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Muhammad Shahrur – der Martin Luther des Islam?

Mohammed Shahruhr

Von Haus aus ist Muhammad Shahrur Ingenieur, ein Pragmatiker, der die Fragen des Lebens mit der Logik und Methodik des Mathematikers angeht. Die Fragen, mit denen der syrische Professor sich hauptsächlich beschäftigt, sind die von Religion, Kultur, Moral und Menschlichkeit. Die Religion ist der Islam, die Kultur im weiteren Sinne die islamische, im engeren die arabische des Nahen Ostens, die dem Islam zugrunde liegt. Seine Überlegungen schreibt er in Büchern auf, die von erheblicher Sprengkraft sind. Seine Bedeutung für die zeitgenössische islamische Welt wird inzwischen mit der von Martin Luther für das Christentum verglichen. In manchen arabischen Staaten sind diese Bücher schlicht verboten und werden nur unter der Ladentheke gehandelt. In anderen muslimischen Weltgegenden dagegen wie im  bevölkerungsreichsten muslimischen Land Indonesien werden sie längst vehement in den Universitäten gelehrt und diskutiert. Auch unter europäischen Muslimen gewinnt er zunehmend neue Anhänger. Und Feinde. Denn seine Positionen machen ihn vielerorts äußerst unbeliebt, vor allem in der traditionellen Geistlichkeit und, mehr noch, unter radikalen Islamisten.*

Im Gespräch ist der streitbare syrische Professor manchmal ein bisschen weitschweifig. Seine Antworten ufern aus zu langen Monologen, in deren Verlauf er mit sich selbst zu diskutieren scheint, einen Gedanken von mehreren Seiten beleuchtet und abwägt. Trotzdem, er verliert nie den Argumentationsfaden.

Zunächst einmal galt es“, sagt er, „zu realisieren, dass der Islam ein essentieller Bestandteil unserer Kultur ist. Um unsere Kultur nicht nur zu verstehen, sondern sie auch zu verändern, sie in die heutige Zeit zu transformieren, muss ich mich daher zunächst einmal mit dem Wesen des Islam auseinandersetzen. Was also ist Islam?

Shahrurs Antwort auf diese Frage ist ebenso simpel wie unerhört und unverdaulich für islamische Orthodoxie: „Der Koran“, sagt er, „wurde im siebten Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel verfasst. In diesem spezifischen Kontext sollte er daher auch verstanden werden. Da ist die allgemeine Auffassung, dass der Koran Gültigkeit besitzt für jede Generation bis zum Ende aller Tage. Davon bin ich ganz und gar nicht überzeugt. Weiterhin soll der Koran für alle Völker, für die gesamte Menschheit gültig sein. Das sehe ich ebenfalls nicht so.“

Das Heilige Buch ist nach Shahrur keine ewig währende, unumstößliche Wahrheit und göttliche Handlungsanweisung, sondern in seinem Hauptteil reines Menschenwerk. Und als solches voll von kulturellem, ideologischem und zivilisatorischem Ballast aus vierzehn Jahrhunderten. Diesen Ballast zu identifizieren, den göttlichen Kern der Religion freizulegen und ihn von menschlichem Beiswerk zu befreien, das ist Shahrurs Hauptanliegen.

In einer Zeit, in der sich extremistischer Islamismus auf ebenso gewalttätige wie marktschreierische Art als einzig wahre Stimme des Islam zu etablieren sucht, verkündet der Doktor aus Damaskus eine weit stillere Botschaft. Eine Botschaft allerdings, die das Potenzial hat, den Islam von Grund auf zu revolutionieren. Oder, wie der einflussreiche TV-Geistliche Yusuf Al- Qaradawi auf Al-Jazeera öffentlich bekundete: „Das ist eine neue Religion“. Neu ist aber nicht die Religion, neu ist Shahrurs Auffassung und Interpretation des Islam.

