftritt. „Comfortably Numb“ war einer der ganz großen magischen Momente des Festivals, und die Live 8-Version ist die wahrscheinlich beste Live-Version dieses Pink Floyd-Klassikers.
… und wird einmal mehr aufgerichtet
Der Auftritt auf dem Live 8- Festival war allerdings nicht der Beginn einer neuen Phase in der Geschichte von Pink Floyd, sondern ein einmaliges Ereignis. Anschließend versank die Band, mit und ohne Waters, wieder in den Dornröschenschlaf. Der wurde nur von zwei Todesnachrichten unterbrochen. Am 7. Juli 2006 verstarb Syd Barrett im Alter von 60 Jahren in seinem Haus in Cambridgeshire. Zu seiner Beerdigung traten sowohl Waters als auch Pink Floyd auf.
Am 15. September 2008 verstarb Rick Wright im Alter von 65 Jahren an Krebs. In einer Erklärung würdigte ihn die Band, Waters eingeschlossen, als einen Kollegen, der einen enorm wichtigen künstlerischen Beitrag zur Musik von Pink Floyd geleistet habe.
Danach wurde es nach außen erneut sehr ruhig um die überlebenden Mitglieder von Pink Floyd. Dass hinter den Kulissen neue Pläne geschmiedet wurden, konnte man allerdings zwischenzeitlichen Interviews von Gilmour und Waters entnehmen, die beide eine Pink Floyd- Reunion nicht mehr kategorisch ausschlossen. Doch zu der sollte es nie kommen. Immerhin jedoch standen die überlebenden Bandmitglieder am 10. Jui 2010 noch einmal gemeinsam auf der Bühne, aber das war im Rahmen eines Wohltätigkeitskonzertes in kleinstem Rahmen in der Kiddington Hall im englischen Oxfordshire und vor gerade mal 200 Zuschauern. Im Anschluss an das Konzert versprach David Gilmour noch, dass er während der anstehenden dritten „The Wall“-Tour für ein Konzert auf die Bühne kommen und gemeinsam mit Waters „Comfortably Numb“ spielen werde.
Roger Waters Vorbereitungen zur Drittauflage von „The Wall“ liefen da bereits auf Hochtouren. War die originale Wall-Tour auf gerade mal vier Städte, drei Länder und zwei Kontinente beschränkt gewesen (Los Angeles, New York, London und Dortmund), und die Zweitauflage gar nur auf Berlin, sollte die dritte Auflage des Bühnenklassikers zwei Jahre lang endlich um die ganze Welt reisen.
Aber warum gerade jetzt, warum überhaupt noch einmal dieses gewaltige Unternehmen? Und war das thematische Konzept von „The Wall“ nach 30 Jahren nicht allmählich völlig veraltet?
Nicht für Waters, dem es mit „The Wall“ einmal mehr nicht um eine bombastische Rockveranstaltung, sondern um eine Reihe von glasklaren politischen Statements ging. Die falsch-spielerische Leichtigkeit, mit der westliche – und hier vor allem britische und amerikanische – Regierungen nach wie vor ihre Jugend von Jugoslawien über Afghanistan bis zu Irak und schließlich Libyen – in Kriegen verheizen, für die die vorgeschobenen ethischen und moralischen Gründe nur Feigenblätter für handfeste machtpolitische und ökonomische Interessen der jeweiligen Eliten sind, widere ihn an, erklärte der mit den Jahren nur noch radikaler gewordene Pazifist wieder und wieder in Interviews. „The Wall“ sei seine künstlerische Auseinandersetzung mit einer Wirklichkeit, die Mauern und Barrieren aufbaue zwischen Künstler und Publikum, Individuum und Gesellschaft, Gesellschaft und Staat; eine Mauer, die Kommunikation verzerrt und unmöglich macht.
Waters ist ein Überzeugungstäter, und The Wall ist sein Manifest, sein Opus Magnus, ein Testament, das mit Herzblut geschrieben ist.
Die Tour begann am 15. September 2010 mit drei Aufführungen im kanadischen Toronto und zog dann weiter nach Chicago und von dort kreuz und quer durch die USA, Kanada und Mexiko. Am 21. Dezember 2010 endete der nordamerikanische Teil der Tournee in Mexiko City. Der erste Teil des Reiseunternehmens war ein gigantischer Erfolg. Die Kritiker überschlugen sich in höchsten Lobeshymnen, und die Kassen klingelten süß in den weitgehend ausverkauften Stadien und Arenen. Die Einnahmen wurden allerdings auch bitter benötigt, denn die Produktionskosten für die gewaltige Show, die von der Bühnenpräsentation und vom technischen Aufwand her die beiden früheren „The Wall“-Inszenierungen locker in den Schatten stellt, belaufen sich auf rund 37 Millionen britische Pfund (42,7 Millionen €). Die anschließende Winterpause währte bis zum 21. März 2011. Pünktlich zum Frühlingsanfang startete der europäische Teil der Tournee mit zwei Shows in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon. Danach ging’s hin und her durch Europa. Madrid, Barcelona, Lodz, Berlin, Arnheim, Budapest, Zürich, Prag, St. Petersburg, Manchester und Mailand sind nur einige der Stationen.
Unbestreitbarer Höhepunkt der gesamten Tour allerdings war der 12. Mai 2010. In der Londoner O2-Arena war die Mauer zu voller Höhe aufgebaut und lag in völligem Dunkel. Ein einziger Scheinwerfer erfasste Roger Waters, der vor der Mauer stand, Mikrofon in der Hand, und die erste Zeile von „Comfortably Numb“ intonierte. „Hello, is there anybody out there? Hello? Hello?“ Beim zweiten „Hello“ tauchten weitere Scheinwerfer die Wand hinter ihm in gleißendes Licht und die Musik setzte ein. Waters sang weiter, bis zu „Relax, Relax“, dann fiel eine zweite Stimme ein. Ein weiterer Scheinwerfer erleuchtete eine Gestalt ganz oben am Rand der Mauer: David Gilmour, der nun den Part von Waters übernahm, weitersang und zugleich die Gitarre spielte.“
Die Wiedervereinigung der beiden Streithähne in größtmöglichem Rahmen war spektakulär, anrührend und durch und durch emotional. Noch emotionaler allerdings der Schluss des Konzertes, als Nick Mason zu den beiden stieß und sich Waters, Gilmour und Mason für einen Moment in den Armen lagen. Die O2- Arena stand Kopf. Wie auch die Kritiker am nächsten Morgen. Alle Hoffnungen auf eine Reunion seien allerdings weiterhin vergeblich, erklärten separat voneinander Waters, Mason und Gilmour in den folgenden Tagen immer wieder. Es gäbe einfach keinen Grund für eine solche. Jeder von den dreien betonte, dass gelegentliche gemeinsame Konzerte zu sehr besonderen Anlässen durchaus vorstellbar seien, Mehr aber auch nicht.
Edgar Klüsener