Pink Floyd, Earls Court 1973, By TimDuncan (Own work) [CC BY 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons
„Keine Fragen zu Pink Floyd! Keine Fragen zu David Gilmour!“ Die Anweisungen an die Teilnehmer der Presse-Konferenz waren strikt, Ausschluss aus der Runde der geladenen Journalisten die vorgesehene Höchststrafe für Zuwiderhandelnde. Gestellt wurden die Fragen natürlich trotzdem, beantwortet allerdings nicht. Des Raumes verwiesen wurde niemand. Roger Waters wollte nicht nur nicht über das Zerwürfnis mit David Gilmour, Rick Wright und Nick Mason reden, er durfte auch nicht, denn in diesem Jahr 1989 war das Verhältnis zwischen Waters und seinen ehemaligen Kollegen immer noch mit „gespannt“ nur unzulänglich beschrieben und auf Anwälte und Gerichtsverfahren reduziert..
Roger Waters, By Christian Leonard Quale (Clq 16:17, 12 July 2006 (UTC)) (Own work) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html), CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/) or CC BY-SA 2.5-2.0-1.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5-2.0-1.0)], via Wikimedia Commons
1989 war Roger Waters längst als begnadeter Einzelkämpfer unterwegs, im Gepäck eins der größten Alben der Rockgeschichte, eng verbunden mit ebenso monumentaler wie sensationeller Bühnenshow. Als „The Wall“ 1980 und 1981 zum ersten Mal über die Bühnen von Los Angeles, New York, London und Dortmund ging, war das Unternehmen Pink Floyd endgültig zur Einmannschau geworden. Roger hatte das künstlerische und zunehmend auch das geschäftliche Sagen, der Rest durfte nur mitspielen, wenn er aufs Wort parierte. Zum endgültigen, und wohl unvermeidlichen, Bruch zwischen Waters und seinen langjährigen Weggefährten Gilmour und Mason – Wright hatte er schon 1978 vom Vollmitglied zum Mietmusiker degradiert und nach Ende der Wall-Tour endgültig aus der Band gekickt – kam es schließlich nach den Aufnahmen zu „Final Cut“.
„The Final Cut“ war ein reines Waters-Album. „Text und Musik von Roger Waters, gespielt von Pink Floyd“ (im Volltext: “The Final Cut – A requiem for the post war dream by Roger Waters, performed by Pink Floyd: Roger Waters, David Gilmour, Nick Mason“) stand auf dem Cover. Der Großteil des Materials bestand aus Tracks und Ideen, die ursprünglich für „The Wall“ vorgesehen gewesen waren, dann aber doch nicht berücksichtigt wurden. Das Album, aufgenommen in insgesamt acht Studios, darunter auch die beiden privaten von Waters und Gilmour, war vor allem die persönliche Aufarbeitung des Todes von Rogers Vater Eric Fletcher Waters, ein überzeugter Pazifist und Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen, im Zweiten Weltkrieg. Doch „The Final Cut“ war auch Rogers Abrechnung mit der Politik Margaret Thatchers, die nicht nur Großbritannien einer radikalen ökonomischen Rosskur unterzog, sondern das Land außerdem in einen von nationalistischem Pathos getragenen sinnlosen Krieg mit Argentinien um die Falkland-Inseln getrieben hatte. Der überbordende und unverhohlen rassistische Nationalismus jener Tage stieß nicht nur Waters übel auf, sondern auch den anderen Bandmitgliedern, wie sich Schlagzeuger Nick Mason in seiner Autobiographie erinnert.
Grundsätzlich hatten Pink Floyd bis dahin immer eine Politik verfolgt, die sich in etwa so beschreiben lässt: „Wer die Hauptarbeit an einem Album geleistet hat, der hat auch das Sagen.“ Bei den Aufnahmen von „The Final Cut“ führte Roger Waters diese Politik allerdings bis ins Extrem. Weder David Gilmour noch Nick Mason wurden in irgendeiner Phase in das Projekt involviert. David Gilmour hatte Waters gebeten, den Release des Albums hinauszuzögern, damit er eigene Beiträge schreiben konnte, aber der hatte das Ansinnen strikt abgelehnt. Entsprechend schlecht war die Stimmung im Studio. David konnte immerhin noch einen Gesangspart beisteuern, für Nick Mason blieb außer viel Freizeit und einem Nebenjob als Klangsammler für das experimentelle Holophonic System kaum weiteres übrig. An letzteren erinnert er sich durchaus amüsiert zurück: „Roger wollte die Geräusche von Kampfjets. Ich hatte einen guten Kontakt in den höheren Etagen der Luftwaffe, der mir Zutritt zu einer Tornadostaffel verschaffte, die auf dem Luftwaffenstützpunkt in Honington stationiert war… Bis zum heutigen Tag habe ich den Hauch eines schlechten Gewissens, dass ich die Hilfe von guten Freunden in der Royal Air Force ausgerechnet für eine Antikriegsplatte in Anspruch genommen hatte.“
Die rote Karte hatte Roger Waters nicht nur Rick Wright gezeigt, sondern auch dem alten Weggefährten Bob Ezrin, weil der sich vor Start der Wall-Tour gegenüber einem befreundeten Journalisten verplappert und streng geheime Details der anstehende Bühnenshow preisgegeben hatte. Die Story kam kurz vor Beginn der US-Tour in einem amerikanischen Magazin und beendete nicht nur schlagartig Bob Ezrins Freundschaft mit besagtem Journalisten, sondern auch sein Arbeits- und Kreativ-Verhältnis mit Pink Floyd. Zwei Jahre später war Roger Waters immer noch nicht bereit, auch nur eine Minute im selben Raum wie Bob Ezrin zu verbringen. Stattdessen half der Komponist und Produzent Michael Kamen aus. Weil Kamen zudem ein passabler Keyboarder ist, war damit zugleich die Lücke gefüllt, die Rick Wrights Rauswurf ins Bandgefüge gerissen hatte.
Bon Jovi auf dem Moscow Music Peace Festival, 1989
Es sah gar nicht gut aus für Doc McGhee. Er hatte sich erwischen lassen, mit reichlich Koks in der Tasche. Schlimmer noch, er war außerdem als Großimporteur südamerikanischer Cannabis Sativa-Ernten aufgeflogen. Weswegen ihm 1988 in North Carolina der Prozess gemacht wurde. Normalerweise sprechen amerikanische Richter harsche Urteile gegen Importeure illegaler Substanzen aus. Doc McGhee war allerdings nicht irgendein hergelaufener Allerwelts-Dealer, sondern in den Achtziger Jahren einer der einflussreichsten Musikmanager der Welt. Zu seinem Stall gehörten die Glamrocker Mötley Crüe ebenso wie Bon Jovi oder die Scorpions..Weswegen die Geschichte dann auch etwas anders verlief als erwartet.
Die einstige First Lady Nancy Reagan (photo: official White House press photo)
Amerikas damalige First Lady, Nancy Reagan, Schirmherrin einer Anti-Drogen-Kampagne, mischte sich ein. Als sie von Doc McGhees Problemen mit der Justiz hörte und realisierte, dass der mit Bon Jovi, Mötley Crüe, den Scorpions und Skid Row einige der seinerzeit heißesten und erfolgreichsten Rockbands unter Vertrag hatte, schaltete sie schnell. Wer, so die Überlegung, könnte besser zu Überbringern der Anti-Drogen-Botschaft geeignet sein als Rockmusiker mit ausreichender eigener Drogenerfahrung? Also nahm sie Kontakt zu ihm auf und unterbreitete ihm ein Angebot, das er in seiner Rechtslage nur schwer ablehnen konnte. Für Doc McGhee war das die ‚Du kommst aus dem Gefängnis‘- Karte, und entsprechend schnell und entschlossen griff er nach dem Strohhalm, der ihm da so unversehens von der First Lady hingehalten wurde. So endete Doc nicht auf dem Etagenbett in einer amerikanischen Gefängniszelle, sondern im Sommer 1989 im Moskauer Olympiastadion, mitten im Herzen des untergehenden Sowjetreiches, zu einem Zeitpunkt, als dort Glasnost und Perestroika in der Luft lagen.
Irgendwie passte nichts so richtig zusammen in diesem Sommer 1989, und so bizarr wie die Vorgeschichte war in Teilen auch das Festival, das unter dem Namen Moscow Music Peace Festival in die Rock-Annalen eingehen sollte als einer der Momente in denen hart rockendes Entertainment und Weltgeschichte sich als eher widerwillige Gefährten in einem gemeinsamen Bett wiederfanden. Rockmusiker, die ihre gelegentlich lebensbedrohliche Vorliebe für berauschende Substanzen nie verhehlt hatten, sollten plötzlich für Abstinenz werben und vor den Gefahren von Alkohol- und Drogenmissbrauch warnen, überlebensgroße Egos sich einem guten Zweck unterordnen und der Kalte Krieg mit einem Friede-Freude-Eierkuchen-Fest zu Grabe gerockt werden.
Gorki Park Center Winter 1988
Doch zunächst einmal ein Sprung zurück in den Winter 1988, in das Moskauer Gorki Park Center im Herzen der Riesenstadt, zu dem Zeitpunkt noch Hauptstadt der seitdem untergegangenen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, was sich bequem zu Sowjetunion, SU oder UdSSR abkürzen ließ. Oder auch, etwas theatralischer, zu Empire of Evil (Das Reich des Bösen), eine Sprachregelung, die besonders amerikanische Präsidenten zu bevorzugen schienen. Im November 1988 war Moskau außerdem saukalt. Im Gorki Park Center liefen die Heizungen bereits auf Höchsttouren, als sich vom Flughafen Scheremetjewo aus eine Autokolonne auf den Weg machte, für die die Polizei die gesamte 35 km lange Strecke vom Flughafen zum Gorki Park Center abgeriegelt hatte.Von mehreren Polizeifahrzeugen eskortiert konnte die Kavalkade so trotz vereister und verschneiter Straßen zügig durchbrettern. In den Limousinen saßen Bon Jovi, Bandmanager Doc McGhee, mitgereiste Journalisten sowie Offizielle des sowjetischen Friedenskomitees. Letzteres warseit der Gründung im August 1948 eine nominell unabhängige Organisation, stand allerdings der Partei sehr nahe und wurde vor allem zu Zeiten des Kalten Krieges häufig verdächtigt, kaum mehr als eine Tarnorganisation des allgegenwärtigen sowjetischen Geheimdienstes KGB zu sein. Seit 1949 war das Friedenskomitee reguläres Mitglied im World Peace Council. Erst Mitte der Achtziger Jahre löste sich das Friedenskomitee langsam von der Partei und urteilte zunehmend kritischer auch über Aspekte sowjetischer Außenpolitik und staatliche Rüstungsprogramme. Das Komitee war spezialisiert auf die Organisation und Durchführung aller möglichen und unmöglichen Aktionen, die der Propagierung und der Sicherung des Friedens dienen sollten. Es lud Delegationen ausländischer Friedensgruppen ins Land, führte Tagungen und Kongresse durch, warb für Frieden und Abrüstung ebenso wie für Völkerverständigung und unterstützte offen und versteckt die Aktivitäten des Centers. Außerdem war es nun involviert in einen sowjetisch-amerikanischen Deal ganz besonderer Art. Ebenso wie Stas Namin, dem der Besuch der Amerikaner vor allem galt.
Schon vor Glasnost und Perestroika war Stas Namin ein äußerst erfolgreicher sowjetischer Popstar gewesen, dessen Platten sich auch außerhalb der UdSSR gut verkauften und die selbst in den USA und in Australien in den Hitparaden landeten. Als Gorbatschow die große Wende einleitete, die schließlich zum Abgang der Sowjetunion von der Bühne der Weltgeschichte führen sollte, war Stas Namin unter den ersten Sowjetbürgern, die die sich neu bietenden Gelegenheiten beim Schopfe ergriffen. Er gründete eine private Management- und Produktionsfirma, die auf westlichem Niveau agierte. Er baute eine Konzertarena auf und Tonstudios, schuf professionelle Übungsräume für Moskauer Bands, investierte in neue Medien und andere Bereiche der Unterhaltungsbranche. Heute ist das Stas Namin Center eines der größten und bedeutendsten Kulturunternehmen Europas. Aber schon im Herbst 1988 kam an Stas Namin kaum noch jemand vorbei, der in Moskau im Pop- und Rockgeschäft etwas auf die Beine stellen wollte. Diesen Mann also hatte sich Doc McGhee als Partner für die Großveranstaltung im Moskauer Olympiastadion ausgeguckt, die im Sommer 1989 über die Bühne gehen sollte. Das Konzept war einfach und stammte im Prinzip von Nancy Reagan. Die Präsidentenfrau war
Auch selbst ein erfolgreicher Musiker: Stas Namin
engagiert in der Bekämpfung des Drogenmissbrauchs unter Amerikas Jugend und hatte schnell realisiert, dass dieseJugend einfach dreist weghörte, wenn Außenstehende und Angehörige der Elterngeneration oder gar Regierungsoffizielle die direkte Ansprache suchten und vor den Gefahren von Drogenmissbrauch warnen wollten. Da er nun schon einmal in der Sache drinsteckte und ohne längere Zwischenstation im Knast aus dieser auch nicht wieder herauskommen konnte, wollte er zumindest für sich, seine Firma und seine Bands das Bestmögliche herausschlagen. Und das war sicherlich nicht das ein oder andere Anti-Drogenkonzert in irgendwelchen Kleinstädten in Amerikas Mittelwesten oder ein paar Benefiz-CDs für die eigens gegründete „Make A Difference Foundation“. Nein, ganz groß sollte die Sache werden, möglichst weltgeschichtlich. Da traf es sich gut, dass in der Sowjetunion ein gewisser Mikhail Gorbatschow gerade eine Revolution von oben gestartet hatte und mit Perestroika und Glasnost das Riesenreich von Grund auf umbauen wollte. Zum Umbau gehörte eine bis dahin undenkbare Öffnung zum Westen hin, und damit auch offenere Türen für Rock’n’Roller. Türen, diedie Scorpions, seit kurzem ebenfalls bei McGhee unter Vertrag, im Jahre 1988 mit zehn ausverkauften Konzerten in St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß, bereits ein großes Stück weiter aufgestoßen hatten. Kontakte in die UdSSR gab es also schon in ausreichendem Maß. Dank der Vorarbeit der Scorpions vor allem auch zu Stas Namin. Warum also nicht mal das ganz große Rad drehen und das erste große Rockfestival auf sowjetischem Boden veranstalten, dachte sich Doc McGhee, am besten 20 Jahre nach Woodstock und genau zu einem Zeitpunkt, an dem die Sowjetunion sich ihr Scheitern eingestand und nach neuen Orientierungspunkten und Horizonten suchte. Zumal die Sowjetunion schon seit längerem selbst auch ein massives Drogenproblem am Hals hatte. Soweit die kurz geraffte Vorgeschichte, die in einer eiskalten Nacht im Gorky Park-Center ihren weiteren Verlauf nahm und schließlich in einer Wodka- und Krimsekt- befeuerten Party endete, an der auch Miss Siberia, Miss Georgia und andere sowjetische Schönheitsköniginnen – alle bei Stas Namin unter Vertrag – ihren regen Anteil hatten.