Sein Schlüsselerlebnis hatte er, als der Sechstage-Krieg der arabischen Staaten mit dem noch jungen Israel in einer vernichtenden Niederlage für die Araber endete.

Die Menschen in der arabischen Welt waren schockiert von der deutlichen Niederlage, und es gab die unterschiedlichsten Erklärungsversuche. Als ich das erste Freitagsgebet nach der Niederlage besuchte, verkündigte der Prediger, der Krieg sei verloren worden, weil unsere Frauen den Schleier abgelegt hätten. Er hatte anscheinend gar nicht mitbekommen, dass wir auch von jüdischen Mädchen in Shorts besiegt worden waren. Einige Tage später traf ich einen Kommunisten, und der erklärte mir, der Grund für unsere Niederlage sei das Fasten im Ramadan. Ich war nun wirklich perplex und sagte zu ihm: Du und der Prediger in der Moschee, ihr seid zwei Seiten derselben Medaille; der eine links, der andere rechts, das ist der einzige Unterschied. Das war der Moment, in dem ich realisierte, dass mit unserer ganzen Denkungsart etwas im Argen liegt, mit unserer Weltsicht und mit unserem Verständnis der Welt. Ich beschloss, dem auf den Grund zu gehen. Ein eminent wichtiger Bestandteil, eine der Wurzeln, unserer Kultur ist die Religion. Um unsere Kultur zu verstehen, musste ich also mit der Religion beginnen.“

Shahrurs grundsätzlicher methodologischer Ansatz ist der eines Wissenschaftlers, sein analytisches Instrumentarium das des Linguisten „Wenn Gott den Menschen eine Offenbarung gegeben hat,“ sagt er,  „dann muss diese Offenbarung so klar und präzise sein wie ein Naturgesetz und ebenso universell gültig.  Die Offenbarung vom Menschenwerk zu trennen war also meine erste Aufgabe. Dazu gehört auch die linguistische, kontextorientierte Analyse der Sprache des Koran.

Islam ist in Shahrurs Verständnis nicht allein die Religion der Anhänger Mohammeds, sondern jede monotheistische Religion, also ebenso Christentum und Judentum. Der Glaube an den einen Gott und, damit verbunden, an einen universalen Ethos, wie er sich im Kern in allen drei Religionen wiederfindet und wie er ebenfalls in den zehn Geboten der Bibel artikuliert ist, ist der eigentliche Islam. Diese grundsätzliche Ethik, argumentiert Shahruhr, sei in der menschlichen Auslegung des Koran verlorengegangen. Stattdessen sei die Religion monopolisiert worden von einer Klasse religiöser Exegeten, deren Autorität eben dem Dogma entlehnt ist, dass der Islam unveränderlich sei. Die Religion ist demnach durch die Jahrhunderte zum Herrschafts-Werkzeug verkommen, zum Deckmantel, der autokratischen und despotischen Regimen Legitimität verleiht.

In Anspielung auf die dänischen Karikaturen, die in der islamischen Welt für so viel Empörung  gesorgt haben, macht er seinen Standpunkt klar:

„Nehmen wir mal an, statt des dänischen Zeichners hätte ein ägyptischer Karikaturist einen Mohammed-Cartoon gezeichnet. Die Empörung wäre gewaltig gewesen, und der Druck der Straße hätte die ägyptische Regierung zweifellos dazu  gezwungen, den Zeichner zu verhaften und hinzurichten. Wenn aber dieselbe Regierung herginge  und mal eben an einem einzigen Tag in Kairo 10.000 Leute verhaftete, dann hätte das kaum irgendwelche Folgen für sie. Und schon gar keinen öffentlichen Aufschrei. Diese Erkenntnis ist sehr wichtig! In unserer Kultur schätzen wir den Wert von Freiheit nicht besonders. Ein Grund dafür ist, dass wir von frühester Kindheit an eingetrichtert bekommen, wir seien Gottes Sklaven. In meinem Buch schreibe ich, dass wir keine Sklaven Gottes sind. Wir können die Sklaven anderer Menschen sein, aber nicht die Gottes. Denn Gott hat uns als freie Wesen erschaffen. Wenn wir Gott anbeten, dann aus unserer eigenen freien Entscheidung heraus. Gott hält keine Sklaven und er will keine Sklaven.“

