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Barrieren überwinden: The Scorpions in Leningrad 1988

In den späten Achtzigern fegte ein Sturm durch Europa, der alte Gewissheiten über den Haufen warf und Systeme zerbröckeln ließ. Der Eiserne Vorhang, seit Ende des Zweiten Weltkriegs die beinahe unüberwindliche Barriere im Herzen Europas, rostete rapide und die Löcher in ihm wurden immer größer, bis er schließlich mit dem Berliner Mauerfall endgültig in Fetzen riss. Eine willkommene Folge war die Öffnung des bis dahin beinahe hermetisch abgeschlossenen Osten Europas für westliche Popkultur – und damit für deutsche Bands. Eine Reihe von Zeitgeschichten schildern Aufbrüche in Ost und West, erste zaghafte Reisen westlicher Musiker hinter den Eisernen Vorhang, Andeutungen künftiger Umwälzungen und Revolution, das Keimen von Hoffnungen,, die am Ende auf den Schlachtfeldern der Ukraine einmal mehr – Geschichte wiederholt sich doch, wenn auch in immer etwas anderen Szenarien – im Blut ertrinken. Insgesamt fünf Zeitgeschichten reflektieren eine sehr kurze Periode von gerade einmal fünf Jahren. Den Anfang macht diese hier, die  Schilderung des ersten Besuchs der Scorpions in der Sowjetunion im April 1988. Im September 1988 fuhr ich dann mit den Toten Hosen nach Litauen, wo eine erstarkende Unabhängigkeitsbewegung immer öffentlicher wurde. Im tiefen Winter 1988 traf ich in Moskau Stas Namin, Bon Jovi und andere Akteure, die ein sowjetisches Woodstock auf die Beine stellen wollten. Das fand dann im August 1989 statt, und ist das Thema einer weiteren Zeitgeschichte. Die letzte Zeitgeschichte in dieser Reihe beschreibt die Reise von Kreator in den frühen Neunzigern in ein Moskau, das sich bereits rapide verändert hatte. Die Sowjetunion gab es nicht mehr, Grenzen wurden überall neu gezogen, und Russland verstand sich zunehmend als Verlierer der friedlichen Revolution, die Europas Angesicht von Grund auf verändert hatte. In Moskau wie im Rest Russlands wurden die nationalistischen Töne immer lauter und ein düsterer Revanchismus wurde zur Ideologie zumindest in rechten Kreisen. Mit dieser Zeitgeschichte endet dann der Russland-Zyklus. 

In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts war Westeuropa zusammengewachsen und die Grenzanlagen wurden immer durchlässiger. Man besuchte sich zwanglos, lebte im einen Land und arbeitete im anderen – eine neue, europäische Realität formte sich, die von den Bürgern auch als solche erlebt wurde. Die Spaltung des Kontinents, und damit die Spaltung Deutschlands, in Ost und West allerdings bestanden fort. Die tiefgreifenden Veränderungen und Revolutionen der späten Siebziger und frühen Achtziger fanden im Westen zunächst im Stillen statt und wurden vor allem von neuen Technologien angetrieben. Die Achtziger waren das Jahrzehnt, in dem eine technologische Revolution anfangs kaum merklich Fahrt aufnahm, die am Ende die Musikindustrie in ihren Grundfesten erschüttern sollte. Erschüttert und über den Haufen geworfen wurde auch ein für alle Mal die Art und Weise, in der Musik gehört, erlebt, empfunden und konsumiert wird.

Revolutionen sind weder gut noch böse. Wie auch immer sie enden, ob mit einer Republik, mit einer Demokratie, einem sozialistischen Staat, einer totalitären Diktatur oder einer islamischen Republik – ihr eigentliches Wesen ist die radikale Veränderung, nicht die neue Ordnung danach. Politische Revolutionen müssen nicht unbedingt von unten kommen, begonnen und ausgefochten von Kräften, die in Opposition zur existierenden Ordnung stehen und diese verändern wollen. Revolutionen können auch von oben initiiert werden. Manchmal reicht dazu ein einfacher Verwaltungsakt, die Anweisung, ein Element des Status Quo zu modifizieren. Die Folgen dieses Verwaltungsaktes scheinen absehbar und wohl kalkulierbar. Doch kein Verwaltungsakt kann für sich allein stehen, jeder bewirkt eine Veränderung am Gesamtgefüge, die zwangsläufig weitere Veränderungen nach sich zieht. Und plötzlich kommt eine Lawine ins Rollen, die der ursprüngliche Verwaltungsakt sicherlich nicht auslösen sollte, die aber unaufhaltsam die alte Ordnung zerstört.

Michail Sergejewitsch Gorbatschow wurde im März 1985 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gewählt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Land bereits in einer tiefen ökonomischen Krise. Der 1979 begonnene Krieg in Afghanistan hatte sich zum sowjetischen Vietnam entwickelt, ein Konflikt, der enorme Massen an Kapital und Material verschlang und viele junge Sowjetsoldaten das Leben kostete. Dieser Krieg, das war sowjetischen Militärs und einigen hellsichtigen Mitgliedern des Politbüros bereits 1985 klar, konnte mit konventionellen Mitteln nicht gewonnen werden. Wenn er überhaupt gewonnen werden konnte. Ein Blick in die Geschichte des späten 19. Jahrhunderts hätte den Sowjets eine Warnung sein sollen, als sie sich am 25. Dezember 1979 dazu entschieden, militärisch in den afghanischen Bürgerkrieg einzugreifen. Denn bereits im ersten Anglo-Afghanischen Krieg vom Juli 1839 bis Oktober 1842 hatte das britische Empire eine empfindliche Niederlage gegen afghanische Stammeskrieger einstecken müssen und über 20.000 Mann verloren.