Moskau 1989: Randale im Olympiastadion
Wollte eine Extrawurst und wäre beinahe vorzeitig abgereist
Im August 1989 hatte die Vorhut des real existierenden Kapitalismus endgültig stabile Brückenköpfe in der Hauptstadt des sowjetischen Riesenreiches etablieren können. Der erste McDonalds-Frikadellenbrater hatte eröffnet und war einen kurzen Sommer lang die größte Attraktion Moskaus, und Coca Cola stand bereit, den Kommunismus endgültig in brauner Brause zu ersäufen. Die Vorboten des Kapitalismus wurden wie VIPs behandelt, zumindest wenn sie rockten und rollten. Nirgendwo wurde das offensichtlicher als an jenem heißen Augusttag 1989, an dem auf dem Moskauer Flughafen der Magic Bus landete, die Maschine, in der die Hauptakteure des zweitägigen Moscow Music Peace-Festivals gepfercht worden waren. Direkt auf dem Rollfeld hatten sich – undenkbar noch ein oder zwei Jahre zuvor in der Sowjetunion – Kamerateams und Journalisten versammelt, um sie alle zu begrüßen, die Ozzy Osbournes, Mötley Crües, Cinderellas, Skid Rows und Scorpions. Die entstiegen dem Flieger aufgeregt, aber auch teilweise verbittert, denn der Flug war trocken gewesen. Scorpions-Basser Francis Buchholz kommentierte die Stimmungslage einiger seiner Kollegen nach diesem Flug mit leichter Häme: „An Bord herrschte striktes Alkoholverboot. Für den einen oder anderen Kollegen ein harter Schlag.“
Erst während des Fluges hatten, so schien es, die Musiker erstmalig realisiert, dass der Auftritt auf einem Anti-Drogen-Festival und die offizielle Unterstützung der Botschaft tatsächlich auch Konsequenzen für den persönlichen Rauschmittelkonsum nach sich zog. Als daher Jon Bon Jovi später im provisorisch am Ufer der Moskwa aufgebauten Hardrock-Café auf seine bescheidene Bitte „Kann ich bitte ein Bier haben“ nur ein harsches Njet zur Antwort erhielt, zuckte er nur noch resigniert mit der Schulter. Es sollte allerdings nicht lange dauern, bis alle Musiker, die es darauf anlegten, herausfanden, dass in Moskau, damals wie heute, die nächste Flasche Wodka nie weit weg war.
Das größte Rockereignis seit Woodstock 1969 konnte, genau zwanzig Jahre später, seinen Lauf nehmen. Anders als Woodstock, das vor allem durch Chaos, Improvisation, Missmanagement und massiven Drogenkonsum geprägt war, war allerdings das Moscow Music Peace-Festival von A-Z perfekt durchorganisiert. Nichts, aber wirklich gar nichts, war dem Zufall überlassen, weder dem sowjetischen noch dem westlichen. Nur gegen den Drogenkonsum auf dem Festivalgelände war auch in Moskau, allen Einlasskontrollen zum Trotz, kaum was zu machen.
Während die Bands und ihr Tross zunächst einmal in ihren Hotels verschwanden, herrschte im Lenin-Stadion Hochbetrieb. Das gigantische Rund, gebaut als zentrale Wettkampfstätte für die Olympischen Sommerspiele 1980, war der vorgesehene Austragungsort für das Festival. Doc McGhee hätte das Festival gern mitten auf dem Roten Platz, direkt vor den Mauern des Kreml, über die Bühne gehen lassen, aber so weit reichte die neue Freizügigkeit unter Gorbatschow denn doch noch nicht. So war das Olympiastadion dann nicht die zweitbeste, sondern die einzige brauchbare Lösung. Die Olympiade von 1980 hatte der Westen seinerzeit wegen des Einmarsches sowjetischer Truppen in Afghanistan kurz vor deren Start beinahe geschlossen boykottiert. In den Jahren seit dem Einmarsch hatte sich das Afghanistan-Abenteuer als das sowjetische Vietnam entpuppt. Auch hier eine Parallele zu Woodstock. 1969 vermittelte das Festival nicht nur für einen Moment die trügerische Illusion grenzenloser Freiheit, es gab auch für einen ebenso kurzen Moment einer ganzen Generation eine Stimme, die scheinbar geeint im Aufruhr gegen die Gesellschaft der Eltern stand und sich vor allem vehement gegen den Krieg wandte, den ihr Land im fernen Vietnam führte und der einen von Tag zu Tag höheren Blutzoll forderte. So wie damals Amerika in Vietnam in einen militärischen Sumpf geraten war, aus dem es sich nur noch unter hohen Verlusten wieder lösen konnte, so hatte sich auch Afghanistan für die UdSSR in einen Morast verwandelte, der Abertausende junger Sowjetbürger das Leben kosten sollte.
Weil nichts dem Zufall überlassen werden sollte und sowjetische Technik außerhalb der Nuklear- und Weltraumbereiche alles andere als High-Tech erschien, wurde die gesamte Licht- und Beschallungstechnik kurzerhand aus dem Westen nach Moskau verfrachtet. Insgesamt 55 Sattelschlepper waren nötig, um Bühne, PA und all die andere notwendige Technologie nach Moskau zu transportieren. Nicht nur die Technik allerdings, auch die Security kam aus dem Westen. Verantwortlich für alle Sicherheitsbelange innerhalb des Geländes war die britische Firma Showsec, gegründet von dem vormaligen Mitglied britischer Spezialeinheiten
Dr. Mick Upton: Wie sich die Zeiten ändern. Heute ist Mich Upton, Gründer von Showsec, ein weltweit anerkannter Sicherheitsexperte und Regierungsberater
Mick Upton und heute einer der globalen Marktführer. Selbst die örtliche Milizen, die im und rund um den Bühnenbereich stationiert waren, unterstanden den Showsec-Spezialisten, letztere allesamt ehemalige Elitesoldaten. Das Catering war ebenfalls komplett einer westlichen Firma übertragen worden, die zudem das Gros der Nahrungsmittel der Einfachheit halber gleich mit gebracht hatte. Für die lokale Wirtschaft war das Festival daher kaum ein Gewinn, was hängenblieb, waren kaum mehr als ein paar Brotkrumen. Nur die Dealer profitierten wahrscheinlich prächtig. Weil die Sowjetarmee immer noch tief in dem afghanischen Sumpf steckte, aus dem Gorbatschow sie mit allen Mitteln herausholen wollte, selbst wenn der Preis das bittere Eingeständnis der Niederlage war, war die Versorgungslage Moskaus mit afghanischem Haschisch und Opiaten in diesem Sommer 1989 noch hervorragend. Und Bedarf gab es reichlich.
Die Rahmenbedingungen für das Moscow Music Peace Festival waren somit hervorragend, die Organisation des Ereignisses beinahe perfekt. Die Bands konnten sich somit ganz auf die immense Aufmerksamkeit konzentrieren, die ihnen in- und ausländische Medien schenkten. Dass das Moscow Music Peace Festival tatsächlich ein globales Ereignis war, wurde schnell klar. Fernsehcrews von der Tagesschau bis zu ABC-News waren vor Ort, alle großen Nachrichtenagenturen hatten ihre Moskauer Korrespondenten auf das Thema angesetzt, und die alten und neuen sowjetischen Medien waren ebenfalls massiv präsent. Schon bevor der erste Soundcheck die noch leeren Ränge des Olympiastadions zum Zittern brachte, hatten die Musiker einen Marathon von Interviews, Pressekonferenzen und Kameraterminen hinter sich gebracht und sich selbst von ungewohnt-verblüffenden Fragen nicht aus der Fassung bringen lassen. Auch Ozzy behielt die Ruhe, als ein russischer Journalist ihn löcherte: „Ozzy, haben Sie ihren Gitarristen mit nach Moskau gebracht?“ Die ebenso kurze wie trockene Antwort: „Nee, ich trete grundsätzlich ohne Gitarristen auf.“
Am ersten Tag füllte sich das Stadion schon Stunden vor dem offiziellen Start schnell. Westlichen Augen bot sich ein ungewohntes Bild. Das Innenoval der Arena war von einer Barrikade auf voller Länge vom Haupteingang bis zum Bühnenrand in zwei gleiche Hälften geteilt. Die Barrikade allerdings bestand nicht etwa aus toten Materialien wie Holz oder Metal sondern aus durchaus lebendigen Milizionären, die in Doppelreihe standen, die Gesichter der Menge zugewandt. Wer von einer Hälfte des Stadions in die andere wechseln wollte, musste eine entsprechende Berechtigung vorweisen. Nur wer die hatte, durfte durchschlüpfen. Ähnlich sah es vor der Bühne aus. Die übliche Absperrung vor der Bühne gab es zwar auch, nur wurde die ebenfalls von Milizionären gebildet, diese allerdings besonders kräftig gebaut und mit furchterregend wirkenden Muskelbergen bepackt. Dass die Bühnenordner außerdem kräftig zulangen konnten, sollten sie dann schon in den ersten Konzertminuten auf gelegentlich abstoßende Weise unter Beweis stellen.
Die offizielle Eröffnung des Festivals geschah mit all dem Bombast, der dem Ereignis gerecht wurde. Auf der Bühne drängeln sich die Offiziellen um die Mikrofone. Unter ihnen Moskaus Oberbürgermeister, der amerikanische Botschafter und andere Würdenträger. Auch die riesige olmpische Fackel, die hoch über dem Stadion ind den wolkenlos blauen Himmel ragte, kam noch einmal zu Ehren und wurde wieder entfacht. Kurze Reden wurden gehalten, Händeschütteln, Schulterklopfen, und immer wieder die Blicke auf die Menschenmassen vor der Bühne und das Schielen auf die Kameras. Und dann ging’s endlich los. Den Auftakt machten drei sowjetische Bands, Nuance, Brigada S. Und schließlich Gorky Park. Die ersten beiden passten nicht so recht ins musikalische Konzept des Festivals, ihr eher avantgardistisch geprägter und jazzangehauchter Rock fiel zudem noch dem hundsmiserablen Sound zum Opfer. Unter dem hatten anschließend Gorky Park ebenfalls zu leiden. Derweil kam es vor der Bühne immer wieder zu fiesen Prügeleien zwischen Gruppen aus dem Publikum, darunter etliche dienstfreie Soldaten, und den sowjetischen Sicherheitskräften vor der Bühne. Schließlich eskalierte die Situation so weit, dass Mick Upton die Einsatzleiter der sowjetischen Sicherheitskräfte zum Gespräch bat und ihnen unmissverständlich zu verstehen gab, dass die Ordner sich zurückhalten mussten. Jene, die besonders aggressiv aufgetreten waren, wurden außerdem aus dem Stadion abgezogen.
Die Kulisse war atemberaubend.
Gorky Park hatten ein Heimspiel. Wenn auch kein wirklich gelungenes. Zwar ging das Publikum deutlich besser mit als bei den beiden vorhergegangenen Bands und fand auch offensichtlich Gefallen an den eingängigen melodischen Hardrock-Kompositionen der Moskauer, doch eine gewisse Zurückhaltung war ebenfalls spürbar. Die lag, so Gorky Park-Gitarrist Alex Belov später, vor allem darin begründet, dass manche Landsleute es der Band ausgesprochen übel nahmen, dass sie auf englische statt russische Texte setzte. Kein Problem waren die englischen Texte für die nachfolgenden Bands Mötley Crüe, Cinderella, Skid Row, Ozzy Osbourne, Scorpions und am Ende Bon Jovi. Im weiteren Verlauf des ersten Festival-Tages besserte sich nicht nur der Sound, auch die Reaktionen der Menschenmassen im Stadion wurden enthusiastischer, es kam langsam Stimmung auf.
Die amerikanischen Bands mussten allerdings auch feststellen, dass sie in der Sowjetunion weit weniger bekannt waren als im Rest der Welt. Viele von denen, die zu Mötley Crüe oder Skid Row vor der Bühne abrockten, hatten vorher noch nie von der Band gehört. Langsam wurde das Festival seinem Anspruch gerecht: Love, Peace, Sonnenschein und Völkerverständigung im Gitarrengewitter. Zumal die anfänglichen Prügeleien vor der Bühne nach dem energischen Eingreifen des Showsec-Bosses auch abgeklungen waren. Hinter der Bühne allerdings sah die Sache anders aus. Da rangelten die Musiker vor allem um die Auftrittsreihenfolge. Ozzy wollte unbedingt als letzter auf die Bühne und legte filmreife Tantrums hin. Mötley Crüe fühlten sich von Bon Jovi, und mehr noch von dessen Manager DocMcGhee – der nebenbei auch ihr eigener war – von vorn bis hinten verarscht weil Bon Jovi ganz klar bevorzugt wurden. Weswegen Tommy Lee denn auch hinter der Bühne mal laut, mal leise vor sich hinwütete. Wodka floss mittlerweile reichlich. Auch die Scorpions waren sauer. Sie waren die einzigen, die zuvor schon in der Sowjetunion gespielt hatten – zehn Shows in Leningrad (heute St. Petersburg) im Jahr davor – und daher zu Recht von sich behaupten konnten, dass sie bereits einen großen Namen und eine beträchtliche Zahl von Fans im Lande hatten. Trotzdem gebärdeten sich Ozzy und Bon Jovi auch ihnen gegenüber, als seien sie die naturgegebenen Headliner des Festivals und niemand sonst. Ozzy zumindest mit einer gewissen Berechtigung, seit Black Sabbath-Zeiten war auch er eine bekannte Größe in der UdSSR
Der Autor vor Ort (photo: Sylvie Simmons)
Auch die Scorpions reagierten zunehmend irritiert auf das Gezetere und Gezerre hinter der Bühne. Ihr Auftritt am ersten Abend des Festivals bewies nicht nur einmal mehr ihre Qualitäten als eine der besten Livebands des Planeten, sondern auch, dass sie in diesem Sommer 1989 in der Tat die Band mit der größten Fangemeinde in der Sowjetunion waren. Sie hätten also allen Grund gehabt, mit sich und der Moskauer Festivalwelt zufrieden zu sein. Dennoch erschienen sie am zweiten Tag genervt. Kurz vor ihrem Auftritt erklärte Rudolf Schenker dann die Gründe für den Unmut der Hannoveraner: „Wir sind ziemlich sauer. Diese ganzen Profilneurosen, die hinter der Bühne hochgekommen sind, sind uns gewaltig auf die Nerven gefallen. Wir waren klar die beste Band des Abends, haben mit Abstand die meisten Fans in der Sowjetunion, trotzdem spiele sich andere als die großen Stars auf. Wir haben eine ziemliche Wut im Bauch, und die werden wir heute auf der Bühne voll rauslassen.“ So geschah es, die Scorpions spielten sich in einen wahren Rausch, und der Funke sprang sofort auf das Publikum über. Zwischen Band und Publikum knisterte es, die elektrisierende Hochspannung zwischen beiden war beinahe körperlich fühlbar.