Mit seiner von Maximen der kritischen Vernunft geleiteten Auslegung des Koran, der Hadith sowie der islamischen Jurisprudenz legt sich der Doktor aus Damaskus nicht nur mit der orthodoxen islamischen Geistlichkeit und radikalen Islamisten an, sondern auch mit den meisten Machthabern in der islamischen Welt, von Saudi Arabien bis Pakistan.

Deren Problem ist, dass sich Shahrur weder einfach verbieten noch totschweigen lässt. Zwar gibt es vereinzelte Todesdrohungen gegen ihn, aber sie sind eher die Ausnahme. Was seinen religiösen Gegnern das Leben schwer macht, ist, dass Shahrur von innerhalb des Islam argumentiert; seine intime Detailkenntnis des Koran, der islamischen Jurisprudenz und der in den Hadith gesammelten Überlieferungen  machen es für sie unmöglich, ihn als Scharlatan oder irregeleiteten Abweichler abzutun. Sie müssen sich mit seiner Argumentation ernsthaft auseinandersetzen. Und sie tun es. In den letzten Jahren ist eine Anzahl langer und ausführlicher Erwiderungen zu seinen Thesen veröffentlicht worden, und deren Zahl nimmt weiter zu. Zu nimmt aber ebenfalls die Zahl der Übersetzungen von Shahrurs Werk in andere Sprachen, die seine Thesen nun auch Muslims in Ländern wie der Türkei, Indonesien oder in den Staaten Europas zugänglich machen und damit die Debatte in der gesamten islamischen Welt forcieren. Eine Debatte, in der es um nichts weniger als die Seele – und damit die Zukunft – des Islam geht. Eine Debatte, deren Ausgang auch für die nicht-islamische Welt von entscheidender Bedeutung sein wird.

Wir brauchen“, sagt Shahrur zum Abschied noch, „dringend eine Reformation wie sie das Christentum erlebt hat. Eine Rückbesinnung auf den göttlichen Kern der Religion und eine Neuinterpretation des Koran, die unserer Zeit gerecht wird. Schließlich ist die Gabe der Vernunft das größte Geschenk, das Gott den Menschen gegeben hat. Also müssen wir auch von ihr Gebrauch machen.“

Edgar Klüsener

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Reportagen Zeitgeschichten

Verwunschene Wasserwelten – unterwegs mit dem Kanalboot

Langsam… du bist zu schnell!

Nicht so schnell, runter vom Gas!!!“ Irritiert schaue ich auf den Käptn. Ich bin gerade von zwei gemächlich ausschreitenden Spaziergängern auf dem Pfad neben dem Kanal überholt worden. Trotzdem werde ich nun des Rasens bezichtigt. “Jau”, sagt der Käptn. “Du bist zu schnell. Wenn du an ankernden Kanalbooten vorbeifährst, musst du schön langsam bleiben. Sonst schlägst du zu hohe Wellen und die Leute in den Booten werden durchgeschaukelt und verschütten ihren Tee. Also runter mit dem Tempo!”? Gehorsam drossele ich die Geschwindigkeit weiter. Vom Motor ist jetzt kaum noch was zu hören, beinahe lautlos gleitet unser Boot an der friedlich am Uferrand ankernden „Ellie“ vorbei. So langsam, dass ich mir ziemlich sicher bin, dass niemand an Bord der Ellie auch nur einen Tropfen Tee verschütten wird. Dafür ist mein Puls jedoch erheblich beschleunigt. Die Wasserstraße ist eng, sehr eng. Zwischen unserem Boot, der Ellie und dem gegenüberliegenden Ufer passt auf beiden Seiten kaum mehr als ein Paar Stiefel. Die Gefahr, die Ellie versehentlich zu schrammen ist durchaus real. Dann dürften wohl mehr als nur ein paar Tropfen Tee verschüttet werden. „Du machst das gut.“ sagt der Käptn, „sieh nur zu, dass du das Boot gerade hältst.“