Die Belastungen durch den Krieg, ein erstarrtes und unflexibles Wirtschaftssystem, das nach den planerischen Prinzipien der US-amerikanischen Ingenieure Taylor und Ford organisiert war, veraltete Industrien und ineffiziente Verwaltungsstrukturen hatten die UdSSR in eine politische und ökonomische Krise schlittern lassen, die durch die Kosten des Rüstungswettlaufs mit dem Westen noch dramatisch verschärft wurde.

Gorbatschow wollte sich diesen Problemen mit einem reformerischen politischen und ökonomischen Ansatz stellen. Die Leitlinien, verkündet direkt nach seinem Amtsantritt im April 1985, hießen Umbau des Systems (Perestroika) und Transparenz (Glasnost). Umbau allerdings nicht als Revolution, sondern als Reform, als kontrollierte Veränderung, initiiert durch Verwaltungsvorschriften und gezielte Eingriffe in die Mechanismen von Institutionen. Glasnost bedeutete vor allem, dass Missstände offen kritisiert werden sollten; in der Tradition von Kritik und Selbstkritik sollte die Benennung von Fehlern zu deren Behebung führen. Die Verwaltungsvorschriften waren erlassen, der Plan wurde in die Tat umgesetzt. Welche weitreichenden Folgen vor allem Glasnost haben sollte, war im April 1985 unmöglich vorhersehbar.

Dass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurden (zuvor traten Uriah Heep 1987 zehnmal in Moskau auf).

Scorpions, Crew und Journalisten vor der Konzerthalle (und der Autor im Vordergrund)

Leise dümpelte der Panzerkreuzer Aurora vor sich hin, mit dem Ufer der Newa fest verbunden durch einen stählernen Laufsteg. Aus seinen Kanonen hatten meuternde russische Matrosen in der Nacht vom 25. Oktober 1917 mit Platzpatronen das Signal zum Sturm auf den Winterpalast des Zaren gegeben, der Startschuss für die Russische Revolution, die das Ende des Zarenreiches einläutete und mit der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken enden sollte. Die UdSSR schien an jenem kalten Apriltag 1988 noch unerschütterlich, an dem sich eine Gruppe junger Männer mit langen Haaren, gekleidet in nietenbeschlagene Lederjacken und hautenge schwarze Lederhosen, an den Füßen silberbeschlagene Cowboystiefel, die Augen verborgen hinter dunklen Sonnenbrillen, vor dem Laufsteg drängelte und Einlass suchte in das zum Revolutionsmuseum umfunktionierte Kanonenboot. Westliche Dekadenz in Reinkultur, so mag diese Gruppe ungläubig schauenden Leningradern erschienen sein. In ihrem Gefolge fand sich ein Tross von Fotografen, Journalisten, Freunden und Betreuern, alle vom Erscheinungsbild her unverkennbar westlich und in deutscher und englischer Sprache wild durcheinander palavernd.

In einigen Metern Entfernung von der auffälligen Reisegruppe lungerten einige russische Teenager herum, die sie aufmerksam beäugten. Einer hielt das sowjetische Äquivalent eines Ghettoblasters im Arm. Er lächelte zu den Westbesuchern hinüber und drückte auf den Startknopf des Kassettenspielers. Aus den Lautsprechern dröhnte leicht verzerrt einer der damals größten Hits der Scorpions, die Ballade „Still Loving You“. Die Jugendlichen winkten schüchtern zu der Gruppe an der Aurora hinüber, in denen sie zu Recht die Scorpions erkannt hatten. Dass sie auch auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs schon bekannte Größen waren, hatten die Musiker in den Tagen seit ihrer Anreise zu ihrer eigenen Überraschung lernen können. Der Eiserne Vorhang schien zwar politisch noch unüberwindlich, war aber nicht so hermetisch von westlicher Popkultur abgeschirmt, wie es von außerhalb erscheinen mochte.

Klaus Meine kommentierte damals mit Blick auf die Gruppe von Teenagern: „Das begann schon am Moskauer Flughafen. Obwohl wir dort nur zwischengelandet waren und die Aufenthaltszeit bis zum Weiterflug nach Leningrad (das heutige St. Petersburg) nur kurz bemessen war, tauchte dort eine Menge Jugendlicher mit tragbaren Kassetten-Rekordern auf, die sie uns entgegenhielten und aus deren Lautsprechern unsere Songs schepperten.

Insgesamt zehn Konzerte sollten die Scorpions in diesem kalten April in der Zarenstadt am Finnischen Meerbusen spielen. An allen Tagen war die Leningrader Sporthalle, ein imposanter Rundbau, der der Dortmunder Westfalenhalle 1 ähnelte, aber noch etwas größer war als das westfälische Juwel, restlos gefüllt. Der Ausflug in die Sowjetunion ergab wirtschaftlich wenig Sinn und war eher Ausdruck einer Lebensphilosophie, die dem Handeln der Band seit frühen Tagen zugrunde lag. Rudolf Schenker beschrieb diese damals so: „Wir wollen Neuland erkunden, want to break barriers (wollen Schranken niederreißen).