Zum großen Finale kamen noch einmal alle Musiker auf die Bühne, und mit dem Yoko Ono/ John Lennon-Klassiker „Give Peace A Chance“ beendeten die miteinander zerstrittenen Helden zweier Tage in seltener Eintracht ein Festival, das auf eine seltsame Art Geschichte geschrieben hat. Ein aufgeflogener Drogendeal in den USA, ein Rockmanager, eine Präsidentengattin, Schwer- und Glam-Metal Rocker, eine Antidrogenbotschaft, das zwanzigjährige Woodstock-Jubiläum, Egomanen, Love, Peace und Wodka, ein zerbröselndes Weltreich, das Ende des Kommunismus und des Kalten Krieges, kommerzielles MTV Bezahlfernsehen – das alles und noch einiges mehr waren die Zutaten, aus denen in Moskau ein Ereignis zusammengebraut worden war, das zu einem nahezu perfekten geschichtlichen Zeitpunkt über die Bühne ging und so in die Rockgeschichte im Allgemeinen und in die russische Populärkultur-Geschichte im Besonderen eingegangen ist.
Edgar Klüsener
Nachtrag: Los Angeles, Juni 1990, etwas weniger als ein Jahr nach dem Moscow Music Peace Festival. Im Studio von Keith Olsen spielt mir Klaus Meine einen Song vor, den die Band gerade eingespielt hat. „Was hältst du davon?“, fragt er. „Die Idee zu dem Song ist mir in der UdSSR gekommen, als ich in einer Sommernacht im Gorki Park-Center saß und auf die Moskwa blickte. Ursprünglich war das gar nicht für das Album gedacht. Ich hatte das Stück nur so für mich aufgeschrieben. Das Lied ist meine persönliche Aufarbeitung dessen, was in den letzten Jahren in der Welt passiert ist. Der Titel ist „Wind of Change“. Diesen Wind der Veränderung, der wie ein Orkan durch Ost und West getobt hat, haben wir ja in Moskau und Leningrad am eigenen Leibe spüren können.“ Ein Jahr später wurde der Song veröffentlicht und zur Hymne einer Zeit der massiven Umwälzungen, die die Nachkriegsordnung in kürzester Zeit völlig umkrempelten.
Zwischen Pop und Aromatherapie: Wie sich das britische Provinznest Glastonbury mit seiner Rolle als Pilgerstätte für Musikfans und Mystiker arrangiert hat.
„Glastonbury Festival for Contemporary Performing Arts“ – der umständlich lange Name sagt es schon: Nicht nur Popmusik wird geboten, auch Theater, Dichterlesungen, Workshops, Pantomime und vieles mehr. Aber das ist kaum mehr als kulturelles Beiprogramm, im Vordergrund stehen natürlich die Superstars und Hitparaden-Eintagsfliegen der angloamerikanischen Popkultur. Wer eine Gitarre halten oder auch nur ein DJ-Deck bedienen kann, kennt auf der Insel eigentlich nur ein Ziel: Einmal Attraktion von Glastonbury sein. In diesem ersten Jahr nach dem Brexit-Referendum ist als erste Topp-Attraktion die Band Radiohead bereits bestätigt. Sie treffen vom 22. bis 26. Juni im ländlichen Südwesten Englands auf der Farm des Bauern Michael Eavis auf rund 150.000 Fans. Radiohead spielen bereits zum dritten Mal als Headliner auf dem wichtigsten Festival Großbritanniens.
Eavis‘ „Worthy Farm“ liegt allerdings gar nicht in Glastonbury, noch nicht einmal in der Nähe. Das Festivalgelände befindet sich rund zwölf Kilometer entfernt am Rande des Dorfes Pilton, zu dem es von Glastonbury aus nur eine Busverbindung (einmal pro Stunde tagsüber) gibt. Kein Wunder, dass seit fast drei Jahrzehnten fast Jahr für Jahr Tausende in Glastonbury hängen bleiben und es nie bis zum Festival schaffen. Wer zum Glastonbury-Festival via Glastonbury anreist, hat sowieso mit einiger Sicherheit was falsch gemacht, da Pilton von den Städten Bath oder Bristol aus wesentlich einfacher zu erreichen ist. Warum es dann trotzdem Glastonbury-Festival oder kurz „Glasto“ heißt? Bauer Eavis, Veranstalter und Erfinder des Open-Air-Events hatte seinerzeit geglaubt, dass „Glastonbury-Festival“ einfach besser klingt als „Pilton-Festival“. Außerdem ist die Gemeinde Glastonbury für die Lizenzvergabe zuständig – wenn auch nicht in jedem Jahr dazu bereit. 2001 war zum Beispiel so in Jahr, in dem Britanniens Popzirkus ohne „Glasto“ auskommen musste, weil die Behörden zu viel zu mäkeln hatten.
The Temple of the Goddess (pic: Edgar Klüsener)
Es gibt freilich schlechtere Orte, in denen man stranden kann, als dieses Provinznest. Denn nichts anderes ist Glastonbury auf den ersten Blick, eine verschlafene englische Kleinstadt, eingebettet in eine überkultivierte bäuerliche Landschaft. Eine Hauptstraße, ein zentraler Platz mit Kriegsdenkmal und einigen Geschäften, eine Kirche – man fährt durch und ist schon wieder draußen, während man noch die Innenstadt sucht. Nichts Erwähnenswertes offenbart sich dem Durchreisenden, zumindest nicht auf den ersten Blick. Und doch gibt es Besonderheiten und Kuriositäten ohne Ende. Es ist ein warmer Herbsttag, das Glastonbury-Festival 2016 liegt schon einige Wochen zurück, und trotzdem sieht es so aus, als hätten viele Festivalbesucher schlicht vergessen, wieder abzureisen. Wie wohl in jedem Jahr, denn neben Teenagern im Neo-Hippie-Outfit flanieren auch alt gewordene Punks, das schütter gewordene Haar mühsam zum Stachel-Irokesen hochgeklebt, und Althippies, die schlohweiße Lockenpracht zum Pferdeschwanz gebündelt, die Hauptstraße entlang. Wo mögen nur die Einheimischen stecken, fragt sich der verwirrte Besucher, der bodenständige englische Landbevölkerung erwartet hatte. „In den umliegenden Dörfern„, erklärt die Kellnerin in einem der kleinen freundlichen Cafés, das gezielt damit wirbt, dass Raucher willkommen seien. Zumindest sie ist eine Einheimische, kommt aber nur zur Arbeit nach Glastonbury. Dass Glastonbury anders sein könnte als andere englische Kleinstädte, hatte schon die Zimmersuche vermuten lassen. Die Website des Kreises Glastonbury listet eine ganze Reihe von Pensionen, Bed & Breakfasts und Hotels auf, die fast alle mit unerwarteten Besonderheiten werben. Bei einigen ist die Aromatherapie im Übernachtungs-Preis inbegriffen, andere richten sich ausdrücklich nur an Vegetarier oder bieten spirituelle Erfahrungen – kaum eine Herberge beschränkt sich aufs simple Kerngeschäft, das traditionell aus einem gemachten Bett und einem ordentlichen Frühstück besteht.
klassisches Glastonbury B&B (pic: Edgar Klüsener)
Valerie Smith betreibt eine dieser Pensionen, die Old Bakery. Ein kleines Bed And Breakfast, am Rande des Ortskerns gelegen. Das Haus, erbaut im 19. Jahrhundert ist blitzsauber und denkmalgeschützt. Schuhe müssen im Eingangsbereich ausgezogen werden. Das Frühstück ist strikt vegetarisch, das Obst – frische Feigen inklusive – stammt aus dem eigenen Garten und ist selbstredend organisch angebaut. Die Badewanne ist von duftenden Teelichtern in verschiedenen Farben umgeben, damit die Vibrations auch bei der Entspannung in heißem Wasser noch stimmen. Frau Smith, eine freundliche, redegewandte Mittfünfzigerin, die weit jünger wirkt, ist natürlich keine Einheimische. Ursprünglich stamme sie aus Bristol, habe aber viele Jahre in Kalifornien gelebt. Ihre Pension verströmt dann auch ein bisschen spirituell angehauchtes Westküstenflair mit keltischem Einschlag. Nach Glastonbury sei sie wegen der einzigartigen Atmosphäre gekommen, sagt sie. Mit dem Popfestival hat sie jedoch nichts zu tun. Das ist ihr eher ein Ärgernis, weil das Städtchen alle Jahre wieder für zehn endlose Tage heillos übervölkert ist. Und weil mit den Popfans auch die unerwünschten Elemente nach Glastonbury kommen, die Straßenräuber, die besoffenen Schläger, die Drogendealer, die Eckenpinkler, Taschendiebe und Randalierer. Zehn Tage lang ist dann die sonst so heile Glastonbury-Welt in absoluter Unordnung.
Die öffentliche Ruhestörung nehmen die Einwohner dennoch erstaunlich gelassen: „Das sind halt die Begleiterscheinungen. Aber am Ende ist natürlich das Festival gut für die Wirtschaft Glastonburys. Schließlich bringt es Besucher in den Ort.“ Darüber sind sich Café-Kellnerin, Gastronomen und örtliche Buchhändler einig.
Glastonbury’s älteste Herberge, das Georg Hotel and Pilgrim’s Inn (pic: NotFromUtrecht)
Apropos Buchhändler: Glastonbury beherbergt in seinen engen Gassen mehr Buchhandlungen als so manche deutsche Großstadt. Und ausnahmslos alle haben überproportional große Abteilungen für esoterische Literatur, von der ein Großteil Glastonbury selbst gewidmet ist. Das kommt nicht von ungefähr, denn die Stadt ist auch das Zentrum des mythischen Avalon und außerdem Fokuspunkt für diverse heidnische Kulte. Druiden tummeln sich hier, Buddhisten, Pagans – Anhänger wieder belebter keltischer Religionen – und Anbeter der Erdgöttin Gaia, die mitten in der Innenstadt ihren eigenen Tempel hat. Für spirituelle Zirkel und alle möglichen anderen New-Age-Touristen ist Glastonbury ein heidnisches Mekka, in das sie zu Tausenden strömen. Busladungen voller Mystik-Pauschalreisender aus der Rheinpfalz machen Stadt und Umland unsicher, deutsche Heavy-Metal-Gruppen suchen am Grab von König Arthur (das sagt zumindest die Grabplatte, wer wirklich drin liegt, ist eher umstritten) Inspirationen fürs nächste Konzept-Album („Irgendwas mit Excalibur oder so“), und angehende Lehrerinnen aus dem sonnigen Kalifornien schnuppern schnell noch mal einen Hauch keltischer Mystik, bevor es dann in den Schulen von South Central endgültig tödlich ernst wird.
Glastonbury hat also nicht nur während des alljährlichen Popspektakels Hochkonjunktur. Und da so viele Besucher vergessen, wieder abzureisen, ist auch der lokale Immobilienmarkt seit Jahren auf dem Höhenflug. Häuser und Wohnungen werden zu Preisen gehandelt, die frappierend an jene in den besseren Londoner Wohnvierteln erinnern. Normalsterbliche Engländer können da nicht mehr mithalten. Kein Wunder, dass ein Teil der Ureinwohner längst abgewandert ist und die Innenstadt dem aus den Metropolen zugewanderten, besser betuchten Künstler- und Esoterikvolk überlassen hat.
Eine Aura der Unwirklichkeit liegt über der Stadt, die in einem Paralleluniversum zu existieren scheint, das ebenso weit von der umliegenden englischen Countryside entfernt ist wie vom hektischen Alltag der britischen Großstädte. Die Hippie-Mädchen jonglieren, ein alternder Punk spricht mit verdächtig deutschem Akzent, amerikanische Touristen spielen japanische Touristen und fotografieren alles und jeden, weil’s doch alles „so europäisch“ ist, „the history, you know“. In der alten Abbey sucht eine weitere Busladung deutscher Touristen das Grab vom König Arthur; nur der Gitarrist, der jeden Abend in einem der vegetarischen Restaurants aufspielt, träumt von Pilton. Weil da das Popfestival ist, für ihn das echte Glastonbury, und da will er auch mal auf der Bühne stehen. Wie jeder britische Musiker, der auf sich hält. Vielleicht wird’s ja in diesem Jahr was. Oder im nächsten, die Erdgöttin vom Tempel nebenan wird’s schon richten.
Ach ja, das Glastonbury-Popfestival 2017 ist übrigens seit Wochen restlos ausverkauft.
Für die Scorpions waren die Siebziger Jahre die Dekade, in der sich der Kern der Band endgültig fand, in der sie sich rasant von einer Amateurcombo in einen internationalen Act wandelte. Über ihren Weg in den frühen Siebzigern ist dennoch relativ wenig bekannt. Grund genug, diese Jahre einmal etwas eingehender unter die Lupe zu nehmen.
