Kurt Cobain

Am 5. April 1994 hielt sich laut offizieller Darstellung in seiner Garage der junge Kurt Cobain den Lauf einer Schusswaffe in den Mund und drückte ab. Eine Kugel später hatten die Neunziger ihr erstes totes Rock-Idol. Und die Rock’n’Roll-Big-Band irgendwo da oben über den Wolken konnte einen weiteren Ausnahmemusiker zur ewigen Allstar-Session in ihren Reihen begrüßen.

Der Tod Cobains kam kaum überraschend. In den Monaten, die ihm vorausgegangen waren, hatte er auf Beobachter und ihm Nahestehende immer unzufriedener, in sich zerrissener und unberechenbarer gewirkt. Er machte wieder und wieder deutlich, dass Nirvana nicht mehr sein Ding war, dass er sich musikalisch eingegrenzt sah und das Gefühl von Verlust jeglicher Authentizität verspürte. Er trug sich mit der Absicht, endgültig auszusteigen, die eigene Identität als Künstler wie als Mensch neu zu definieren. Hinzu kamen Probleme in der Ehe. Gerüchte, dass beide, sowohl Kurt als auch Courtney, an Scheidung dachten, bestätigte nach seinem Tod beider Anwältin Rosemary Carroll. Während der „In Utero“- Tour kapselte Cobain sich zunehmend auch von seinen Bandkollegen ab, übernachtete in anderen Hotels, konsumierte verstärkt und ziemlich wahllos Drogen. Das letzte Konzert spielte die Band dann am 1. März 1994 im Terminal 1 des alten Münchener Flughafens.

Am 4. März 1994 fand Ehefrau Courtney Love ihren Gemahl besinnungslos in seinem römischen Hotelzimmer. Neben ihm, von seinem Management Gold Mountain ebenso wie von Courtney Love lange dementiert, ein Abschiedsbrief. Selbst der Nirvana-Plattenfirma ‘Geffen’ wurde die Existenz des Schreibens verheimlicht, was später zu erheblichen Irritationen zwischen Company und Management führen sollte. „Die haben uns glatt belogen“, kommentierte ein empörter ‘Geffen’-Verantwortlicher. Als Kurt Cobain ins Krankenhaus eingeliefert wurde, lag er im Koma. Janet Billig, Sprecherin des Managements, beschrieb seinen Zustand als „sehr ernst„. Nur Tage später relativierte Gold Mountain-Boss John Silva allerdings: „Die Ärzte sagen, es sei alles in Ordnung mit ihm.“ Der Selbstmordversuch wurde nun als unabsichtliche Überdosierung beschrieben, als nicht sachgerechter Umgang mit Medikamenten, die Kurt Cobain eingenommen habe, um starke Magenschmerzen zu lindern. Hinzu sei reichlicher Champagnergenuß gekommen. Selbstmordversuch oder Unfall mag dahingestellt bleiben, klar war, dass Kurt Cobain sich in einer ernsthaften Krise als Person und Musiker
befand.

„Nevermind“

Nirvana haben Anfang der Neunziger die Welt der Rockmusik so nachhaltig verändert wie seit den Sex Pistols kaum eine andere Band.

Kurt Cobain
Kurt Cobain

Und das mit einem einzigen Album und in kaum mehr als anderthalb Jahren. Anfangs waren Nirvana nur eine von vielen jungen Gruppen, die in den Clubs der nordwestamerikanischen Hafenstadt Seattle Abend für Abend ihr Programm runter spulten. Fernab von Los Angeles oder New York, den Glitzerstädten des Popgeschäftes, hatten diese jungen Bands eigene musikalische Wege beschritten. Die rohe Energie des Punk verbanden sie mit den schrill verzerrten und kreischenden Gitarrenorgien eines Jimi Hendrix, vermengten das Ganze mit Metal-Riffs und Folk-und Countryrockeinflüssen und prägten so einen Sound, der unter der Umschreibung Grunge bald weltberühmt werden sollte. Wie die meisten Seattle-Bands hatten auch Nirvana Anfang der Neunziger einen Plattenvertrag mit dem lokalen Underground-Label ‘SubPop’ unterzeichnet.