Diese Neugier auf die Welt war es, die die Band von Anfang an vorwärts trieb. Eine Neugier, die sie empfänglich machte für andere Kulturen und Lebens- und Denkweisen und die zudem die Sinne für Entwicklungen schärfte, die unter scheinbar ruhigen Oberflächen stattfanden. Was sie in Leningrad vorfanden, war eine Sowjetunion, in der ein erbitterter interner Konflikt zDass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurdenwischen Reformern und Konservativen tobte. Auf der einen Seite fand sich der Zirkel um Gorbatschow, auf der anderen deren reaktionäre Gegenspieler um Jegor Kusmitsch Ligatschow, den Gorbatschow selbst ins Politbüro der KPdSU geholt hatte und der lange Zeit als der zweite Mann nach dem Generalsekretär galt. Dass sich ein Umbruch anbahnte in der Sowjetunion – und damit in ganz Osteuropa – erkannte Klaus Meine bereits in Leningrad: „Wir spielen hier als erste westdeutsche Rockband. Wir zahlen alles aus eigener Tasche, eine Investition, die sich aber trotzdem lohnt. Wir brechen das Eis und öffnen hoffentlich Türen für andere deutsche und westliche Bands.“ Er zögerte einen Moment und fügte dann hinzu: „Solange sich die politische Lage nicht wieder verschlechtert.“ Die angesprochene Verschlechterung lag 1988 durchaus noch im Bereich des Möglichen, die Machtkämpfe innerhalb der KPdSU hatten auch direkten Einfluss auf die Konzertplanung der Scorpions gehabt.

Ursprünglich hatte die Band zunächst fünf Konzerte in Moskau und dann fünf weitere in Leningrad spielen sollen, doch dann machten die Moskauer Behörden wegen der bevorstehenden Maifeierlichkeiten Sicherheitsbedenken geltend und sagten die Termine in der Hauptstadt kurzerhand ab. Für Klaus Meine damals zwar ärgerlich, aber:

„Hier in Leningrad ist alles so interessant und beeindruckend, dass es uns am Ende doch weniger ausmacht als gedacht. Im Gegenteil, wir kommen kaum dazu, all die Eindrücke zu verarbeiten, die in diesen Tagen auf uns einstürzen und die uns regelrecht überwältigen.“

Zu diesen Eindrücken gehörten auch die Gruppen von Fans, die sich vor dem Hotel Pulkowskaja, damals die erste Adresse in der Stadt an der Newa und mit westlichem Komfort ausgestattet, drängten. Viele waren eigens für das Konzert aus anderen Teilen der UdSSR angereist, einer hatte Eis, Schnee und bitterer Kälte getrotzt, um aus dem fernen Sibirien per Anhalter nach Leningrad zu gelangen, um seine Lieblingsgruppe einmal live erleben zu können. Als die Scorpions von seiner Geschichte erfuhren, luden sie ihn zu einem Treffen ein und arrangierten für ihn außerdem freien Eintritt für die Konzerte.

In diesen zehn Tagen verschanzten sich die Musiker nicht in der Enklave mit westlichen Annehmlichkeiten, die das Pulkowskaja bot, sondern drängten hinaus in die Stadt, um sie zu sehen, riechen, fühlen und erleben. In einer Nacht landeten sie in einem der halblegalen, stickigen und verrauchten Untergrund-Clubs Leningrads, wo eine örtliche Rockband aufspielte. KDass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurdenDass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurdenurzentschlossen sprangen sie auf die Bühne und das zunächst verdutzte, dann begeisterte Publikum erlebte eine ausgedehnte Jamsession mit Musikern beider Bands. Später erinnerte sich Gitarrist Matthias Jabs mit Schaudern an das Equipment der Russen: „Die Verstärker lieferten eine Art Apfelsinenkisten-Sound, die Gitarren waren ‚Marke Eigenbau‘ und der Club war kaum mehr als ein mittelprächtiger Übungsraum. Der Sound war schrecklich, aber es hat dennoch mächtig Spaß gemacht. Bei der Gelegenheit ist mir erstmals so richtig klar geworden, unter welch miserablen Bedingungen russische Musiker arbeiten müssen.

Rockmusik, das machte nicht nur dieser nächtliche Ausflug in den subkulturellen Untergrund Leningrads klar, hatte sich in der Sowjetunion längst etabliert. Singles und Langspielplatten wurden seit Jahren aus dem Westen kontinuierlich ins Land geschmuggelt oder ganz einfach dreist und ohne Rücksicht auf irgendwelche westlichen Copyrights von der staatlichen Plattenfirma Melodija kopiert und in beachtlichen Stückzahlen an die sowjetische Jugend verkauft. Rockmusik kam auch über den Äther: Amerikanische Propagandasender wie Radio Free Europe/Radio Liberty oder Voice of America strahlten sie gezielt in den damaligen Ostblock aus. Rockbands gab es in jeder größeren Stadt und sie hatten durchaus ihr Publikum. Einige wie die Schwermetaller Kruiz oder Shah machten Ende der Achtziger des vergangenen Jahrhunderts bereits im Westen von sich reden.