Mit Michael Schenker an der Leadgitarre und Klaus Meine als Sänger hatte die Band Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger eine ganz erhebliche Qualität gewonnen. Hinzu kam ein riesiges Repertoire von Rock-Standards, zunehmend spezialisiert auf harten Rock á la Led Zeppelin, Deep Purple oder Black Sabbath, sowie erstes eigenes Material. In der Amateur- und Semiprofiszene konnten sich die Scorpions bundesweit einen mehr als beachtlichen Stellenwert erspielen und galten unter Veranstaltern generell als sicherer Tip für gutbesuchte Häuser. Dennoch war die finanzielle Situation der Band ständig bis zum äußersten angespannt, wie Klaus sich erinnert:
»Ich war damals noch ein sehr starker Raucher. Irgendwann passierte es mal, dass ich keine Zigaretten mehr hatte, dafür aber einen tierischen Schmacht. Ich wollte also drei Mark aus der Bandkasse nehmen, um irgendwo Zigaretten kaufen zu können. Rudolf, der die Kasse machte, gab mir keinen Pfennig, weil wir die letzten paar Märker dringend brauchten, um nochmal Benzin nachzutanken. Sonst hätten wir’s nicht mehr nach Hannover zurück geschafft. Jeder Pfennig, den wir verdienten, floss direkt wieder in die Band. Wir finanzierten davon die Reisen zu den Konzerten und die Erweiterung der Anlage. Für alles andere war kein Geld da!«
Der deutsche Regisseur Schlesinger drehte in jener Zeit einen Anti-Drogen-Film mit dem Titel Das Kalte Paradies (Jahre später auch im ZDF ausgestrahlt). Zu diesem Film suchte er noch die passende Musik. Er trat an die Band heran mit der Bitte, den Soundtrack für den Film zu schreiben. Sie spielten ihm drei Songs vor und entschlossen sich dann, diese in einem richtigen Studio nochmal neu aufzunehmen. Nur welches sollte das sein? Der Hannoveraner Musikerkollege Frank Bornemann empfahl das Hamburger Star-Studio von Conny Plank, der sich gerade einen Namen als Produzent von Kraftwerk gemacht hatte. Plank hörte sich die Demos, war interessiert und lud sie zu Aufnahmen in sein Studio ein. Gleichzeitig bot er den Scorpions einen Produktionsvertrag an, der ohne großes Hin und Her angenommen worden.»Hört zu, Jungs, ich mache eine Platte mit Euch,» teilte er der Gruppe mit und fuhr fort: »Im Oktober fangen wir an!»
Das Möbel steht in einem Erker. Aus bleigefassten Fenstern fällt bleicher Tagesschimmer in den Raum, weckt einen matten Glanz auf der blanken, dunklen Edelholz-Oberfläche. Das Möbel steht an diesem Ort seit mehr als hundertfünfzig Jahren. Draußen ist Europa in diesem Zeitraum zweimal in Blut ertrunken und seltsam vereint wieder auferstanden, sind Weltreiche in den Geschichtsbüchern für immer als verblichen abgelegt worden.
Das Möbel hat die Zeitläufte unbeschadet überstanden, nur bei genauem Hinschauen sind zarteste Kratzer und Abschürfungen zu erkennen. Scheinbar unberührt steht es im Erker, eingebettet in staubige Stille, die nur gelegentlich durchbrochen wird, wenn sich ein Besucher in das Zimmer verirrt. Der hat vielleicht ein Buch in der Hand und ist gekommen, um ein wenig in dem zu blättern und zu lesen. Vielleicht ist er aber auch einfach nur neugierig auf das Zimmer, auf den Tisch. Denn an diesem Tisch ist Geschichte geschrieben worden, sind Sätze auf Papier gebannt worden, die Europa, die Welt bewegt haben. Das Zimmer ist am Ende eines Flures, der an beiden Seiten von hohen Regalen begrenzt wird. Die Regale stehen hinter Gittern. In ihnen stapeln sich Bücher, schwere Schwarten, in brüchiges Leder gebunden, zwischen ihnen zierliche, schmale Bändchen. Man sieht den Büchern ihr hohes Alter an, und doch, sie wirken zeitlos, so wie manches von dem Wissen, das in ihnen schlummert, zeitlos scheint. Der Flur ist im Obergeschoss des Seitenflügels des ältesten Teils eines Gebäudekomplexes, das an eine mittelalterliche Klosteranlage erinnert. Langgestreckte Gebäude umschließen einen großzügigen Innenhof. Ein viel zu großer Teil der einst üppigen Ziergartenfläche hat Parkplätzen weichen müssen. Schattige Wandelgänge vertiefen den klösterlichen Eindruck. Einst war das alles Bibliothek, die Chetham Library in Manchester. Heute sind die meisten Gebäude von der Chetham Music School, eine der führenden Musikschulen Englands, belegt. Studenten eilen über die Innenhöfe, aus den Fenstern erklingt Musik. Irgendwo entlockt jemand einer Geige avantgardistisch anmutende Klangfetzen, aus einem Fenster direkt neben dem Eingang dringt der satte Ton eines Alt-Saxophons heraus. Im hintersten Gebäude, im Zimmer am Ende des Flures im Obergeschoss ist davon nichts zu vernehmen.
Der Tisch, an dem Karl Marx und Friedrich Engels am Kapital gearbeitet haben
Hier steht die Zeit still. Ich sitze an dem Tisch im Erker, schaue aus dem Fenster in einen wolkenlos blauen Himmel über Manchester, so wie vor hundertfünfzig Jahren Friedrich Engels an diesem Tisch gesessen haben mag, vor sich ausgebreitet Bücher und Papier, daneben eine Tasse heißen Tees und frisch gebackene Teeküchlein. Ihm gegenüber hockte da wohl sein Freund Karl Marx, auch vor ihm Bücher, Papier, Teegebäck und Tee. Das Teegebäck in der Chetham Library haben sie beide geliebt, und sich später, als Karl wieder zurück in London war, in Briefen sehnsüchtig über die Köstlichkeiten und den würdigen alten Bibliotheksdiener, der sie servierte, ausgelassen. In den Fünfziger Jahren des Neunzehnten Jahrhunderts verbrachte das Freundespaar, das nach der gescheiterten Revolution von 1848 Deutschland hatte verlassen müssen, viele Tage an diesem Tisch, studierte, recherchierte und arbeitete an einem Werk, das das Schaffen von Karl Marx krönen sollte: Das Kapital. Zuvor hatten die beiden mit ihren Schriften schon für erhebliche Unruhe in Europa gesorgt. Friedrich Engels hatte während seines ersten Aufenthalts in Manchester von 1842 bis 1845 für sein Werk über die Lage der arbeitenden Klasse in England recherchiert, das 1844 in Deutschland erschien und das die Grundlage für das von Marx wenig später verfasste Kommunistische Manifest bilden sollte. „Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus“, so beginnt das Manifest und mit ihm das Zeitalter der sozialistischen Utopien von der massenmörderischen Stalin-Variante bis hin zur mild-wohltätigen Sozialdemokratie der skandinavischen Art.
Chethams School of Music . heute eine der führenden Musikschulen Großbritanniens
Die Tischplatte fühlt sich angenehm kühl an unter der Handfläche und behält ihre Geheimnisse für sich. Wie mag das Kratzen der Feder geklungen haben, mit der Marx seine Notizen auf Papier bannte? Welche Gespräche mögen die Freunde während ihrer Stunden fern von Frau Marx und Engels irischer Lebenspartnerin Mary Burns in diesem Erker geführt haben? Nur hochgeistige oder auch ganz banale? War das Wetter ein Thema, der neue Arbeitersport Fußball oder gar die irische Band, die in einem der Pubs in den Arbeiterslums am River Medlock zum Publikumshit geworden war?
In den Slums und Pubs des Fabrikproletariats war Friedrich Engels ein häufiger Gast. Der Sohn aus einer bergischen Fabrikantenfamilie, tagsüber leitender Angestellter im väterlichen Unternehmen und somit selbst einer der kapitalistischen Ausbeuter, verbrüderte sich bei Nacht mit irischen, polnischen, deutschen und englischen Arbeitern, soff mit ihnen, tanzte mit ihnen und führte dabei mit der kühlen Distanz eines unbeteiligten Beobachters Buch über die katastrophalen Lebensumstände in den Arbeiterghettos, denen er jederzeit in seine komfortable Firmenvilla oder in das gemeinsam mit Lebensgefährtin Mary Burns und deren Schwester Lizzy – seine spätere Ehefrau – bewohnte Mietapartment entfliehen konnte.
Ob er mit Karl Marx auch über seine Beziehung zu den Schwestern Burns geplaudert haben mag? Der Tisch schweigt, bei ihm ist jedes Geheimnis sicher aufgehoben. Wir wissen nur aus den Briefen von Jenny Marx and Karl Kautsky, das Marxens Ehefrau die unkultivierte irische Geliebte des Friedrich Engels nicht sonderlich sympathisch gewesen war.
Draußen färbt sich der Himmel langsam in ein rötliches Gold. In der Ferne, hinter den Dächern von Manchester und Salford, liegt das Meer, liegt die Hafenstadt Liverpool und ihr gegenüber Irland. Die Zeit im Erker ist wie Bernstein, sie scheint still zu stehen, den Tisch und den Raum für immer eingeschlossen zu haben. Fast meine ich Marx und Engels miteinander wispern zu hören, aber dann ist’s doch nur eine Mitarbeiterin der Bibliothek, die in leisem Tonfall darauf aufmerksam macht, dass in einigen Minuten geschlossen wird. Ein letzter Blick zurück auf den Tisch, an dem Geschichte geschrieben wurde. Unberührt und zeitlos steht er da, versinkt langsam im Dämmerlicht, und ich weiß, dass er auch in hundert Jahren noch so dastehen wird. Ein Zeitreisender, losgelöst von Welt und Wahn.
Extrabreit live beim Tower-Festival.
Foto: Frank Schwichtenberg (Schwicht de Burgh Photography), Creative Commons
Nena, Extrabreit, Eroc, Grobschnitt…. Für einen kurzen Augenblick in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts war Hagen eine Popmetropole von westdeutsch-nationaler Bedeutung. „Komm nach Hagen, werde Popstar“, texteten Extrabreit damals, und der Ruf wurde gehört. Die Medien wurden aufmerksam und kamen nach Hagen, Musiker zogen aus anderen Städten zu, die Stadt am Volmestrand war plötzlich angesagt. Eine Art Seattle-Effekt in der westfälischen Provinz. Bald darauf jedoch versank die Stadt wieder in provinziellem Tiefschlaf, die Karawane zog weiter. Hagens flüchtiger Moment als Popmetropole der BRD hatte dennoch Folgen für die deutsche Rock- und Medienwelt.
Irgendwo am Rande des Sauerlands, fast noch Ruhrgebiet, aber eben doch nicht mehr ganz, liegt diese kleine Großstadt. Dicht bewaldete Hügel des Sauerlandes begrenzen sie im Süden, im Westen die Höhen des Bergischen Landes und im Norden und Osten die an manchen Stellen fast idyllischen Flußlandschaften von Lenne und Ruhr. Mitten durch die Innenstadt fließt die Volme, zu breit für einen Bach, aber auch noch kein richtiger Fluss. So wie Hagen zu groß für eine Kleinstadt ist, aber zu klein für eine Großstadt. Etwas über 200.000 Menschen lebten hier noch in den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Seitdem fällt die Zahl ständig. Schuld daran ist vor allem die Industrie. Oder vielmehr: deren Fehlen. Denn die Schwerindustrie hatte noch bis ins letzte Drittel des Zwanzigsten Jahrhunderts das Bild der Stadt bestimmt, hatte Brot und Arbeit garantiert und ein kleines bisschen Wohlstand. Sie hatte arbeitssuchende Einwanderer aus Ländern wie Italien, der Türkei oder Griechenland angelockt und so dazu beigetragen, dass die Stadt zumindest an der Oberfläche ein wenig multikultureller wurde. Als jedoch die Stahlindustrie starb, starb auch Hagen, langsam und schleichend. Aber nicht lautlos. Mitten in der Depression explodierte die Stadt plötzlich in einem kurzen, aber dafür umso grelleren Feuerwerk der Kreativität. Das war, als Hagen plötzlich rockte.
Hagener Innenstadt
Musik war für viele der letzte, der einzige Ausweg aus der grauen Öde der siechenden Stadt, ein Aufschrei der Frustration, irgendwie auch ein Hilferuf. Der erdrückenden Langeweile, der provinziellen Enge konnte nur noch mit schrillen Tönen begegnet werden. Hagen war allerdings nicht Hamburg, München oder Berlin. Nicht einmal Köln. Hagen war Provinz, was dort vor sich ging, interessierte schon zehn Kilometer weiter meist weniger als der Jahresbericht des Taubenzüchtervereins. Gut, es gab Grobschnitt, die Progressiv-Rocker, die in den Siebzigern mit langatmigen Mega-Kompositionen wie ‚Solar Music‚ zu Krautrock-Pionieren geworden waren. Aber das war’s auch schon. Auf Popmusik aus Hagen hatte niemand gewartet. Nicht einmal im benachbarten Dortmund. Wer was werden wollte, wer künstlerische Ambitionen hatte, Freiheit und Abenteuer suchte, der verließ die Stadt so schnell wie möglich. Wie die Humpe-Schwestern, die nach West-Berlin ausbüchsten. Andere aber blieben. Und weil weder Medien noch Plattenfirmen freiwillig nach Hagen kamen, schufen sie sich eben eigene Medien, Plattenfirmen, Managements, Konzertbüros und Musikverlage und schrien ihre Existenz laut in die Welt hinaus. Es gab verschiedene Epizentren des Bebens, das von Hagen aus in den nächsten Jahren die bundesdeutsche Musikwelt erschüttern und verändern sollte. Die meisten konzentrierten sich auf den Ortsteil Wehringhausen, das Viertel der links angehauchten Studentenszene, der Künstler und Musiker und der Kinder der Nacht.
Wichtiger noch aber war, zumindest für einige Monate, ein grauer Bürobau am Rande Wehringhausens. Die Berliner Straße verbindet die Innenstadt mit dem Vorort Haspe. Damals führte sie vorbei an dunklen Mietskasernen, an Fabriken und Lagerhallen. In einem tristen Zweckbau an der Berliner Straße, irgendwo zwischen Wehringhausen und Haspe, hatte sich 1979 eine kurzlebige Bürogemeinschaft etabliert, in der all die wichtigen Akteure der Hagener Szene und ihres Umfeldes unter einem Dach arbeiteten, die in den folgenden Jahren deutsche Musik- und Popmediengeschichte mitgestalten sollten.