Das Boot ist gute 20 Meter lang, ich stehe am hinteren Ende, und der Bug scheint meilenweit entfernt. Was da vor der Bootsspitze im Wasser treiben könnte, kann ich weder sehen noch erahnen, höchstens befürchten. Ich klammere mich ans Ruder, bemüht, es so ruhig wie möglich zu halten. Aus dem Inneren des Bootes klingt Musik, Stimmengewirr, das Klirren von Gläsern und Besteck. Keine Frage, meine Mitpassagiere genießen die Reise. Dass die mitten durch die urbanen Vororte von Greater Manchester geht, kann man an Bord nur ahnen. Dicht bepflanzte Böschungen schirmen den Kanal auf beiden Seiten ab, vom Boot aus sieht man selten mehr als viel lauschiges Grün, pittoreske Brücken aus dem ausgehenden Neunzehnten Jahrhundert und andere Kanalboote, die entweder gemächlich einem unbekannten Ziel entgegen tuckern oder am Ufer angeleint sind. Zu meiner grenzenlosen Erleichterung gab es seit Beginn der Bootsfahrt kaum nennenswerten Gegenverkehr, die Herausforderungen an meine begrenzten Steuermanns-Fähigkeiten blieben daher wohltuend begrenzt. Das soll sich jedoch schnell ändern. Ausgerechnet in einer Kurve kommt mir die Sunderland entgegen.

Das Boot ist lang, der Gegenverkehr macht mulmig

Okay, jetzt nur keine Panik”, sagt der Käptn und wirkt plötzlich hellwach. “Das kriegen wir schon hin. Geh mal noch ein bisschen mehr vom Gas runter.” Er steht jetzt direkt neben mir, bereit, mir jederzeit das Ruder aus der Hand zu nehmen, falls erforderlich. Aber noch darf ich. Vom Heck sieht es beinahe so aus, als würde irgendwo ganz weit da vorne der Bug des Bootes sich langsam, aber unaufhörlich in die Seite der Sunderland rammen. Tatsächlich aber trennen die beiden Boote noch gut fünfzehn Zentimeter schmutzig-graues Wasser voneinander. “Du machst das gut, Junge”, sagt der Käptn aufmunternd. Seine Körpersprache allerdings drückt eher alarmierte Besorgnis aus. Irgendwie komme ich am Ende doch berührungsfrei an der Sunderland vorbei. “Das war die Härteprüfung”, sagt der Käptn. „Jetzt können wir dich auf die Kanäle loslassen.“

Diese Kanäle, die meisten während der Industriellen Revolution als schnelle und verlässliche Transportrouten für den Produktionsausstoß der Textilfabriken im Nordwesten Englands gebuddelt, durchziehen England kreuz und quer. Nennenswerter Fracht- und Güterverkehr findet nur noch auf den wenigsten statt. Mit dem Niedergang der einstigen Zentren britischer Textil- und Schwerindustrie sind auch die plumpen Lastkähne von den meisten Wasserwegen verschwunden. Ihren Platz nimmt nun eine ganz eigene Zivilisation der Frei- und Vollzeit-Wassernomaden ein. Das Leben auf dem Wasser ist nicht billig. Ein Boot wie das Narrow-Boat, das ich gerade mit schweißnassen Händen um die Kurve manövriert habe, kann voll ausgestattet gut und gerne 27.000 Euros kosten. Für den Preis gibt es allerdings auch allerhand Komfort. Bordtoilette und gut ausgestattete Küche sind ebenso im Preis inbegriffen wie separate Schlaf- und Wohnbereiche. Hinzu kommen Kosten für regelmäßige Wartung und Instandhaltung, Gas und Elektrizität. Rund 15.000 Briten haben mittlerweile das Reihenhaus oder die Mietwohnung gegen ein Kanalboot eingetauscht schätzt die britische Tageszeitung The Independent. Doch nicht nur sie haben die vielfältigen Reize der künstlichen Wasserwelten entdeckt. Die Ruhe und Gemächlichkeit, die die Kanäle mitten in urbanen Ballungsräumen bieten, zieht immer mehr Städter für kurze Ausflüge mit Freunden und Familien in gemietete Narrow-Boats. Sie suchen die Andeutung von Naturnähe und die verträumten Morgenstimmungen, wenn Dunstschleier die Grenzen zwischen Land und Wasser verschwinden lassen und eine Atmosphäre märchenhafter Unwirklichkeit schaffen, Oder sie feiern Parties auf den Booten, auch das ein Trend, der vor allem im traditionell partywütigen Manchester, wo mitten im Herzen der Stadt ein zentraler Kanal-Knotenpunkt eine ganz eigene urbane Wasserwelt zum Vergnügungszentrum geworden ist, den Wasserwegen neues Leben schenkt.