Als Vorband hatte das staatliche Veranstaltungs- und Konzertbüro Goskonzert die Moskauer Band Gorki Park engagiert, eine melodiöse Hardrockband, die sich nicht nur musikalisch, sondern auch modisch stark an amerikanische Vorbilder anlehnte. Gorki Park symbolisierten in mancher Hinsicht den Wandel, der sich innerhalb der Sowjetunion vollzog. In den Straßen der kalifornischen Hair Metal-Metropolen oder Londons wären die Musiker mit ihren Ledermonturen, den hautengen Röhrenjeans und den langen Haaren kaum aufgefallen, in der sowjetischen Metropole am Finnischen Meerbusen sah die Sache 1988 noch etwas anders aus.

Gorki Park-Gitarrist Alexey Belov hatte sich bereits einen Namen erspielt, lange bevor Michail Gorbatschow die Wende einleitete. Mit diversen Formationen hatte er Platten veröffentlicht, von denen in der UdSSR mehrere Millionen Exemplare verkauft worden waren. An den Umsätzen, die die staatliche Plattenfirma Melodija mit diesen Alben erzielte, waren die Musiker allerdings nicht beteiligt, wie Belov in Leningrad leicht angesäuert beklagte: „Bezahlt wurden wir einmalig pro aufgenommene Minute Musik. Wenn also die Gesamtzeit einer LP hundert Minuten betrug, dann erhielt ich – vorausgesetzt, die Gitarre war die ganzen hundert Minuten lang zu hören – exakt hundert Rubel. Das war‘s, keine Kopeke mehr oder weniger, ganz egal, wie viele Platten anschließend verkauft wurden. Deswegen habe ich mir, sobald sich das politische Klima zu verändern begann, Musiker gesucht, um eine Band nach westlichem Muster zu formen, mit der ich professionell arbeiten kann.

Die Musiker fand er schnell in der Moskauer Szene. Wichtiger noch, er fand mit Stas Namin einen Manager, der nicht nur selbst Musiker war, sondern zudem West-Erfahrung hatte und der eine entscheidende Rolle bei der Organisation des Moscow Music Peace-Festivals ein Jahr später spielen sollte.

Stas Namin war einer der wenigen ganz großen sowjetischen Popstars der frühen Achtziger, deren Platten auch außerhalb des Ostblocks erfolgreich waren und es in amerikanische und australische Hitparaden schafften. Als Gorbatschow damit begann, seine Ideen von Glasnost und Perestroika in die Praxis umzusetzen, erkannte Stas Namin schnell, welche Möglichkeiten ihm die Liberalisierung des sowjetischen Kulturbetriebs eröffneten. Als erster Sowjetbürger gründete er eine private Management- und Produktionsfirma, die auf westliches Know-How zurückgreifen konnte. In seinem Moskauer Gorki Park-Musikcenter stellte er Übungsräume bereit und baute ein semiprofessionelles Tonstudio auf. Dazu kamen eine professionelle Managementfirma, eine eigene Tontechnik, ein Restaurant und eine Freiluftarena im Gorki Park, direkt am Ufer der Moskva. Stas Namin hatte Gorki Park auch die Konzerte im Vorprogramm der Scorpions vermittelt und war mit der Band an die Newa gereist. Für die Scorpions sollte sich dieser erste Kontakt mit Stas Namin noch als sehr wichtig erweisen.

Ohne die bemerkenswerte Fähigkeit der Scorpions, schnell Freundschaften zu schließen und nützliche Kontakte zu pflegen, wären diese Konzerte in der UdSSR im Frühjahr 1988 kaum möglich gewesen, was auch Klaus Meine betont: „In die UdSSR sind wir über den Umweg Ungarn gekommen. Dort hatten wir mit dem Konzertveranstalter Laszlo Hegedus zusammengearbeitet, der wiederum hatte Beziehungen in die Sowjetunion, die er für uns hat spielen lassen.“

In Leningrad spielten die Scorpions vor einem bunt gemischten Publikum, in dem sich Heavy Metal- und Rockfans ebenso fanden wie biedere Familien, die der Hauch des Exotischen angelockt hatte, und viele Soldaten und Milizionäre in Uniform. So gemischt das Publikum auch war, die Resonanz war überwältigend und festigte den Status der Band in der Sowjetunion.

Für die Scorpions war der erste Abstecher in die Sowjetunion keine Konzertreise wie alle anderen. Noch trennte der rostende Eiserne Vorhang zwei grundverschiedene Welten voneinander. Doch 1988 wurden die ersten Risse und Rostlöcher schnell größer und die Grenzen damit zunehmend durchlässiger. „In Leningrad haben wir uns zum ersten Mal als deutsche Band gefühlt“, reflektiert Klaus Meine. „Bis dahin waren wir vor allem eine internationale Band, die zufällig aus Deutschland kam. Aber Leningrad ließ sich nicht mit London, Rio oder Los Angeles vergleichen. In Leningrad, wie überall in Osteuropa, hatten Deutsche nur wenige Jahrzehnte zuvor fürchterlich gewütet. Und da kamen wir nun als deren Kinder in diese Stadt und wurden gastfreundlich aufgenommen. Uns blieb nur, Demut zu zeigen. Für großspuriges Auftreten oder Rockstar-Gehabe war da schlicht kein Platz. Unsere Väter kamen mit Panzern, wir kamen mit Gitarren.“