Auf Popmusik aus Hagen hatte niemand gewartet…
Kai Havaii Foto: Peternfuchs (Creative Commons)
Angemietet hatten das Gebäude die Geschäftspartner Hartwig Masuch und Ulrich Wiehagen. Die beiden betrieben zusammen einen Musikverlag, bei dem unter anderen die Bands The Stripes, mit Sängerin Nena, und Extrabreit unter Vertrag waren, wie auch The Ramblers, deren Sänger Hartwig Masuch war, allerdings unter dem Künstlernamen Christian Schneider. Uli Wiehagen gab außerdem die Zeitschrift Musiker/ Musik News heraus. Deren Chefredakteur war für einige Monate Jörg Hoppe, der Kopf hinter Extrabreit, und ihr Chefdesigner Kai Schlasse alias Kai Havaii. Eine weitere Mitarbeiterin war Gundi Brühl. Den Satz besorgte Jürgen Wigginghaus. Nebenan werkelte eine Konzertagentur, die Tourneen für Extrabreit, Fehlfarben, The Stripes und andere Bands buchte und in der Peter Dell, späterer Bassist der Heavy Metal-Gruppen Faithful Breath und Risk das Tagesgeschäft erledigte.
Alle, die hier arbeiteten, hatten zweierlei gemeinsam: sie wollten raus aus der Provinz, und sie sollten in den folgenden Jahren eine wichtige Rolle in Deutschlands Musik- und Medienwelt spielen.
Da wäre der Malersohn und Rolling Stones-Fan Hartwig Masuch, für den es schon zu Schulzeiten klar war, dass außer Musik für ihn nicht viel anderes in Frage kam. Er war nicht nur der Sänger der Band The Ramblers, er hatte mit seinem Partner Uli Wiehagen auch kurzerhand noch ein Management aufgebaut. Und einIn einem tristen Zweckbau an der Berliner Straße, irgendwo zwischen Wehringhausen und Haspe, hatte sich 1979 eine kurzlebige Bürogemeinschaft etabliert, in der all die wichtigen Akteure der Hagener Szene und ihres Umfeldes unter einem Dach arbeiteten, die in den folgenden Jahren deutsche Musik- und Popmediengeschichte mitgestalten sollten.en Musikverlag. Für letzteren nahm er fleißig junge Bands unter Vertrag. Wie Extrabreit, Ina Deter, Abwärts oder wie The Stripes. Die schickte er zum Aufnehmen von Demobändern nach Hiltpoltstein, wo Jonas Porst, Sohn des einzigen westdeutschen kommunistischen Großunternehmers und der Mann hinter Ihre Kinder, ein Tonstudio betrieb. Mit den Aufnahmen suchte – und fand- er dann Plattenfirmen für seine Bands. Zupass kam ihm da sicherlich auch das Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Ruhruniversität Bochum. Heute ist Hartwig Masuch längst kein Sänger Christian Schneider mehr, wohl aber unter eigenem Namen der CEO von BMG Rights Management und damit eine der Schlüsselfiguren im weltweiten Musikgeschäft.
Jörg Hoppe, kurzzeitiger Chefredakteur des Musiker, war in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts Hagens Antwort auf Malcolm McLaren, ein umtriebiger Konzertveranstalter, Journalist, Promoter, Manager und Popideologe, vor allem aber Manager von Extrabreit. Seine Wohngemeinschaft in der Wehringhausener Buscheystraße 56 war eine der kreativen Kernzellen der Hagener Szene. In ihr lebte nicht nur Kai Hawaii, auch die Gruppe Kein Mensch und der Künstler Wolfgang Luthe waren Teil der WG. In späteren Jahren produzierte Hoppe Deutschlands erste Heavy Metal TV-Show für den damals noch jungen und aufregenden Privatsender Tele 5, gründete zusammen mit Christoph Post und Marcus Rosenmüller die Film- und TV-Produktionsgesellschaft MME, war Gründungsgesellschafter von VIVA und erhielt nicht zuletzt 2000 den Grimme-Preis für die bahnbrechende TV-Dokumentation „Pop 2000“.
Jürgen Wigginghaus 1988
Jürgen Wigginghaus hatte schon ein Kapitelchen deutscher Rockgeschichte geschrieben, bevor es ihn als Setzer in die Berliner Straße verschlug. 1976 hatte er im Heideörtchen Scheeßel ein dreitägiges Rockfestival veranstaltet, bei dem jede Menge großer Namen aus Europa und den USA auftreten sollten. Sollten ist hier das passende Wort, denn einige von den amerikanischen Hauptattraktionen zogen es vor, zwar die Vorkasse einzustreichen, dann aber doch nicht in die Heide zu reisen. Was dazu führte, dass die niederländischen Rocker Golden Earring den längsten Gig ihrer Karriere spielten, aber trotzdem nicht verhindern konnten, dass wütende Fans am Ende die Bühne abfackelten und den Veranstalter am nächsten Baum aufknüpfen wollten. Der entkam dem Chaos knapp im Kofferraum eines Mercedes. „Rock in Scheeßel, Feuer in der Nacht“ war der Titel des Songs in dem die Deutschrocker Franz K das Geschehen später besingen sollten. Und „Scheeßel“ war der Schlachtruf den wütende Konzertbesucher Wochen später auf den Lippen hatten, als auf der Lorelei erneut eine Bühne in Brand gesetzt wurde, diesmal, weil Jefferson Airplane einfach nicht erschienen waren. Jürgen Wigginghaus sollte nicht lange der Setzer in der Berliner Straße bleiben, sondern sich bald selber zum Verleger wandeln. 1984 gründete er das Magazin Metal Hammer, das bereits 1988 das größte Heavy Metal Magazin der Welt war. Landessprachliche Ausgaben erschienen in Holland, Großbritannien, Spanien, Griechenland, Italien, Frankreich, Ungarn, Polen und am Ende sogar in Gorbatschows UdSSR. Anfang 1986 hatte es noch ein Konkurrenzmagazin gegeben, herausgegeben von der Münchener Marquardt-Gruppe (Musik Express/Sounds, Cosmopolitan, Harper’s Bazar), das den Titel Crash trug und dessen Chefredakteurin die bereits erwähnte Gundi Brühl war. Als Jürgen Wigginghaus 1986 den Metal Hammer an die Marquardt-Gruppe verkaufte, wurden Metal Hammer und Crash zu einem Magazin zusammengelegt. Heute ist Metal Hammer immer noch eine der wichtigsten Rockzeitschriften der Welt. Jürgen Wigginghaus allerdings hat sich wieder ins Sauerland zurückgezogen, wo er von Lüdenscheid aus ein kleines Regionalmagazin-Imperium aufbaut.
Der Bürogemeinschaft in der Berliner Straße war kein langes Leben beschieden. Doch ohne die, die damals für kurze Zeit in ihr arbeiteten, sähe Deutschlands Musikwelt heute anders aus.
Ach ja, fast vergessen: Der Autor, Edgar Klüsener, war von 1987 bis 1990 Chefredakteur des Metal Hammer und natürlich ebenfalls aus Hagen. Zusammen mit Peter Dell, dem späteren Bassisten von Faithful Breath und Risk, betrieb er von der Berliner Straße aus außerdem die Konzertagentur ALLES LIVE, die unter anderen Tourneen für Extrabreit buchte.
Das Örtchen Styal liegt gerade mal eine Steinwurfweite weg vom geschäftigen Flughafen Manchesters. Styal ist nicht viel mehr als eine Durchfahrtsstraße von Manchester nach Wilmslow, ein paar Häuser, ein Ortsschild, das war‘s. Rundherum viel Flughafen und ein wenig wunderschöne Landschaft, schließlich beginnen hier die lieblichen Hügel und Gärten der Grafschaft Cheshire. Am Ortsende biegt rechts eine schmale Zufahrtsstraße zur Quarry Bank Mill ab, die in einem enormen Parkplatz endet. Reisebusse stehen da und jede Menge Autos. Vom Parkplatz aus geht es über Treppen hinab in ein schattiges Flusstal, in dessen Grund langgestreckte Fabrikgebäude stehen, die Quarry Bank Mill.
Hier hat sie also begonnen, die industrielle Revolution, die England zur ersten Supermacht der Neuzeit machte und die schließlich den zersplitterten und heillos zerstrittenen europäischen Kontinent für mehr als ein Jahrhundert zum wirtschaftlichen, technologischen und politischen Mittelpunkt der Erde wachsen ließ. In dieser lauschigen Senke, die der River Bollin in Jahrtausenden aus dem Sandstein gefräst hat, hat Samuel Gregg 1784 die Grundsteine für ein globales Baumwollimperium gelegt und quasi im Alleingang die Industrielle Revolution gestartet. Es war wohl kaum die romantische Schönheit des Flusstals, die ihn bewogen hat, ausgerechnet an diesem Ort seine Fabrik aufzubauen, sondern vielmehr die verkehrsgünstige und geschützte Lage am Rande Manchesters sowie die Wasserkraft, die der Bollin in unbegrenzter Menge bereitstellte. Samuel Gregg war einer der neuen Reichen seiner Zeit. Die finanziellen Mittel zum Aufbau der Fabrik stammten größtenteils aus dem Familienvermögen, erwirtschaftet im Sklavenhandel, dessen weltweites Zentrum die nahe gelegene Hafenstadt Liverpool war. Gregg war nicht nur reich und geschäftstüchtig, er war auch ein Visionär. Wie kaum ein anderer Unternehmer seiner Zeit realisierte er die Möglichkeiten zur Automatisierung und Rationalisierung von Arbeitsprozessen, die neue Erfindungen und Technologien und die Nutzung von Wasserkraft und bald darauf Dampf offenbarten.
Mechanischer Webstuhl
Seine Arbeiter rekrutierte Gregg in den umliegenden Tälern, Hügeln und Waisenhäusern der Grafschaften Cheshire und Lancashire. Auch die neuartigen Maschinen, die er so konsequent einsetzte wie niemand sonst, waren örtliche Produkte, ausgedacht und produziert von Erfindern und Ingenieuren in den benachbarten Ortschaften und Städten. Greggs Fabrik wurde so zur Keimzelle einer globalen technologischen Revolution, das kleine Styal und die Nachbarorte in Cheshire und Lancashire zu einem Innovationszentrum, das noch am ehesten vergleichbar ist mit dem Silicon Valley des späten 20ten und frühen 21ten Jahrhunderts.
Die fieberhafte Geschäftigkeit jener Tage ist heuer nur noch eine vage Erinnerung. Statt der Arbeiter, die im Akkord die aus allen Ecken des Empires importierte Baumwolle industriell in hochwertige Garne, Stoffe und Tücher verwandelten, wimmeln nun Schulklassen und Touristen aus allen Teilen Großbritanniens durch die liebevoll restaurierten Fabrikgebäude.
Die Fabrik ist ein Technologiemuseum der besonderen Art, einzigartig in Großbritannien. Erhalten, gepflegt und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht vom britischen National Trust, dokumentiert es die Geschichte der industriellen Baumwoll-Verarbeitung im Vereinigten Königreich und führt zurück in eine kurze Zeit, in der britischer Erfindergeist und britische Technologien weltweit konkurrenzlos waren. Für den Historiker Sven Beckert war Baumwolle das eigentliche Gold des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, und die beinahe absolute Kontrolle über den kompletten Baumwollkreislauf vom Anbau über die Verarbeitung bis hin zur Vermarktung das wahre Fundament, auf dem das gesamte britische Imperium beruhte.
Es waren zehn Nächte im Oktober 1977, die in die Geschichte der modernen Lyrik eingegangen sind. Zehn verregnete und kalte Nächte im fernen Teheran, damals Hauptstadt der korrupten Dynastie von Schah Reza Pahlavi. Zehn Nächte voller Poesie, Leidenschaft, Aufbegehren und wilder Hoffnung. Zehn Nächte, die einem modernen Woodstock der Literatur so nahe kamen wie wohl keine andere literarische Lesung vorher oder nachher. Zehn Nächte im Garten der deutsch-iranischen Gesellschaft, die zudem einen der ganz seltenen wirklich großartigen Glanzpunkte deutscher Auslands-Kulturpolitik gekrönt haben, seinerzeit in Deutschland kaum wahrgenommen worden waren und heute beinahe vergessen sind. Dabei waren sie eines der herausragenden Ereignisse auf dem langen Weg zu einer Revolution, die den Schah von Persien außer Landes und am Ende seinen ärgsten Widersacher, den islamischen Rechtsgelehrten Ruhollah Ayatollah Khomeini an die Macht spülen sollten.
Anthony Parsons, damals britischer Botschafter im Iran, schreibt in seinem Buch The Pride and the Fall :„Iranische Dichter lasen im westdeutschen Kulturzentrum aus ihren Werken. Sie nutzten die Gelegenheit, in ihren Gedichten machtvolle Kritik am Regime zu üben. Die Zuschauerzahlen waren gewaltig, rund 62.000 Menschen kamen insgesamt in diesen zehn Nächten, und sie nahmen die Kritik offen an.“
Für Parsons waren diese Lesungen ein Schlüsselereignis der langsam anrollenden iranischen Revolution, die zu diesem Zeitpunkt durchaus noch keine islamische war.
Iranische Dichter – verfolgt und gefoltert.
Hushang Golshiri
Einer, der im Zentrum des Sturms agierte, den iranische Dichter in diesen Nächten entfesselten, war Kurt Scharf, damals stellvertretender Leiter des Teheraner Goethe-Institut und maßgeblich an der Organisation der Lesungen beteiligt. Kurt Scharf, der sich seitdem auch als Übersetzer und Herausgeber moderner persischer Lyrik im deutschsprachigen Raum einen Namen gemacht hat, war 1973 nach Teheran versetzt worden und hatte schon zu einer Zeit Kontakte zu iranischen Schriftstellern aufgenommen, als diese vom Regime und dessen allgegenwärtiger brutaler Geheimpolizei SAVAK noch nach allen perfiden Regeln diktatorischer Kunst verfolgt worden waren.