Nach dem grandiosen Debüt „Bleach“ wechselten sie zur Major-Company ‘Geffen’, veröffentlichten ihr zweites Album „Nevermind“ – und plötzlich sah die Welt ganz anders aus. Der Singlehit „Smells Like Teen Spirit“ schoss rund um den Globus in die Charts, der Musikkanal MTV nudelte das Video rund um die Uhr in die Kinderzimmer. Nirvana waren mit einem Mal in aller Munde. Mit ihrer schroffen, harten und manchmal fast schmerzhaft schrillen Musik, die so fernab von den gängigen Klischees leichtverdaulichen und hitparadentauglichen Mainstream-Rocks liegt, hatten Kurt Cobain, Krist Novoselic und Dave Grohl offensichtlich den Nerv einer ganzen Generation getroffen. Nach diesem Zustand befragt, äußert Cobain im Interview in VISIONS Nummer 7 (April 1992) sein Unwohlsein ob der plötzlichen Popularität und seinen unbedingten Wunsch, am liebsten einfach nur noch nach Hause zu wollen. Der kometenhafte Aufstieg vom Underground-Musiker zum Role-Model einer ganzen Generation lag ihm definitiv schwer im Magen, und das analog mit dem Beginn einer im Nachhinein sensationellen wie traurigen Erfolgsstory.

Ein Augusttag in Seattle

Leichter Dunst liegt über Seattle. Auf dem Wasser kreuzt ein einsames Ausflugsboot, an Bord eine Handvoll Touristen, die leicht gelangweilt herüber schauen. Dave Grohl erblickt das Boot, umklammert plötzlich zwei Stäbe der Gitterumrandung des Balkons, fällt auf die Knie, zwängt sein Gesicht dazwischen und simuliert einen Brechreiz. Er würgt trocken, Speichel trieft in langen Fäden aus seinem weit geöffneten Mund. Die Bootpassagiere werden auf die Szene aufmerksam, eine ältere Dame weist mit dem Finger auf das Geschehen. Prustend beginnt Dave zu lachen, richtet sich wieder auf und winkt den Ausflüglern mit wilden Handbewegungen zu. Kurt Cobain und Krist Novoselic verziehen derweil keine Miene. Clowneske Eskapaden ihres Teamgefährten sind sie längst gewöhnt.

Auf den ersten Blick kann man sich kaum ein gegensätzlicheres Gespann vorstellen als diese drei jungen Männer. Krist Novoselic, ein langer, schlaksiger Kerl, ganz in schwarz gekleidet, wirkt mit seinem akkurat geschnittenen kurzen Haar und dem säuberlich gestutzten kleinen Spitzbart wie die Verkörperung eines Bohemien der Fünfziger. Ganz anders Dave Grohl. Mit seiner langen Mähne und einem traditionellen Rock’n’Roll-Outfit geht er genau als der Rockmusiker durch, der er ist. Kurt Cobain wiederum erscheint mit seiner blonden Zottelfrisur und dem jungenhaften Viertagebärtchen wie die Inkarnation des zornigen Beatnik-Poeten.

Cobain wirkt hellwach und redet, einmal in Fahrt geraten, minutenlang ohne Atempause. Von Wut, Ärger, Depression, drogenumnebelter Verwirrtheit keine Spur. Da steht ein junger Mann, der genau zu wissen scheint, wer er ist, was er will und wie es weitergehen soll. Seine Ausstrahlung ist widersprüchlich. Bescheidenheit – fast Schüchternheit – paart sich mit spontaner Erregbarkeit; er ist freundlich, und doch schwingt in seiner Stimme kaum merklich ein aggressiver Unterton mit. Vor allem aber kommt er rüber wie jemand, der alles unter Kontrolle hat. Sein Verhältnis zur Presse ist immer noch äußerst gespannt in diesem August, mehrere Monate lang hat er sie völlig boykottiert und eine Reihe von Zeitungen und Zeitschriften, darunter Vanity Fair und Newsweek, mit Rechtsverfahren überzogen, hat Reporter und Redakteure verklagt und ein Vermögen in Anwälte und Prozesskosten investiert. Nur ein Interview hat er in den letzten Monaten gegeben: Kevin Allman, Mitarbeiter des Schwulenmagazins The Advocate, war der Auserwählte. In diesem Interview beklagte er sich bitterlich über die Hexenjagd, die die Boulevardpresse gegen ihn und Courtney Love los getreten habe, über die Schattenseiten des Rockstar-Lebens und über das gesellschaftliche Klima in den USA, das zunehmend von fundamentalistischen Dogmen geprägt und für Minderheiten immer rauer werde.