C 1988/2020/2021 Edgar Klüsener,

Veröffentlicht unter anderen in Metal Hammer Germany, UK, Spain, Greece, France, Spain and Hungary. Auszüge außerdem im Buch ‚Wind of Change‘ (Hannibal 1993)

 

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Aktuell Musik Nachrichten Rezensionen

Der Wind der Veränderung bläst immer weiter

Am 27. November veröffentlichen die Scorpions eine Sonderausgabe von „Wind Of Change“. Der Song hat mittlerweile 30 Jahre auf dem Buckel und ist spätestens seit dem Mauerfall zur Hymne der friedlichen Revolution geworden, die in den Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts Europa von Grund auf umgekrempelt hat. Die Box enthält eine CD, eine Vinylversion, die Partitur und, das eigentliche Schmuckstück, ein hochwertig aufgemachtes 84-seitiges Buch mit festem Einband. Das Buch, geschrieben von MuzikQuest-Chef Edgar Klüsener und illustriert mit exklusiven Fotos aus dem Archiv von Didi Zill und Klaus Meine, erzählt weit mehr als ‚nur‘ die Geschichte des Songs. Es nimmt den Leser mit auf eine Reise durch das Europa der Nachkriegsjahrzehnte, dessen zwei Hälften, gespalten durch den beinahe undurchdringlichen Eisernen Vorhang, sich in scheinbar unversöhnlicher Systemfeindschaft bis an die Zähne bewaffnet gegenüberstanden. Die Geschichte des Songs wird so auch zur Geschichte des Kontinents, erzählt vom Wind der Veränderung, der sich vom lauen Lüftchen zum Orkan steigerte und am Ende die bestehende Ordnung hinweg blies. Wie der Song erzählt auch das Buch von der Hoffnung, die Europa Ende der Achtziger und in den frühen Neunzigern erfüllte. Doch auch seitdem bläst der Wind der Veränderung ständig weiter, hat die Hoffnungen verweht, neue geschürt und stürmt nun durch eine Welt, die sich weiter radikal verändert. Tatsächlich, so das Fazit des Buches, ist ‚Wind Of Change‘ daher immer noch so aktuell wie in jenem Sommer des Jahres 1989, in dem Klaus Meine den Text zu dem Lied aufschrieb.

Die Scorpions, auch das macht das Buch klar, waren damals wie kaum eine andere Rockband dazu prädestiniert, einen Song wie ‚Wind of Change‘ glaubhaft zu schreiben. Ihre Karriere begann, als die Erinnerung an deutsche Massenmorde und Kriegsverbrechen in Europa noch ebenso taufrisch waren wie das Entsetzen vor dem kaltblütigen Blutdurst der selbsternannten Herrenmenschen. Wer damals als Deutscher Grenzen überqueren wollte, egal ob nach Holland, Frankreich oder Polen, musste das in Demut tun. Die Scorpions verstanden das wohl. Sie repräsentierten ein neues Deutschland, das die Schuld der Väter nicht verneinte und sich um Verständigung bemühte. Das wurde gerade auch in der Sowjetunion angenommen, dem Land das neben Polen mit Abstand am schrecklichsten unter den Naziverbrechen gelitten hatte.

Das Buch zeigt die Zusammenhänge auf und so wird es nachvollziehbar, warum ‚ausgerechnet‘ eine deutsche Hardrockband die Hymne der friedlichen Revolution geschrieben hat, die am Ende auch zum Fall jener Mauer führte, die Deutschland geteilt hatte.

Für die exzellente englische Übersetzung zeichnet Stefan Glietsch verantwortlich.

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Aktuell Iran Meinung Mittlerer Osten Nachrichten Tagebuch

Es gab schon bessere Zeiten

Jonathan Golds Tagebuch, 11. Mai 2018

Jetzt also Iran. Der größte Trump-Tropf aller Zeiten knüpft sich die kleine Mittelmacht Iran vor, bricht existierende Verträge und droht dem Land offen mit Krieg. So ganz nebenbei lässt er Europa ziemlich alt und verloren aussehen. Deutschland, Frankreich und Großbritannien werden zu Randfiguren degradiert, die auf der Weltbühne gefälligst das Maul zu halten haben. Der neuernannte US-Botschafter in Berlin steht für den Umgang mit den europäischen Zwergen in der Ära Trump: Kasernenhofton ist die Musik der Stunde. Wenn Deutschland, Frankreich oder sonstwer in Europa in Zukunft überhaupt noch eine Chance auf ‚Mitreden‘ haben wollen, so viel ist nun klar geworden, dann geht das nur noch in einem EU-Verbund, der wesentlich geschlossener und entschiedener als bisher agiert und in dem die Mitgliedsstaaten die  nationalen Eitelkeiten an der Garderobe abgeben. Dazu gehört auch, dass nicht mehr grundsätzlich alle Schuld für nationales Politker-Versagen der EU-Bürokratie in die Schuhe geschoben wird. Doch zurück zu Trump und Iran. Wenn der POTUS überhaupt noch trumpfen will, dann braucht er den Krieg, und zwar dringend. Herr Sonderermittler Müller zieht die Schlinge um seinen Hals nämlich immer weiter zu, und Frau Stormy bringt ihn noch zusätzlich in die Bredouille. Je klarer wird, dass die Verbindungen zwischen Moskau und Trump wesentlich intimer waren als er jemals zugeben wird, desto schwieriger wird der Kampf ums politische Überleben. Nur ein Krieg kann jetzt noch den faltigen Hals retten, am Besten einer, der das Volk dazu bringt, sich hinter den POTUS zu scharen und alle anderen Stimmen zumindest vorübergehend zum Schweigen verdonnert.