Das Teheraner Goethe-Institut hatte bereits in den Sechzigern und frühen Siebzigern Lesungen mit iranischen Dichtern veranstaltet, diese Veranstaltungen aber eingestellt, als es für die teilnehmenden Dichter zu gefährlich geworden war, in aller Öffentlichkeit aus ihren oft verbotenen und unterdrückten Werken vorzulesen. So war zum Beispiel der Schriftsteller und Journalist Sirius Ali Nevaida in den frühen Siebzigern von SAVAK verhaftet, gefoltert und eingekerkert worden, nur weil er für die Zeitung Ayandegan einen Bericht über eine Nacht der Dichtung im Goethe-Institut geschrieben hatte.
Da schien der Schah noch ganz auf der Höhe seiner Macht, gestützt von den USA, Großbritannien, aber auch von der alten BRD, für die der Folterfreund im Iran der wichtigste Wirtschaftspartner im Mittleren Osten war.
Mitte der Siebziger jedoch war die Opposition gegen den Schah bereits so breit gefächert, dass dieser sich genötigt sah – auch auf Druck der Carter-Regierung -, eine vorsichtige Liberalisierung der Gesellschaft zu erlauben. Immerhin, diese Phase zögerlicher Liberalisierung sollte es überhaupt ermöglichen, dass der bis dahin im Untergrund agierende iranische Schriftstellerverband zusammen mit dem Goethe-Institut die Veranstaltung organisieren konnte, die dann unter dem Namen „Da schab dar Tehran“ (Zehn Nächte in Teheran) so eindrucksvoll die Macht des vorgelesenen Wortes in einem rauen politischen Klima demonstrieren sollte.
Ein neuer Stern am Himmel iranischer Poesie: Huschang Golschiri
Wie fragil die Situation iranischer Dichter trotz der leichten Liberalisierung 1976 immer noch war, beschreibt Kurt Scharf so:
„Alle Schriftsteller waren mit erheblichen Problemen konfrontiert, überhaupt zu veröffentlichen. Die Zahl der Veröffentlichungen war sehr gering. Einige arbeiteten in staatlichen Stellen, aber selbst die hatten Schwierigkeiten zu veröffentlichen. Andere schlugen sich als Journalisten durch, als Lehrer oder als Texter in den Reklameabteilungen staatlicher Behörden. Sie alle unterlagen strikter Zensur.“
Gerade weil das Goethe-Institut in den vorhergegangenen Jahren intensiv mit iranischen Dichtern zusammengearbeitet hatte, war es erste Partnerwahl für den 1967 gegründeten Schriftstellerverband gewesen. Zu den jungen Literaten, die 1976 auf Kurt Scharf zukamen, gehörte übrigens auch der spätere Erich-Maria Remarque-Preisträger (1999) Huschang Golschiri, der heute als einer der Väter der zeitgenössischen iranischen Literatur gilt.
Das Goethe-Institut war mehr als bereit, die Organisation der Veranstaltung zu übernehmen und seine örtliche Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Dass sich etwas Ungewöhnliches anbahnte, merkten Kurt Scharf und seine Kollegen allerdings schnell. Denn kaum begann die Kunde von der Lesung sich zu verbreiten, liefen auch schon die Telefone im Institut heiß.
Scharf erinnert sich:
„Wir wollten die Lesungen ursprünglich im Großen Garten des Instituts abhalten, der immerhin rund 2.000 Menschen Raum bot, aber dann kristallisierte sich heraus, dass der Platz nicht ausreichen könnte. Deshalb haben wir schließlich auf die Räumlichkeiten der Deutsch-Iranischen Gesellschaft zurückgegriffen.“
Aber selbst die waren nicht groß genug. Bereits am ersten Abend drängelten sich über zehntausend Besucher innerhalb des restlos überfüllten Areals und vor den Toren.
„Wir haben versucht die Tore zu schließen, aber das ging nicht mehr. Die Leute waren überall, sie kletterten auf Laternenpfähle, hockten in den Bäumen und saßen auf der Mauer, und es störte sie nicht im Geringsten, dass es regnete und dass es kalt war.“
Auch nicht, dass sie draußen wohl kaum ein Wort von dem verstanden, was drinnen gelesen wurde. Zumindest das ließ sich ändern. In der nächsten und den folgenden Nächten wurden zusätzliche Außenlautsprecher montiert. Die Behörden, wohl ebenso vom riesigen Zulauf überrascht wie die Organisatoren und die Dichter selbst, hielten sich zurück und unternahmen keine Anstalten, in den Ablauf oder die Organisation einzugreifen.
Zauberhafte Momente im Herbstregen
Die, die dabei waren, egal ob als Vortragende, Organisatoren oder schlichte Zuhörer, bekommen noch heute leuchtende Augen, wenn sie an die Teheraner Dichter-Nächte zurückdenken, an jene ganz seltenen, zauberhaften Momente im Herbstregen, in denen Poesie die ganze Macht entfaltete, die ihr innewohnen kann. Jene Macht, die sie seit jeher den Herrschenden in aller Welt suspekt erscheinen lässt, selbst wenn sie oft kaum zu erahnen ist.
Schah Mohammed Reza Pahlavi
Bei vielen von denen, die sich da zehn Nächte lang zu Zigtausenden versammelt hatten, hatte der Unmut mit der politischen und wirtschaftlichen Situation im Iran bereits den Siedepunkt erreicht. Sie hatten genug von dem korrupten Schah-Regime. Was sich in diesen zehn Nächten zusammenbraute, war eine von den Initialzündungen der islamischen Revolution. Die hatte ja ursprünglich nahezu alle Gesellschaftsgruppen umfasst. Die Revolutionäre waren Kommunisten ebenso wie Nationalisten, Bazaris ebenso wie liberale Intellektuelle oder das verarmte Proletariat der Städte. Und natürlich die schiitische Geistlichkeit, von allen mit Abstand am besten organisiert, die am Ende als eigentliche Sieger aus der Revolution hervorgehen sollte, bis Ende 1978 aber durchaus im Schulterschluss mit all den anderen Gruppierungen agierte.
In gewisser Weise war dieses Phänomen einer Dichterlesung als Massenereignis nur in einer islamisch geprägten Kultur möglich. Weil die darstellenden Künste und die Musik in islamischen Gesellschaften erheblichen Beschränkungen unterliegen, kommt der Literatur seit Jahrhunderten eine herausragende Bedeutung zu. Gerade die Lyrik war und ist oft auch die einzige Kunstform, die in ihren Mehrdeutigkeiten versteckte und kodierte Kritik transportieren konnte und kann.
Für die Mehrheit der iranischen Dichter waren diese zehn Nächte von Teheran nur ein kurzer Moment überschwänglich zelebrierter Freiheit. Die Liberalisierung, die der schwer bedrängte Schah eingeleitet hatte und die ihnen erstmals seit Mossadeghs Zeiten wieder eine Ahnung von Ausdrucks- und Meinungsfreiheit beschert hatte, endete kurz nach dem endgültigen Sieg der islamischen Revolution. Ruhollah Khomeini, Autor des theoretischen Fundaments „Velayat-e Faqih“ (Wächterschaft des Juristen), auf dem die islamische Republik Iran seitdem basiert und damit selbst ein Schriftsteller, der in seiner Jugend außerdem Verfasser von schwülstiger Liebeslyrik gewesen war, wusste sehr wohl um die Macht des Wortes und nahm den Literaten Irans – von den strikt islamischen Poeten abgesehen – bald alle Freiheiten, die sie für so kurze Zeit genossen hatten. Ab 1980, nur ein Jahr nach dem Sturz der Monarchie, wurden iranische Literaten wieder nach altbekannten Mustern verfolgt. Die Anschuldigungen mögen seitdem anders lauten und religiös verbrämt sein, die Methoden der Verfolgung und Unterdrückung jedoch sind die gleichen, die schon des Schahs Schergen angewendet hatten.
Die zehn Nächte von Teheran aber sind gerade deswegen längst zu einer kraftvollen Legende geworden.
Die teilnehmenden Dichter sind tot oder im Exil, einige auch einfach verstummt. Kurt Scharf hat den Iran 1979 verlassen und ist im Dienst des Goethe-Instituts bis zu seiner Pensionierung Ende 2006 noch ganz schön in der Welt herum gekommen. Er ist über all die Jahre der modernen iranischen Literatur treu geblieben. Zuletzt ist von ihm die ausgezeichnete Anthologie zeitgenössischer iranischer Poesie „Der Wind wird uns entführen“
veröffentlicht worden.
Am 5. April 1994 hielt sich laut offizieller Darstellung in seiner Garage der junge Kurt Cobain den Lauf einer Schusswaffe in den Mund und drückte ab. Eine Kugel später hatten die Neunziger ihr erstes totes Rock-Idol. Und die Rock’n’Roll-Big-Band irgendwo da oben über den Wolken konnte einen weiteren Ausnahmemusiker zur ewigen Allstar-Session in ihren Reihen begrüßen.
Der Tod Cobains kam kaum überraschend. In den Monaten, die ihm vorausgegangen waren, hatte er auf Beobachter und ihm Nahestehende immer unzufriedener, in sich zerrissener und unberechenbarer gewirkt. Er machte wieder und wieder deutlich, dass Nirvana nicht mehr sein Ding war, dass er sich musikalisch eingegrenzt sah und das Gefühl von Verlust jeglicher Authentizität verspürte. Er trug sich mit der Absicht, endgültig auszusteigen, die eigene Identität als Künstler wie als Mensch neu zu definieren. Hinzu kamen Probleme in der Ehe. Gerüchte, dass beide, sowohl Kurt als auch Courtney, an Scheidung dachten, bestätigte nach seinem Tod beider Anwältin Rosemary Carroll. Während der „In Utero“- Tour kapselte Cobain sich zunehmend auch von seinen Bandkollegen ab, übernachtete in anderen Hotels, konsumierte verstärkt und ziemlich wahllos Drogen. Das letzte Konzert spielte die Band dann am 1. März 1994 im Terminal 1 des alten Münchener Flughafens.
Am 4. März 1994 fand Ehefrau Courtney Love ihren Gemahl besinnungslos in seinem römischen Hotelzimmer. Neben ihm, von seinem Management Gold Mountain ebenso wie von Courtney Love lange dementiert, ein Abschiedsbrief. Selbst der Nirvana-Plattenfirma ‘Geffen’ wurde die Existenz des Schreibens verheimlicht, was später zu erheblichen Irritationen zwischen Company und Management führen sollte. „Die haben uns glatt belogen“, kommentierte ein empörter ‘Geffen’-Verantwortlicher. Als Kurt Cobain ins Krankenhaus eingeliefert wurde, lag er im Koma. Janet Billig, Sprecherin des Managements, beschrieb seinen Zustand als „sehr ernst„. Nur Tage später relativierte Gold Mountain-Boss John Silva allerdings: „Die Ärzte sagen, es sei alles in Ordnung mit ihm.“ Der Selbstmordversuch wurde nun als unabsichtliche Überdosierung beschrieben, als nicht sachgerechter Umgang mit Medikamenten, die Kurt Cobain eingenommen habe, um starke Magenschmerzen zu lindern. Hinzu sei reichlicher Champagnergenuß gekommen. Selbstmordversuch oder Unfall mag dahingestellt bleiben, klar war, dass Kurt Cobain sich in einer ernsthaften Krise als Person und Musiker
befand.
„Nevermind“
Nirvana haben Anfang der Neunziger die Welt der Rockmusik so nachhaltig verändert wie seit den Sex Pistols kaum eine andere Band.
Kurt Cobain
Und das mit einem einzigen Album und in kaum mehr als anderthalb Jahren. Anfangs waren Nirvana nur eine von vielen jungen Gruppen, die in den Clubs der nordwestamerikanischen Hafenstadt Seattle Abend für Abend ihr Programm runter spulten. Fernab von Los Angeles oder New York, den Glitzerstädten des Popgeschäftes, hatten diese jungen Bands eigene musikalische Wege beschritten. Die rohe Energie des Punk verbanden sie mit den schrill verzerrten und kreischenden Gitarrenorgien eines Jimi Hendrix, vermengten das Ganze mit Metal-Riffs und Folk-und Countryrockeinflüssen und prägten so einen Sound, der unter der Umschreibung Grunge bald weltberühmt werden sollte. Wie die meisten Seattle-Bands hatten auch Nirvana Anfang der Neunziger einen Plattenvertrag mit dem lokalen Underground-Label ‘SubPop’ unterzeichnet.
Nach dem grandiosen Debüt „Bleach“ wechselten sie zur Major-Company ‘Geffen’, veröffentlichten ihr zweites Album „Nevermind“ – und plötzlich sah die Welt ganz anders aus. Der Singlehit „Smells Like Teen Spirit“ schoss rund um den Globus in die Charts, der Musikkanal MTV nudelte das Video rund um die Uhr in die Kinderzimmer. Nirvana waren mit einem Mal in aller Munde. Mit ihrer schroffen, harten und manchmal fast schmerzhaft schrillen Musik, die so fernab von den gängigen Klischees leichtverdaulichen und hitparadentauglichen Mainstream-Rocks liegt, hatten Kurt Cobain, Krist Novoselic und Dave Grohl offensichtlich den Nerv einer ganzen Generation getroffen. Nach diesem Zustand befragt, äußert Cobain im Interview in VISIONS Nummer 7 (April 1992) sein Unwohlsein ob der plötzlichen Popularität und seinen unbedingten Wunsch, am liebsten einfach nur noch nach Hause zu wollen. Der kometenhafte Aufstieg vom Underground-Musiker zum Role-Model einer ganzen Generation lag ihm definitiv schwer im Magen, und das analog mit dem Beginn einer im Nachhinein sensationellen wie traurigen Erfolgsstory.
Ein Augusttag in Seattle
Leichter Dunst liegt über Seattle. Auf dem Wasser kreuzt ein einsames Ausflugsboot, an Bord eine Handvoll Touristen, die leicht gelangweilt herüber schauen. Dave Grohl erblickt das Boot, umklammert plötzlich zwei Stäbe der Gitterumrandung des Balkons, fällt auf die Knie, zwängt sein Gesicht dazwischen und simuliert einen Brechreiz. Er würgt trocken, Speichel trieft in langen Fäden aus seinem weit geöffneten Mund. Die Bootpassagiere werden auf die Szene aufmerksam, eine ältere Dame weist mit dem Finger auf das Geschehen. Prustend beginnt Dave zu lachen, richtet sich wieder auf und winkt den Ausflüglern mit wilden Handbewegungen zu. Kurt Cobain und Krist Novoselic verziehen derweil keine Miene. Clowneske Eskapaden ihres Teamgefährten sind sie längst gewöhnt.