Mystische Kanalatmosphäre

Rund um die Kanäle hat sich in den letzten Jahren eine florierende Touristikbranche entwickelt. Die Angebotspalette reicht von kurzen Kanaltrips für Familien und kleine Gruppen, die in der Regel nicht länger als drei oder vier Stunden dauern und bei denen die Bordverpflegung im Preis inbegriffen ist, über Tagesausflüge bis hin zu „Ferien auf dem Wasser“- Angeboten, in denen ein Boot für Tage oder Wochen gemietet werden kann. Wer letzteres bucht, muss allerdings durch eine Schulung, bevor dann eigenhändig das Boot in den Sonnenuntergang gesteuert werden kann. Der Schnellkurs macht künftige Freizeit- und Ferienkapitäne mit den Regeln der Wasserwege vertraut, mit der Handhabung des Bootes und mit den Ankerbestimmungen. Vor allem aber wird die Bedienung der unzähligen Schleusen trainiert, die das gemächliche Hingleiten immer wieder mal unterbrechen. Die stellen die größte Herausforderung für Freizeitkapitäne dar. Immer wieder mal schafft es einer, und nicht immer ist es ein unerfahrener, sein Boot in einer Schleusenkammer zu versenken. In der Regel kommen Bootsführer und Passagiere in solchen Situation mit dem Schrecken und einem gehörigen Sachschaden davon. Sehr gelegentlich allerdings gibt’s auch Schwerverletzte oder gar Tote. Kein Wunder, dass Bootsvermieter bei der Schulung nicht mit sich spaßen lassen und auch schon mal Kunden ablehnen, die während der Schulung keine gute Figur gemacht haben.

Mein Käptn scheint ganz zufrieden mit mir zu sein. Über Meilen geht’s jetzt einfach nur geradeaus, und so lässt er mich zum ersten Mal allein am Steuer um sich in der Kombüse mit Kaffee zu versorgen. Eine Viertelstunde später steht er wieder neben mir, erzählt von seiner Liebe für die Kanäle, von der Faszination des Lebens auf dem Wasser, der er voll und ganz erlegen ist. Und auch von den waghalsigen Touren, die Narrowboat-Kapitäne immer wieder mal unternehmen. Er kenne einige, erzählt er, die in ihren Kanalbooten den großen Kanal, den zwischen England und dem Kontinent, überquert haben und seitdem die Flüsse und Kanäle Europas entlang schippern. Er sagt das mit einem abwesenden, gedankenverlorenen Blick. Will er auch? „Vielleicht“, sagt er, „vielleicht fahre ich einfach eines Tages mal los und halte einfach nicht mehr an.“

Für mich und meine Freunde endet der Trip wenig später. Es war sicherlich nicht mein letzter!