Donald Trump (photo: Gage Skidmore)

Mit Iran haben die USA sowieso noch die eine oder andere Rechnung offen. Obwohl, eigentlich wird eher umgekehrt ein Schuh draus. Iran nämlich hat den Westen per se und die USA im Besonderen bisher hauptsächlich als Übeltäter erlebt. Beispiele gefällig? Vergessen wir mal die Tabak-Konzessionen, die den deutsch-britischen Baron Reuter stinkreich und den Aufstieg des Reuterschen Nachrichtenbüros zum globalen Marktführer überhaupt erst möglich gemacht haben. Vergessen wir auch , dass die Briten die gesamte erste Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts ein Monopol auf persisches Erdöl hatten und nicht im Traum daran dachten, das Land und seine Bevölkerung in irgendwelchem nennenswerten Umfang daran zu beteiligen. Vergessen wir ebenfalls, dass Briten und Russen das Land im Zweiten Weltkrieg genau zur Hälfte zwischen sich aufteilten, obwohl Iran überhaupt kein Kriegsteilnehmer war. Was wir aber nicht vergessen sollten, und hier nehmen die Konflikte der Gegenwart ihren eigentlichen Anfang, dass die USA (und mit ihnen die Briten) 1953 in einem von der CIA initiierten Putsch die demokratisch gewählte Regierung Irans stürzten und das Terrorregime des Schahs installierten. Der Schah regierte danach mit grausamer  Härte, gestützt auf seine allgegenwärtige und wegen ihrer brutalen Foltermethoden gefürchtete Geheimpolizei SAVAK. Aufgebaut und trainiert wurde SAVAK übrigens auch von Spezialisten des israelischen Mossad (Kaveh Moraj, S. 75-76). Letzteres erklärt zu einem kleinen Teil die tiefe Antipathie der Islamischen Republik Iran gegen den einstigen engen Verbündeten Israel.

Kein Wunder, dass die USA und der Westen im Iran nicht gerade als Freunde angesehen wurden. Das letzte bisschen Vertrauen in der iranischen Bevölkerung verloren die USA, als sie nach der islamischen Revolution von 1978/79 den irakischen Diktator Saddam Hussein darin bestärkten, einen Angriffskrieg gegen Iran zu führen, der als einer der blutigsten und langwierigsten Konflikte seit dem Zweiten Weltkrieg in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Das Ziel war klar: Mit Hilfe Saddams sollte die Revolution rückgängig und Iran in den ‚Schoß des Westens‘ zurückgebracht werden. Zugleich wollten sich die USA so für die völkerrechtswidrige Geiselnahme amerikanischen Botschaftspersonal durch revolutionäre Studenten in Teheran rächen. Der Krieg kostete weit über 1 Million Menschen, darunter 300.000 Iraner, das Leben, gewinnen konnte Irak ihn trotz massiver Unterstützung durch die USA  nicht.

Seitdem herrscht offene Feindschaft zwischen den beiden Ländern, die auf iranischer Seite von abgrundtiefem Misstrauen gegen die USA geprägt ist. Dieses Misstrauen ist es auch, dass die konservativen Mullahs trotz ihrer repressiv-autoritären Herrschaft an der Macht hält. Trumps jüngste Attacke spielt ihnen daher sehr in die Hände und hilft ihnen, jegliche progressive Opposition im Lande im Zaum zu halten.

Was uns zum Atomkonflikt bringt. Iran hat 1970 den Nuclear Non-Proliferation Treaty unterzeichnet. Mit der Unterzeichnung verpflichtete sich das Land, auf die Entwicklung eigener Atomwaffen zu verzichten. Der Vertrag erlaubt aber auch ausdrücklich den Aufbau einer eigenen Atomindustrie und die Anreicherung von Plutonium zu zivilen Zwecken (Energieerzeugung). Die Islamische Republik hat als Rechtsnachfolger des Kaiserreichs die Verpflichtungen aus dem Vertrag übernommen und sich nach Anschauung der Internationalen Atomenergie-Kommission auch daran gehalten.

Das stört und kümmert allerdings weder Trump noch seine engsten Verbündeten in der Region, Saudi Arabien und Israel. Stattdessen wird Iran zum Pariah-Staat deklariert, der Al- Qaida und ISIS unterstützt. Letzeres eine der aberwitzigsten Behauptungen überhaupt. Beide Terrororganisation wurden und (werden noch) von Saudi Arabien, dem Erzfeind Irans in der Region, unterstützt. Beide sind Sunni-Organisationen, die die Schiiten, und damit auch den schiitischen Iran, als Todfeinde betrachten und sie gnadenlos bekämpfen. Im Irak, auch das sollte Trump bekannt sein, hat der Iran die USA sogar massiv bei der Bekämpfung von Al-Qaida unterstützt.