Auf den ersten Blick kann man sich kaum ein gegensätzlicheres Gespann vorstellen als diese drei jungen Männer. Krist Novoselic, ein langer, schlaksiger Kerl, ganz in schwarz gekleidet, wirkt mit seinem akkurat geschnittenen kurzen Haar und dem säuberlich gestutzten kleinen Spitzbart wie die Verkörperung eines Bohemien der Fünfziger. Ganz anders Dave Grohl. Mit seiner langen Mähne und einem traditionellen Rock’n’Roll-Outfit geht er genau als der Rockmusiker durch, der er ist. Kurt Cobain wiederum erscheint mit seiner blonden Zottelfrisur und dem jungenhaften Viertagebärtchen wie die Inkarnation des zornigen Beatnik-Poeten.
Cobain wirkt hellwach und redet, einmal in Fahrt geraten, minutenlang ohne Atempause. Von Wut, Ärger, Depression, drogenumnebelter Verwirrtheit keine Spur. Da steht ein junger Mann, der genau zu wissen scheint, wer er ist, was er will und wie es weitergehen soll. Seine Ausstrahlung ist widersprüchlich. Bescheidenheit – fast Schüchternheit – paart sich mit spontaner Erregbarkeit; er ist freundlich, und doch schwingt in seiner Stimme kaum merklich ein aggressiver Unterton mit. Vor allem aber kommt er rüber wie jemand, der alles unter Kontrolle hat. Sein Verhältnis zur Presse ist immer noch äußerst gespannt in diesem August, mehrere Monate lang hat er sie völlig boykottiert und eine Reihe von Zeitungen und Zeitschriften, darunter Vanity Fair und Newsweek, mit Rechtsverfahren überzogen, hat Reporter und Redakteure verklagt und ein Vermögen in Anwälte und Prozesskosten investiert. Nur ein Interview hat er in den letzten Monaten gegeben: Kevin Allman, Mitarbeiter des Schwulenmagazins The Advocate, war der Auserwählte. In diesem Interview beklagte er sich bitterlich über die Hexenjagd, die die Boulevardpresse gegen ihn und Courtney Love los getreten habe, über die Schattenseiten des Rockstar-Lebens und über das gesellschaftliche Klima in den USA, das zunehmend von fundamentalistischen Dogmen geprägt und für Minderheiten immer rauer werde.
Nirvana – Promotion Foto
Dass das Rockstar-Leben Schattenseiten haben kann, ist für Cobain eine neue und verstörende Erfahrung. In all seinen Teenagerjahren hatte er den Status ‘Rockstar’ als den einzigen gesehen, der ihm selbst gerecht würde. Nun hat er, was er immer wollte, und natürlich ist mehr als nur ein Haken an der Geschichte. Plötzlich wird er als Sprachrohr einer ganzen Generation gesehen, man verlangt von ihm „Verantwortung für die Fans“, er fühlt sich in die Position eines Rollenmodells – das er nie hatte sein wollen – gezwängt. Das irritiert ihn nicht nur, es bestürzt ihn. Er fühlt sich überfordert, beginnt erstmalig, sich selbst und seine Rolle als Rockstar in Frage zu stellen. Die Größenordnung, die Nirvana mittlerweile auch live erreicht hatte, bereitete ihm Unbehagen:
„Ich liebe es zwar, auf der Bühne zu stehen, allerdings nur, wenn diese sich in kleinen Clubs befindet. Die riesigen Dimensionen der Arenen, in denen wir zur Zeit aufzutreten gezwungen sind, machen mir Angst. Zum einen ist die direkte Kommunikation mit dem Publikum nahezu unmöglich, zum anderen fühle ich mich auf den großen Bühnen buchstäblich verloren.“
Die Presse, in früheren Underground-Tagen ein wohlmeinender Freund, von ihm gern auch benutzt, wendet sich plötzlich gegen ihn, stiehlt ihm Privatleben und Persönlichkeit, baut einen Popanz auf, in dem der sensible Kurt Cobain sich nur noch als abstoßende Karikatur wiedererkennen kann.
Kurt: „Ich habe mittlerweile jedes Vertrauen in die Medien verloren. Seitdem ich aus eigener Erfahrung weiß, dass selbst angeblich seriöse Magazine wie Newsweek Geschichten einfach erfinden, sich nicht einmal die Mühe machen, ihre Behauptungen durch Recherche abzusichern, glaube ich nichts Geschriebenes mehr, nehme ich dem Fernsehen seine Bilder nicht mehr ab. Es scheint völlig egal zu sein, was ich Journalisten erzähle, denn am Ende schreiben sie doch nur, was sie gern gehört hätten.„
Diesen Glaubwürdigkeitsverlust, den er der Presse vorwirft, befürchtet er auch für sich selbst. Das Gefühl, sich mittlerweile meilenweit von seinen Fans entfernt zu haben, lässt ihn nicht mehr los.
„Wir wollen auf keinen Fall unsere alten Fans verlieren, jene Leute, die wir von den ersten Tagen an zu unserem Publikum zählten. Denn diese Fans, nennen wir sie ruhig Underground-Publikum, sprechen unsere Sprache, denken wie wir, teilen die gleichen Gefühle und Anschauungen. Sollten die sich von uns abwenden, wäre das ganz sicher ein Alarmsignal, ein Zeichen für uns, dass wir irgendwas sehr falsch machen. Für uns ist es sehr viel wichtiger, dass wir uns selbst treu bleiben, keine Zugeständnisse an die vorgeblichen Zwänge und Erfordernisse des Marktes, des Mainstreams oder derzeit aktueller Trends machen.“
Wie jeder Musiker, der Platten aufnimmt, wollte er natürlich, dass irgendwer sich diese auch anhört:
„Ich habe nichts dagegen, Platten zu verkaufen. Je mehr Leute meine Musik hören, desto besser. Es spricht auch nichts dagegen, die Vermarktungsmechanismen der Musikindustrie zu nutzen. Wenn allerdings der Punkt erreicht ist, an dem du diese Mechanismen nicht mehr nutzen und kontrollieren kannst, sondern im Gegenteil ihren Gesetzmäßigkeiten und Anforderungen unterworfen wirst, einfach nur deshalb, weil du plötzlich zu groß geworden bist, dann ist es höchste Zeit, den eigenen Standort zu überdenken und gegebenenfalls die Konsequenzen zu ziehen„, sagt er.
Krist Novoselic nickt dazu, Dave Grohl schaut desinteressiert zur Seite.
Maßanzug als Zwangsjacke
Das genau war Kurt Cobains Problem, war Nirvanas Problem. Nirvana war in den Augen der Öffentlichkeit über Nacht zu einem weltweiten Markenzeichen geworden, zu einem Produkt mit fest umrissenen Eigenschaften, quasi per Kaufvertrag garantiert. Die Erwartungen des Marktes, der Medien, der Industrie und letztlich auch der Fans waren genau definiert. Kurt hatte gefälligst ein Sprachrohr seiner Generation zu sein (ein Ansinnen, das er stets vehement ablehnte), er hatte gefälligst seinen Lebensstil seiner Rolle entsprechend auszurichten, er sollte rund um die Uhr verfügbar sein für die unersättliche Neugier der Medien wie ihrer Konsumenten – darunter natürlich auch die Fans. Nirvana steckte in einer Schlinge, die sich immer weiter zuzog. Ein Ausweg schien musikalische Verweigerung. „In Utero“ war jedoch unterm Strich ein nur halbherziger Versuch. Was auch daran liegt, dass der Songwriter Kurt Cobain ein durchaus geniales Talent für gute Pop-Tunes hatte, das selbst bei bewusst schräg angelegten Kompositionen kaum zu verbergen war. Kurt hatte freilich noch ein anderes Problem. Der Sound von Nirvana war ihm längst zu eng geworden. Als Musiker, der Leonard Cohen genauso liebte wie die Beatles, der sich nie von seinen Black Sabbath- oder Aerosmith-Platten getrennt hatte, profunde Kenntnisse in Folk, Jazz und Country besaß, wollte er sein musikalisches Wirkungsfeld auf Dauer weiter gestalten. Weiter, als Nirvana es erlaubt hätte. Auch das war wohl ein Grund für den häufiger geäußerten Wunsch, Nirvana hinter sich zu lassen.
Wie eine Erleichterung und kurzfristige Flucht muss ihm da seine Kooperation mit dem von ihm glühend bewunderten Schriftsteller und Poeten William S. Burroughs erschienen sein:
„Burroughs hat Passagen aus seinem Gedicht ‘The Priest They Called Him’ gelesen, ich habe dazu im Hintergrund Gitarre gespielt. Keine Ahnung, ob’s ihm gefallen hat. Ich kann jedoch auf jeden Fall sagen, dass ich kaum jemanden so sehr bewundere wie William S. Burroughs.“
Es hat Burroughs gefallen, Monate später hat er Cobain zu sich nach Hause eingeladen. Der Dichter starb im Jahr 1997.
Kurt Cobain war in den letzten Monaten vor seinem Tod ein Getriebener in einer Welt, in die er eher zufällig hinein gestolpert war, die aber nach anderen Regeln funktionierte als die ihm bis dahin vertrauten. Er suchte einen Ausweg, der es ihm erlaubte, seine Identität zu behalten und seine Integrität als Künstler. Ob dieser Ausweg allerdings wirklich Selbstmord hieß – diese Frage wird wohl niemand mehr beantworten können. Er hinterließ ein reiches musikalisches Vermächtnis, eine Tochter, die er zu Lebzeiten vergötterte, eine Frau, eine Band und Millionen Fans in aller Welt.
PS: Jener weiter oben erwähnte Sommertag im August 1993 endete übrigens für Kurt Cobain mit einem Aerosmith-Konzert. Als er nach dem Gig mit seinen früheren Idolen zusammentraf, war er für einen Moment wieder selbst ein schüchterner Fan.
Schroffe Töne zwischen Israel und Iran. Holocaust-Leugnung auf der einen Seite, die unverhüllte Drohung mit Luftschlägen auf der anderen. Mittendrin, meistens vergessen und nur selten erwähnt, etwa 25.000 Juden im Iran, seit Jahrtausenden im Lande ansässig, Iraner per Staatsangehörigkeit, Juden durch ihre Religion und daher eigentlich beiden Seiten suspekt. Da stellt sich die Frage: Wie leben sie eigentlich, die Juden im Iran?*
Gut, sagen die, die noch im Lande verweilen. Gut, sagt auch Siamak Morsadegh, Kopf des Jüdischen Komitees von Teheran und Abgeordneter in der Majles, dem iranischen Parlament. Morsadegh fühlt sich in erster Linie als iranischer Patriot jüdischen Glaubens. Das mache ihn jedoch nicht automatisch zum Zionisten und zu einem Befürworter israelischer Besatzungspolitik, betont er immer wieder. Um diesen Standpunkt ganz klar zu machen, protestiert er auch schon mal öffentlich vor der UNO-Vertretung in Teheran gegen die israelischen Angriffe auf Gaza.
Aber als Vertreter der jüdischen Minderheit im Parlament hat er eigentlich andere Sorgen. Er muss die Interessen der Juden vertreten in einer erklärt islamischen Republik, muss sich für sie einsetzen und vor allem auch darauf achten, dass die Gemeinde nicht zum Opfer aufgepeitschter antiisraelischer Emotionen werden, die in unverhohlenen Antisemitismus umschlagen. Beispiellos wäre das auch in der jüngeren iranischen Vergangenheit nicht. Die politische Großwetterlage macht den Job nicht gerade leichter, denn das Verhältnis zwischen Iran und Israel könnte wirklich schlechter kaum sein. Irans gerade abgewählter Präsident Ahmadinejad hätte den „Zionistenstaat“ am liebsten von der Landkarte getilgt, während sein israelischer Gegenpart Olmert demonstrativ Luftwaffenmanöver abhalten ließ, in denen der Angriff auf Iran und seine Nuklearanlagen geprobt wurden. Die Wahlen in Israel und der daraus resultierende Rutsch nach noch weiter Rechts lassen kaum auf Entspannung hoffen, auch wenn Irans neuer Präsident Rouhani merklich moderatere Töne anschlägt und ernsthaft um Entspannung des Verhältnisses mit dem Westen – und damit auch mit Israel – bemüht scheint.
Angesichts der düsteren Schlagzeilen überrascht es schon, dass die Islamische Republik Iran immer noch die Heimat für die größte jüdische Minderheit im gesamten Nahen und Mittleren Osten ist. Zwischen 25.000 und 35.000 Juden – die Schätzungen variieren je nach Quelle – leben heute noch im Iran, die überwiegende Mehrheit in Teheran. Aber was ist das für ein Leben? Ein Leben in Geiselhaft? Ein Leben in ständiger Lebensgefahr in einem Staat, in dem der Antisemitismus so virulent und potenziell mörderisch ist wie einst im Deutschland der Nazizeit, wie Victoria Golshani in der Harvard-Publikation „New Society“ behauptet? Der Blick auf den Alltag der Juden im Iran enthüllt ein wesentlich komplexeres Bild.