Nirvana - Promotion Foto
Nirvana – Promotion Foto

Dass das Rockstar-Leben Schattenseiten haben kann, ist für Cobain eine neue und verstörende Erfahrung. In all seinen Teenagerjahren hatte er den Status ‘Rockstar’ als den einzigen gesehen, der ihm selbst gerecht würde. Nun hat er, was er immer wollte, und natürlich ist mehr als nur ein Haken an der Geschichte. Plötzlich wird er als Sprachrohr einer ganzen Generation gesehen, man verlangt von ihm „Verantwortung für die Fans“, er fühlt sich in die Position eines Rollenmodells – das er nie hatte sein wollen – gezwängt. Das irritiert ihn nicht nur, es bestürzt ihn. Er fühlt sich überfordert, beginnt erstmalig, sich selbst und seine Rolle als Rockstar in Frage zu stellen. Die Größenordnung, die Nirvana mittlerweile auch live erreicht hatte, bereitete ihm Unbehagen:

Ich liebe es zwar, auf der Bühne zu stehen, allerdings nur, wenn diese sich in kleinen Clubs befindet. Die riesigen Dimensionen der Arenen, in denen wir zur Zeit aufzutreten gezwungen sind, machen mir Angst. Zum einen ist die direkte Kommunikation mit dem Publikum nahezu unmöglich, zum anderen fühle ich mich auf den großen Bühnen buchstäblich verloren.“

Die Presse, in früheren Underground-Tagen ein wohlmeinender Freund, von ihm gern auch benutzt, wendet sich plötzlich gegen ihn, stiehlt ihm Privatleben und Persönlichkeit, baut einen Popanz auf, in dem der sensible Kurt Cobain sich nur noch als abstoßende Karikatur wiedererkennen kann.

Kurt: „Ich habe mittlerweile jedes Vertrauen in die Medien verloren. Seitdem ich aus eigener Erfahrung weiß, dass selbst angeblich seriöse Magazine wie Newsweek Geschichten einfach erfinden, sich nicht einmal die Mühe machen, ihre Behauptungen durch Recherche abzusichern, glaube ich nichts Geschriebenes mehr, nehme ich dem Fernsehen seine Bilder nicht mehr ab. Es scheint völlig egal zu sein, was ich Journalisten erzähle, denn am Ende schreiben sie doch nur, was sie gern gehört hätten.

Diesen Glaubwürdigkeitsverlust, den er der Presse vorwirft, befürchtet er auch für sich selbst. Das Gefühl, sich mittlerweile meilenweit von seinen Fans entfernt zu haben, lässt ihn nicht mehr los.

„Wir wollen auf keinen Fall unsere alten Fans verlieren, jene Leute, die wir von den ersten Tagen an zu unserem Publikum zählten. Denn diese Fans, nennen wir sie ruhig Underground-Publikum, sprechen unsere Sprache, denken wie wir, teilen die gleichen Gefühle und Anschauungen. Sollten die sich von uns abwenden, wäre das ganz sicher ein Alarmsignal, ein Zeichen für uns, dass wir irgendwas sehr falsch machen. Für uns ist es sehr viel wichtiger, dass wir uns selbst treu bleiben, keine Zugeständnisse an die vorgeblichen Zwänge und Erfordernisse des Marktes, des Mainstreams oder derzeit aktueller Trends machen.“

Wie jeder Musiker, der Platten aufnimmt, wollte er natürlich, dass irgendwer sich diese auch anhört:

Ich habe nichts dagegen, Platten zu verkaufen. Je mehr Leute meine Musik hören, desto besser. Es spricht auch nichts dagegen, die Vermarktungsmechanismen der Musikindustrie zu nutzen. Wenn allerdings der Punkt erreicht ist, an dem du diese Mechanismen nicht mehr nutzen und kontrollieren kannst, sondern im Gegenteil ihren Gesetzmäßigkeiten und Anforderungen unterworfen wirst, einfach nur deshalb, weil du plötzlich zu groß geworden bist, dann ist es höchste Zeit, den eigenen Standort zu überdenken und gegebenenfalls die Konsequenzen zu ziehen„, sagt er.