Aber darum geht’s auch gar nicht. Sowenig, wie es um das iranische Atomprogramm geht. Es geht um alte Rechnungen, die zwischen Iran und den USA offen sind. Es geht um die Vorherrschaft in der Golfregion, in der ein starkes Iran den USA Konkurrenz machen könnte. Und es geht, am Ende, um die Wiederherstellung der globalen amerikanischen Monopol-Machtstellung. Und dazu gehört auch die Ausschaltung Europas als potenzieller Machtfaktor und die direkte Konfrontation mit China und Russland. Klar ist aber vor allem: Trump spielt mit dem Feuer. Am Ende könnte es uns alle verbrennen.

Titelphoto: Google Maps

 

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Meinung Nachrichten

The 3 Million – EU-Bürger machen mobil in Brexitland

Grob geschätzt drei Millionen EU-Bürger leben derzeit im Vereinigten Königreich, drei Millionen, die seit dem Brexit-Referendum ihre Gegenwart, und noch viel mehr ihre Zukunft im Inselreich gefährdet sehen. Unter diesen finden sich nach einer Erhebung des britischen Office for National Statistics aus dem Jahr 2013 rund 135,000 Deutsche. Auch ich bin einer von diesen. Meine Frau dagegen ist Britin, die Kinder ebenfalls.

Egal ob Deutsche, Italiener, Holländer oder Rumänen in Britannien, wir sind alle Bürger der Europäischen Union, mit klar umrissenen Rechten und Pflichten, bisher in nahezu allen Belangen den Briten gleich gestellt. Lediglich von den Wahlen zum britischen Parlament sind wir ausgeschlossen. Ausgeschlossen waren wir außerdem von der Teilnahme an eben jenem Referendum am 23. Juni 2016, dessen Ausgang nun maßgeblichen Einfluss auf unser künftiges Schicksal im Vereinigten Königreich, auf die Zukunftsplanung von Einzelnen und von ganzen Familien hat. Einige mussten zu ihrem Entsetzen feststellen, dass selbst enge britische Freunde gegen einen Verbleib des Landes in der EU und gegen weitere Einwanderung von EU-Bürgern gestimmt hatten. „Ich habe ja nichts gegen dich persönlich, aber es gibt einfach zu viele von euch“, ist die höfliche Version von „Verzieh dich endlich!“

Europaflagge

Geschockt sind auch viele Briten, und nicht nur die 48 %, die für einen Verbleib des Landes in der EU gestimmt hatten, denn ihnen dämmert so langsam, dass mit dem Brexit der Verlust aller europäischen Bürgerrechte einhergeht. „European Citizenship“, bisher kaum mehr als ein vager Begriff für viele, wird plötzlich zu einem wertvollen Gut. Die Realisierung, dass mit dem Brexit die Reisefreiheit eingeschränkt wird, die Freiheit in anderen EU-Ländern zu leben und zu arbeiten, Familien zu gründen oder als Studenten den einheimischen Studierenden gleichgestellt zu sein, bereitet inzwischen selbst manchen von jenen Bauchschmerzen, die eigentlich für den Ausstieg aus der EU gestimmt haben. So überrascht es nicht, dass ein Run auf zweite Staatsbürgerschaften eingesetzt hat, der mit jedem Tag an Intensität gewinnt. Vor allem irische Pässe sind gefragt, aber auch zyprische, französische, polnische oder deutsche. Besonders pikant: die deutsche Botschaft in London registriert seit dem Brexit-Votum eine starke Nachfrage nach deutschen Pässen von britischen Juden, deren Vorfahren einst mit knapper Not der Massenvernichtung durch Deutschland entkommen waren. Ihre europäische Staatsbürgerschaft will zumindest jene Hälfte der Briten nicht so ohne weiteres aufgeben, die gegen den Brexit gestimmt hat. Eine praktische Lösung ist die Annahme einer zweiten EU-Staatsbürgerschaft wo immer möglich. Andere Lösungen werden derzeit in Internet-Foren diskutiert. Eine interessante, wenn auch eher unrealistische Idee ist die Einführung einer echten EU-Staatsbürgerschaft, die Bürger aus Nicht-EU-Staaten wie Großbritannien nach vollzogenem Brexit auf Antrag die Beibehaltung oder den Erwerb des EU-Passes (also nicht den eines Mitgliedslandes) erlaubt. Dieser Ansatz wird vor allem auf der Website www.stilleu.uk diskutiert.