Ayatollah Khomeini
Wer sich heute in der Megapolis Teheran umschaut, wird nicht lange nach Spuren sehr lebendigen jüdischen Lebens suchen müssen. Das jüdische Hospital ist eins der besten in Teheran, und das nächste Kosher-Restaurant ist nirgendwo allzuweit weg. In der Stadt allein gibt es dreißig Synagogen, die Juden haben eigene Schulen und einen eigenen Abgeordneten im Parlament. Und sie reagieren manchmal gereizt auf Einmischung von außen. Im Juli 2007 machte ein Angebot Schlagzeilen, das die israelische Hebrew Immigrant Aid Society allen iranischen Juden unterbreitet hatte: Jeder jüdischen Familie wurden 5.000 Dollar im Gegenzug für die Auswanderung aus Iran versprochen. Für die Schlagzeilen vor allem in der englischen und amerikanischen Presse sorgte jedoch nicht so sehr das Angebot selbst, sondern vielmehr die empörte Reaktion der iranischen Juden. Der englische Guardian zitierte ein öffentliches Statement der „Society of Iranian Jews“: „Die Identität iranischer Juden kann nicht ge- oder verkauft werden. Iranische Juden leben seit Urzeiten in Iran. Sie lieben ihre iranische Identität und ihre Kultur; weder Drohungen noch dieser unreife politische Bestechungsversuch werden ihr Ziel erreichen, die Identität iranischer Juden auszulöschen.“
Das Stichwort hier ist Identität. Jüdische Gemeinschaften existieren im Iran seit dem 7. Jahrhundert vor Christus und bilden damit die älteste jüdische Diaspora-Gemeinde. Im Iran finden sich die meisten heiligen jüdischen Stätten außerhalb Israels, und der Einfluss, den die iranischen Juden in den vergangenen dreitausend Jahren auf die Entwicklung der iranischen Gesellschaft, ihrer Kultur und Poesie hatte, ist enorm. Bis zur Zerschlagung des Sassaniden-Reiches durch die Heere der muslimischen Araber im siebten nachchristlichen Jahrhundert waren die Juden nur eine von mehreren gleichberechtigten religiösen Gruppen im Iran gewesen. Verfolgungen wie offenkundige Benachteiligungen hatten sie, anders als die frühen Christen, kaum je erleiden müssen. Mit der Etablierung des Islam allerdings änderte sich ihr Status. Zwar genossen Juden wie Zarathustrier und Christen als Dhimmi (ahl al-dhimma – Menschen des Buches, Angehörige von monotheistischen Religionsgemeinschaften) den besonderen Schutz des Korans, waren aber den Muslimen rechtlich nicht gleichgestellt. Trotzdem kam es auch nach der Islamisierung Irans nur selten zu Übergriffen gegen die jüdischen Gemeinschaften. Das änderte sich erst, als die Safaviden den Zwölfer Schiismus zur Staatsreligion machten. Von da an berichten jüdische Chroniken immer häufiger von Mißhandlungen, Verfolgungen und gewaltsamen Bekehrungen zum Islam. Allerdings waren die Juden nicht die einzigen oder bevorzugten Opfer, sondern teilten ihr Schicksal mit Christen, Zarathustriern und anderen religiösen Minderheiten. Die wohl entscheidende Veränderung für den Umgang der islamischen Mehrheit mit ihren religiösen Minderheiten war die Anwendung des Konzeptes der ‚Unreinheit‘ (nejasat) auch auf die Angehörigen der vom Koran anerkannten monotheistischen Religionen. Anders als im Sunni Islam, lehrten die schiitischen Theologen, dass jeder Kontakt mit Ungläubigen unrein sei und deshalb nach Möglichkeit vermieden werden müsse.
Eine direkte Folge war die zunehmende Segregation der nicht-muslimischen Gemeinschaften von der muslimischen Mehrheit. Die Zahl der interkonfessionellen und interethnischen Heiraten, bis dahin durchaus alltäglich, ging dramatisch zurück. Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch erlitten die iranischen Juden so heftige und weitreichende Verfolgungen, dass Nahost-Historiker wie Eliz Sansarian zu dem Schluss kommen, dass die iranische Variante des Schiismus in sich selbst antisemitisch sei.
Dass sich viele Juden an der Konstitutionellen Revolution von 1905-1911 beteiligten, verwundert bei diesem Hintergrund kaum noch. Die neue Verfassung garantierte Juden, Christen und Zarathustriern das Recht auf jeweils einen eigenen Abgeordneten im neuen Parlament und erkannte sie – anders als Hindus, Buddhisten und Baha-i – als offiziell gleichberechtigte religiöse Minderheiten an. Ihr Vertreter im Parlament (Majles) war allerdings kein Jude, sondern ein islamischer Geistlicher.
Als sich 1948 der Staat Israel gründete, erlebte Iran eine Massenauswanderung seiner jüdischen Bürger. Rund ein Drittel aller iranischen Juden folgte zwischen 1948 und 1953 dem Ruf der zionistischen Staatsgründer, die überwiegende Mehrheit der ärmeren jüdischen Landbevölkerung. Die, die im Lande blieben, waren vor allem die urbanen Juden in Teheran, Isfahan und anderen großen Städten, die wohlhabende jüdische Mittel- und Oberschicht. Die, die blieben, erlebten die kommenden Jahrzehnte unter der säkularen Herrschaft von Shah Mohammed Reza Pahlavi als eine Zeit der kulturellen und wirtschaftlichen Blüte. Rund 80.000 lebten noch im Iran, als im Frühjahr 1979 die Revolution ausbrach. Die Revolution war getragen von einer breiten Koaliton aus Kommunisten, liberalen Intellektuellen, traditionellen Mittelschichten, Gewerkschaften, Künstlern und der schiitischen Geistlichkeit. Auch jüdische Künstler und Intellektuelle, angewidert von der brutalen Diktatur der Pahlavis, engagierten sich für die Revolution, zu deren charismatischem Führer sich mehr und mehr der exilierte Ayatollah Ruhollah Khomeini entwickelte.
Blick auf Teheran
Erst als die Revolution einen zunehmend islamischen Charakter annahm und als sowohl Revolutionsführer Khomeini selbst als auch andere führende Geistliche wiederholt antisemitische und antizionistische Reden schwangen, wuchs die Besorgnis unter den iranischen Juden.Mehrere Zehntausende verließen das Land. Entsprechend alarmiert reagierten die Führer der verbleibenden jüdischen Gemeinde auf die Entwicklungen. Sie suchten den unmittelbaren Kontakt mit dem greisen Ayatollah. Kaum kehrte der im Triumph aus dem Pariser Exil nach Teheran zurück, kam es zu einem Treffen zwischen ihm und Vertretern der jüdischen Gemeinde. In diesem Treffen garantierte Khomeini den Juden ihren Status als religiöse Gemeinschaft unter dem Schutz des Koran, die Gleichberechtigung mit den Muslimen und einen eigenen Vertreter im künftigen Parlament und erließ eine entsprechende Fatwa. Er selbst mäßigte seine antisemitische Rhetorik in der folgenden Zeit erheblich. Trotzdem kam es zum Ende der Revolution und in den Anfängen der islamischen Republik immer wieder zu vereinzelten lokalen Ausschreitungen gegen Juden und jüdische Einrichtungen. Antisemitische Einstellungen und Rhetorik fanden sich während der Revolution übrigens ebenso in den Äußerungen der Linken und der säkularen Nationalisten.
Der Konflikt der islamischen Republik mit dem Staate Israel machte die Lage der Juden im Lande prekär. Verdächtigungen, sie seien eine Fünfte Kolonne der Israelis waren an der Tagesordnung. Der jüdische Delegierte Daneshrad in der konstituierenden Versammlung sah sich immer wieder gezwungen, ausdrücklich die Loyalität der Juden mit Iran und mit der islamischen Republik zu betonen.
Die Lage der jüdischen Minderheit besserte sich während des Krieges mit Irak. Vor der Revolution war Iran einer der wichtigsten Märkte für israelische Rüstungsexporte gewesen. Die Israelis hatten ein starkes Interesse, diesen Markt auch nach der Revolution nicht aufzugeben, und so kam es schon Anfang 1980 in Paris zu einem Treffen zwischen einem Offiziellen des israelischen Verteidigungsministeriums, Mordechai Zipori, und Vertretern von Khomeini. Mit der Aufnahme von Geheimverhandlungen wollte die israelische Regierung auch zusätzliche Garantien für die Sicherheit der immer noch rund 50.000 iranischen Juden gewinnen. Das Treffen resultierte in einem Waffendeal, der Israel in den folgenden Jahren zu Irans mit Abstand wichtigstem Rüstungspartner machte. Das jährliche Waffenhandelsvolumen lag 1985 bei geschätzten 500 – 800 Millionen Dollar. Dass auch die amerikanische Reagan-Administration später in diesen Deal verwickelt wurde, machte erstmals im November 1986 das libanesische Magazin Ash-Shiraa publik. Präsident Reagan musste dann in einer Rede am 13. November 1986 die amerikanische Verwicklung, die als Iran-Contra-Deal in die Geschichte eingegangen ist, eingestehen.
Die Auswirkungen des Iran-Irak-Krieges auf die iranische Gesellschaft waren dramatisch und sind bis heute zu spüren. Die Strukturen der Gesellschaft, durch die Revolution bereits angegriffen, wurden durch den Krieg in ihren Grundzügen erschüttert. Eine der Folgen war die Herausbildung einer deutlichen und schroffen Polarisierung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, von der die jüdische Minderheit weit stärker betroffen war als die anderen religiösen und ethnischen Minderheiten – mit Ausnahme der Baha-i. Es erwies sich allerdings auch, dass der Rechtsschutz, den die Verfassung gewährte, in der Praxis tatsächlich funktionierte. Wiederholt kassierten iranische Gerichte gegen jüdische Einrichtungen gerichtete Maßnahmen örtlicher Behörden, und auch jüdische Proteste gegen antisemitische Berichterstattung in den Medien waren in der Regel erfolgreich.
Die Lage der jüdischen Gemeinschaft entspannte sich ab 1997 sichtlich mit dem Amtsantritt des gemäßigten Reformers Präsident Khatami. Von größter Bedeutung war vor allem die Aufhebung der meisten Reisebeschränkungen. Obwohl nach wie vor offiziell verboten, können iranische Juden seitdem ungehindert über Drittländer nach Israel reisen und in den Iran zurückkehren. Auch nach Israel ausgewanderte Juden können nun jederzeit den Iran und dort lebende Familienmitglieder besuchen.
Unter dem konservativen Präsidenten Ahmadinejad fanden sich die Juden in einer eigenartigen Situation wieder. In allen öffentlichen Verlautbarungen gab sich Ahmadinejad radikal antizionistisch und antiisraelisch, er stellte den Holocaust in Zweifel und suchte die offene Konfrontation mit beiden, Israel und dem Westen. Innenpolitisch war er bestrebt, viele der Reformen seines Vorgängers Khatami rückgängig zu machen, die Liberalisierung der Gesellschaft zu stoppen und seine eigene Machtposition auch gegenüber dem Obersten Führer Ayatollah Khameini auszubauen. Die Medien wurden wieder weit schärfer zensiert, die Durchsetzung islamischer Bekleidungsvorschriften, die Verfolgung von Künstlern, Journalisten und Liberalen war – und ist – so intensiv wie zuletzt in der Zeit direkt nach der Revolution. Propagandalügen wie die „Protokolle der Weisen von Zion“ wurden unter Ahmadinejad erneut zu Bestsellern und es wurden vereinzelte Fälle von antijüdischen Übergriffen bekannt, die allerdings auch von Polizei und Gerichten geahndet wurden. Trotzdem ist die Lage der Juden nach wie vor insgesamt sicher. Und sie haben durchaus eine Stimme in den innenpolitischen Auseinandersetzungen. Einer der schärfsten Kritiker von Präsident Ahmadinejad war der jüdische Parlamentsabgeordnete Maurice Motamed, Vorgänger des 2008 in die Majles gewählten Siamak Morsadegh. In einem offenen Brief an den Präsidenten, der im Iran erhebliches Aufsehen erregte, verurteilte er mit deutlichen Worten Ahmadinejads Äußerungen zum Holocaust. Und er wusste in dieser Frage nicht nur den obersten Führer Khameini hinter sich, der seinerseits erklärt hat, dass es am Holocaust und am grausamen Unrecht, dass die Europäer den Juden angetan haben, keinen Zweifel geben dürfe. Auch die Medien folgten Ahmadinejad in dieser Frage weit weniger bereitwillig, als ihm lieb gewesen sein dürfte. Einer der größten Hits in der iranischen Fernsehgeschichte ist ausgerechnet eine Serie, die den Holocaust thematisiert. „Null Grad Wende“, so der übersetzte Titel der Drama-Serie, erzählt die Geschichte eines iranischen Diplomaten im Paris unter deutscher Besatzung, der iranische Pässe an französische Juden ausgibt und ihnen so die Flucht aus Europa ermöglicht. Die Serie, im November 2007 erstmals vom Staatssender IRIB ausgestrahlt, thematisierte die Wirklichkeit der deutschen Todeslager in einer Deutlichkeit, die keinen Raum für Zweifel oder Interpretationen lässt. Entschiedener konnte Ahmadinejad im eigenen Land nicht widersprochen werden.
Der bemühte sich durchaus auch selbst um das Wohlwollen der jüdischen Iraner. Nicht nur versuchte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu verdeutlichen, dass er zwar Antizionist sei und ein Problem mit dem Staate Israel habe, aber eben kein Antisemit. Er schätze die jüdischen Bürger Irans, respektiere ihre Kultur und ihre Religion. Um den Worten Taten folgen zu lassen, spendete sein Büro seit seinem Amtsantritt regelmäßig für das jüdische Krankenhaus in Teheran, das nicht zuletzt auch dank der Zuwendungen aus dem Präsidentenamt eins der besten Krankenhäuser Irans ist.
Die Gegenwart der Juden im Iran während und nach Ahmadinejad ist so komplex wie das Land und seine Gesellschaft selbst. Ironischerweise ist seit der Revolution ausgerechnet der Islam ihr bester Schutz vor Willkür und Verfolgung. Weil der Islam die jüdische Religion als eine Religion des Buches anerkennt – und damit schützt – und weil Khomeini die Juden in einer Fatwa noch einmal ausdrücklich unter den Schutz des Islam und der Verfassung gestellt hat, konnte ihre Gemeinschaft nicht nur überleben, sondern sich auch weitgehend problemfrei in die nachrevolutionäre iranische Gesellschaft eingliedern. Die Juden im Iran haben ihre eigene politische Repräsentation und sind frei in der Ausübung ihrer Religion und Kultur. Aber sie sind auch unentrinnbar verwickelt in den Konflikt zwischen Israel und Iran. Die heimlichen und offen ausgesprochenen Zweifel an ihrer Loyalität machen sie zu Zielscheiben für Elemente in der konservativen Geistlichkeit ebenso wie für einige der konservativen Medien. Aus dieser Situation heraus wird die schroffe Reaktion auf das eingangs erwähnte „Geld für Auswanderung“-Angebot leichter verständlich.
Intern scheint sich die Lage der Juden mit der Wahl von Rouhani zum neuen Präsidenten wieder zu verbessern, Der mäßigt nicht nur die offizielle Rhetorik und sucht einen sachlicheren Umgangston, er hat auch pünktlich zum 4. September – das jüdische Neujahrsfest Rosh Hashanah – eine Grußbotschaft an alle iranischen Juden verschickt, Die Botschaft scheint eine erneute ausdrückliche Anerkennung der Juden als gleichberechtigte iranische Staatsbürger zu implizieren und damit ihren Status, der unter Ahmadinejad oftmals mehr als gefährdet schien, bekräftigt.
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