Edgar Klüsener

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Musik Reportagen Zeitgeschichten

Woodstock 1969 – Ein Traum von einer Revolution

Ten Years After vierzig Jahre später: Leo Lyons

Am Anfang war das Chaos: Hunderttausende junger Amerikaner eingepfercht auf schlammigen Kuhwiesen, heftige Regengüsse und Gewitter, katastrophale sanitäre Zustände und mangelhafte medizinische Versorgung. Alle Zufahrtsstraßen heillos verstopft, Nachschub an Nahrungsmitteln und Getränken kam nicht durch. Am Ende musste das Militär Nahrung, elementare Hilfsmittel und medizinisches Personal einfliegen. Das Festival glich einem Katastrophengebiet. Doch statt zum durchaus möglichen Desaster wurde Woodstock 1969 zur Legende, zum langlebigen Mythos einer globalen Jugendkultur.*

Für Leo Lyons war 1969 Woodstock zunächst einmal nur ein Festival unter vielen. Mit seiner Band Ten Years After tourte er in diesem Jahr kreuz und quer durch die USA. Auf dem Texas Pop- Festival hatten sie schon gespielt, dann auf dem Newport Jazz-Festival in St. Louis, zusammen mit Jazzern wie Dizzy Gillespie. Für den darauf folgenden Tag stand schließlich Woodstock auf dem Programm. Für die Briten nur ein Ortsname unter vielen, lediglich eine weitere Station auf ihrem endlosen Zug durch die Weiten Amerikas.?? „Wir wussten nur, dass Woodstock irgendwo in New York lag und dass wir am nächsten Morgen früh raus mussten, um den Flieger zu erwischen“??, erinnert sich Leo. „??Wir waren erst am zweiten Tag dran, als in Woodstock schon längst das Chaos tobte. Von dem wussten wir allerdings nichts. Erst unser Manager sagte uns schließlich auf dem Weg vom Flughafen nach Woodstock, was dort los war.??“

‚Los‘ waren weit über eine Million Menschen, die sich aus allen Teilen der USA auf den Weg nach Woodstock gemacht hatten. ‚Los‘ waren 400.000 Kids, die tatsächlich bis zum Festivalgelände durchgekommen waren. Das waren immer noch 350.000 mehr als die etwa 50.000, mit denen die Veranstalter ursprünglich gerechnet hatten. ‚Los‘ waren außerdem niedergerissene Zäune und die vom Massenandrang erzwungene Umwandlung des Festivals in ein kostenloses Konzert, die den Veranstaltern zunächst einmal Millionenverluste einbrachte.

Überhaupt, die Veranstalter: Da waren zum Einen die Jung-Investoren John Roberts und Joel Rosenman, beide aus vermögendem Haus und eher an der Wall Street zuhause denn in den Hippiekommunen der späten Sechziger, und zum anderen ein Duo örtlicher Musiker und Musikunternehmer, Artie Lang und Martie Kornfield. Letztere verstanden wenigstens von der technischen Seite der Konzertorganisation etwas und hatten einige der besten Bühnen- und Technikcrews verpflichtet, die in den USA zu der Zeit zu haben waren. Aber keiner der Vier hatte eine wirkliche Vorstellung von der Logistik, die eine Veranstaltung dieser Größenordnung erforderte.

Das Chaos war schon beinahe perfekt, bevor auch nur der erste Musiker auf die Bühne trat. Und trotzdem wurde Woodstock zum Mythos der Hippiebewegung, zum Jubelfest der amerikanischen Antikriegsbewegung, zur Wiege des Traums von einer globalen Hippie-Jugendkultur neuen Typs. Gründe dafür gab’s verschiedene. Einer war sicherlich das Aufgebot von namhaften Bands und Musikern, von denen etliche damals bereits zu den ganz großen Namen zählten oder doch zumindest vor dem Durchbruch standen. Unter ihnen Arlo Guthrie, Sohn der Folklegende Woodie Guthrie, Joan Baez und Santana. Andere waren Bands wie The Who, The Grateful Dead, Crosby, Stills, Nash & Young oder die britischen Underground-Rocker Ten Years After.