Uns EU-Bürger im Vereinigten Königreich treibt indes die Sorge um die möglichen Brexit-Folgen für das eigene Leben um. Im Alltag erleben wir einen rasanten Anstieg von offener, manchmal gewalttätiger Fremdenfeindlichkeit, während sich konservative Politiker um Premier-Ministerin May auf ihrem Parteitag in haarsträubenden Konzepten zur Kontrolle der fremden Plage überbieten. Das Gespenst einer möglichen Abschiebung nach vollzogenem Brexit, so wenig realistisch diese Option zur Zeit auch erscheinen mag, verängstigt viele von uns. Was uns jedoch am meisten verunsichert, ist, dass unsere Stimme nicht gehört wird und bislang kaum jemand für uns sprechen mochte, zumindest nicht in den ersten Wochen nach dem Referendum. Die Zeit des Schweigens allerdings ist vorbei. Unter dem Motto „We are the 3 Million“ formieren sich die EU-Bürger in Großbritannien und beginnen Druck auf Abgeordnete und Regierungsmitglieder auszuüben. Die Bewegung, obwohl immer noch in ihren Anfängen, hat mittlerweile einige Beachtung gefunden, jedenfalls in den wenigen liberalen Medien auf der Insel. Initiiert hat sie eine kleine Gruppe von Freiwilligen um den Franzosen Nicolas Hatton, ein Marketingexperte aus Bristol.

Unterstützt wird sie nicht nur von dem überparteilichen Aktionsbündnis Open Europe, das aus der Pro-EU Referendum-Kampagne hervorgegangen ist und in dem eine Reihe hochrangiger Politiker aller Parteien aktiv sind, sondern auch von einer Vielzahl von britischen Prominenten und normalen Bürgern. Eine der Aktionsformen von „We are the 3 Million“ ist der ‚Pledge‘ (Die Selbstverpflichtung), mit dem sich Parlamentarier aller Parteien ausdrücklich dazu verpflichten sollen, für die Belange der EU-Bürger in ihren Wahlkreisen einzustehen.

Theresa May

Die geschlossene Facebook-Gruppe der Kampagne besteht erst seit einigen Wochen, hat aber bereits einige tausend Mitglieder. Die Postings in der Gruppe erlauben tiefe Einblicke in die Gemütslage der EU-Bürger in Großbritannien, ihre Ängste und das allgemeine Gefühl der Unsicherheit über ihre Zukunft. Solange Premierministerin Theresa May unser Schicksal vor allem als Trumpfkarte im Verhandlungspoker mit der EU begreift, ist unser künftiger Platz im UK alles andere als klar. Entsprechend besorgt, aber auch kämpferisch ist die Stimmung. Und nicht nur unter den EU-Bürgern in Großbritannien, denn natürlich betrifft der Brexit gleichermaßen die rund zwei Millionen Briten, die in anderen EU-Ländern leben, ebenfalls oft schon seit Jahrzehnten. Die haben sich gleichfalls organisiert und suchen im Moment vor allem die juristische Auseinandersetzung mit der Brexit-Regierung. Eine der einflussreichsten Expat-Gruppierungen ist die ECREU (Expat Citizens Rights in EU), die es sich zum Ziel gesetzt hat, für die Rechte britischer Bürger in der EU und europäischer EU-Bürger im Vereinigten Königreich einzutreten. Der Schulterschluss zwischen „We Are the 3 Million“, ECREU und britischen Unterstützern wird überall in Europa aufmerksam verfolgt.

All jenen, die in den vergangenen Jahrzehnten wie selbstverständlich von ihrem EU-Bürger-Grundrecht Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, ist spätestens seit dem 23. Juni 2016 klar, dass European Citizenship durchaus keine Selbstverständlichkeit ist, sondern verteidigt werden muss. In einer Zeit, in der Rechtsextreme und Rechtspopulisten in ganz Europa Oberwasser bekommen, stellen wir das Gegenmodell zu rapide um sich greifenden Nationalismen dar. 2014 lebten bereits acht Millionen Europäer dauerhaft in einem anderen Mitgliedsstaat. Hinzu kommen Studenten, pendelnde Arbeitnehmer, und eine weit größere Zahl von Menschen, die nur kurzfristig in einem anderen EU- Land leben. Wohlgemerkt, das sind keine Eliten, sondern in der überwiegenden Zahl ganz normale Arbeitnehmer aus allen Gesellschaftsschichten, für die Europa zum Alltag geworden ist, die sich aber bisher auch kaum Gedanken um ihre Identität, um Zugehörigkeit machen mussten. Das hat sich seit dem Brexit-Referendum dramatisch geändert. Die anfangs auf Post-Brexit-Britannien beschränkte Diskussion um eine europäische Identität, um den Wert einer europäischen Staatsangehörigkeit, um Bürgerrechte findet nun europaweit statt. EU-Bürger beginnen sich zu solidarisieren und zu organisieren. Das Eigeninteresse spielt da natürlich eine Rolle, ebenso aber die Erkenntnis, dass Europa in der Tat schon lange weit mehr als der Politzirkus in Brüssel ist, nämlich ganz realer Alltag, der plötzlich gefährdet erscheint.

So wie sich die Rechtsradikalen und Populisten internationalisieren und europaweit vernetzen, so vernetzen und organisieren sich nun auch EU-Bürger unionsweit. Am weitesten fortgeschritten ist die Entwicklung derzeit wohl in Großbritannien, doch die Stimmen aus Polen, Deutschland, Frankreich, Holland oder Italien werden gleichfalls lauter. Hier ist, eine eher unerwartete Konsequenz des Brexit-Referendums, eine europäische Bürgerbewegung im Entstehen. Die Zukunft wird zeigen, welches Gewicht sie erlangen kann.

 C 2016 MuzikQuest/Edgar Klüsener

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