Krist Novoselic nickt dazu, Dave Grohl schaut desinteressiert zur Seite.

Maßanzug als Zwangsjacke

Das genau war Kurt Cobains Problem, war Nirvanas Problem. Nirvana war in den Augen der Öffentlichkeit über Nacht zu einem weltweiten Markenzeichen geworden, zu einem Produkt mit fest umrissenen Eigenschaften, quasi per Kaufvertrag garantiert. Die Erwartungen des Marktes, der Medien, der Industrie und letztlich auch der Fans waren genau definiert. Kurt hatte gefälligst ein Sprachrohr seiner Generation zu sein (ein Ansinnen, das er stets vehement ablehnte), er hatte gefälligst seinen Lebensstil seiner Rolle entsprechend auszurichten, er sollte rund um die Uhr verfügbar sein für die unersättliche Neugier der Medien wie ihrer Konsumenten – darunter natürlich auch die Fans. Nirvana steckte in einer Schlinge, die sich immer weiter zuzog. Ein Ausweg schien musikalische Verweigerung. „In Utero“ war jedoch unterm Strich ein nur halbherziger Versuch. Was auch daran liegt, dass der Songwriter Kurt Cobain ein durchaus geniales Talent für gute Pop-Tunes hatte, das selbst bei bewusst schräg angelegten Kompositionen kaum zu verbergen war. Kurt hatte freilich noch ein anderes Problem. Der Sound von Nirvana war ihm längst zu eng geworden. Als Musiker, der Leonard Cohen genauso liebte wie die Beatles, der sich nie von seinen Black Sabbath- oder Aerosmith-Platten getrennt hatte, profunde Kenntnisse in Folk, Jazz und Country besaß, wollte er sein musikalisches Wirkungsfeld auf Dauer weiter gestalten. Weiter, als Nirvana es erlaubt hätte. Auch das war wohl ein Grund für den häufiger geäußerten Wunsch, Nirvana hinter sich zu lassen.
Wie eine Erleichterung und kurzfristige Flucht muss ihm da seine Kooperation mit dem von ihm glühend bewunderten Schriftsteller und Poeten William S. Burroughs erschienen sein:

Burroughs hat Passagen aus seinem Gedicht ‘The Priest They Called Him’ gelesen, ich habe dazu im Hintergrund Gitarre gespielt. Keine Ahnung, ob’s ihm gefallen hat. Ich kann jedoch auf jeden Fall sagen, dass ich kaum jemanden so sehr bewundere wie William S. Burroughs.“

Es hat Burroughs gefallen, Monate später hat er Cobain zu sich nach Hause eingeladen. Der Dichter starb im Jahr 1997.

Kurt Cobain war in den letzten Monaten vor seinem Tod ein Getriebener in einer Welt, in die er eher zufällig hinein gestolpert war, die aber nach anderen Regeln funktionierte als die ihm bis dahin vertrauten. Er suchte einen Ausweg, der es ihm erlaubte, seine Identität zu behalten und seine Integrität als Künstler. Ob dieser Ausweg allerdings wirklich Selbstmord hieß – diese Frage wird wohl niemand mehr beantworten können. Er hinterließ ein reiches musikalisches Vermächtnis, eine Tochter, die er zu Lebzeiten vergötterte, eine Frau, eine Band und Millionen Fans in aller Welt.

PS: Jener weiter oben erwähnte Sommertag im August 1993 endete übrigens für Kurt Cobain mit einem Aerosmith-Konzert. Als er nach dem Gig mit seinen früheren Idolen zusammentraf, war er für einen Moment wieder selbst ein schüchterner Fan.

Edgar Klüsener

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