Woodstock 1969 – Ein Traum von Love and Peace

Ein anderer Grund war, dass das Festival trotz des allgegenwärtigen Chaos friedlich blieb. Es kam weder zu Gewalt noch zu Massenpaniken, stattdessen herrschte ein Geist der Kooperation, des „Jede hilft Jedem“. Und die Menge hatte trotz allem, trotz sintflutartiger Regenschauer, trotz Gewitter, trotz Chaos und trotz fehlender sanitärer Einrichtungen ihren Spaß. Woodstock war der Höhepunkt des Summers Of Love, ein Hippietraum von Love and Peace, der für einige Tage Wirklichkeit werden sollte. Außerdem war Woodstock eine politische Demonstration. Bei aller Naivität, die vor allem in der historischen Rückschau so verblüffend scheint, hatte die Hippiebewegung und ihre radikaleren Ausformungen wie Yippies und andere linke Gruppierungen durchaus eine politische Agenda. Sie war Part des breiten Widerstands gegen den Vietnamkrieg und Teil der Bürgerrechtsbewegung, beeinflusst vom LSD-Propheten Timothy Leary ebenso wie von Black Panther-Führer Eldridge Cleaver und den radikalen Aktivisten um Jerry Rubin und Abbie Hoffman, die in einem Chicagoer Gerichtssal den Begriff von der Woodstock Nation prägten. Die Politisierung der amerikanischen Jugend war umfassend und erstaunte Europäer, die in diesem Jahr in die USA reisten.

Leo Lyons verblüffte die starke Politisierung seines amerikanischen Publikums:

„Die britische Definition von ‚Underground‘ war in jenen Jahren primär eine musikalische. Kleidung und Aussehen hatten nicht diese politische Signifikanz wie in Amerika. Als wir unsere erste Amerika-Tour spielten, waren wir überrascht, wie sehr unser Aussehen und unsere Musik uns in den Augen des Publikums und der Presse automatisch in eine ganz bestimmte politisch-weltanschauliche Ecke stellten. Überraschend war auch, wie schnell Gespräche mit Fans und Presseleuten ins Politische wechselten, Themen wie die Bürgerrechtsbewegung und den Vietnamkrieg berührten.“

Der Höhepunkt des Festivals war der Moment, in dem Jimi Hendrix die amerikanische Nationalhymne systematisch in einer Orgie von Rückkopplungen und Verzerrungen zerstörte, stellvertretend für alles, was hässlich war an diesem Amerika der Sechziger. Es war zugleich ein ambivalenter Moment, denn der ehemalige, nach dreizehn Monaten allerdings vorzeitig entlassene, GI Jimi Hendrix war durchaus ein Patriot und alles andere als ein überzeugter Anti-Militarist.

Trotz allem, Woodstock wäre wohl nur ein Festival von vielen geblieben, wenngleich ein spektakulär schlecht organisiertes und ein Millionenverlust für die Veranstalter, hätte es da nicht noch diesen Film gegeben. Erst der dreieinhalbstündige Film, der ein gutes Jahr nach dem Festival in die Kinos kam, begründete wirklich und nachhaltig den weltweiten Mythos Woodstock.

Da hatte die Wirklichkeit den Mythos allerdings bereits überholt. Die Hippiebewegung war in unzählige Sub-Subkulturen zersplittert, einige waren in den Terrorismus abgewandert, und exzessiver Drogenkonsum dezimierte in den folgenden Jahren die Schar der Rockmusiker dieser Generation erheblich. Festivals verschanzten sich hinter Stacheldraht wie in Fehmarn oder uferten in Gewalt aus wie in Altamont. Und als dann noch das Publikum begann, Festivalbühnen abzufackeln, wie 1977 in Scheeßel, war der Mythos auch hierzulande endgültig am Ende.

Edgar Klüsener

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