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Rocket Man Steve Bennett: Die Zukunft des Weltraumtourismus

Als ich dieses Interview für die fantastische  Zeitschrift Galore führte, war die Welt eine ganz andere. Großbritannien war noch Vollmitglied der Europäischen Union, und die Vorstellung, dass das Königreich dieser Union jemals den Rücken zukehren könnte schien ähnlich wahrscheinlich wie ein bemannter Raumflug in den Andromeda Nebel im Jahre 2022. Russland schien auf dem Weg in eine Demokratie westlichen Musters und galt gar als potenzielles Mitglied sowohl der NATO als auch der EU zu einem späteren Zeitpunkt. Trump makelte Immobilien und feuerte Bewerber in einer erfogreichen TV-Serie (The Apprentice). Die einzige Gefahr für den Weltfrieden schien Al Quaida zu sein, und Deutschland rüstete weiter ab. Derweil wollte in Manchester ein ehemaliger Soldat unbedingt ins Weltall. Mit eigener Rakete. Das allein war schon eine Geschichte wert. Seitdem hat sich einiges getan, und die rasanten Veränderungen der letzten 15 Jahre sind auch an Starchaser nicht spurlos vorübergegangen. Die Firma lebt noch, Steve Bennett bastelt  auf beiden Seiten des Atlantiks weiter an Raketen, aber Wettbewerber wie Elon Musk, Jeff Bezos oder Richard Branson haben ihn längst abgehängt. Abschreiben sollte man den Rocket Man allerdings noch lange nicht. Viel Spaß bei diesem Blick zurück in die Vergangenheit:

1.12.2006, Hyde, Cheshire. Die Zukunft der kommerziellen britischen Raumfahrt haust in einem trostlosen Industrieviertel am Rande von Greater Manchester. Wellblech-Lagerhallen, Backstein-Fabrikbauten und halb leere Parkplätze bestimmen das Bild. Aus dem Tor einer der Lagerhallen lugt die Spitze einer Rakete hervor und kennzeichnet so eindeutig das britische Hauptquartier von Starchaser Ltd., der Firma von Rocket-Man Steve Bennett. Der lädt dann in sein kaltes Büro und bietet zunächst einmal, ganz britischer Gentleman und perfekter Gastgeber, eine Tasse Tee an. Die prächtig tätowierten muskulösen Arme lassen allerdings eher auf Biker denn auf Gentleman schließen. Wie auch das schwere japanische Motorrad, das unten in der Halle zwischen Raketen-Triebwerken abgestellt ist.

Mr. Bennett, was fällt Ihnen zu Paderborn ein?
Steve Bennett
: Ein sehr religiöses Städtchen, ein paar gute Bars, ein paar annehmbare Clubs. Ich war einige Jahre in der Army und unter anderem auch in Paderborn stationiert, bevor ich dann in den Falkland-Krieg abkommandiert wurde.

Eine Raketeneinheit in Paderborn?
Steve Bennett: Nein, nein, ich hatte da den Rang eines Lance Corporals in der Ordnance Squad und war als Petroleum Operator und Labortechniker dafür verantwortlich, dass die Armee mobil blieb. Die britische Armee hatte in Deutschland ein Netz von Treibstoff-Pipelines aufgebaut, und mein Job war es, den Stoff regelmäßig zu testen und zu analysieren. In der ganzen britischen Armee gab’s damals gerade um die zwanzig solcher Petroleum-Operatoren.

Ist für die Tätowierungen ebenfalls die Armee verantwortlich?
Steve Bennett: Nicht die Armee selbst, aber ja, ich ich habe mich in dieser Zeit tätowieren lassen.

Was wollten Sie eigentlich als kleiner Junge werden? Cowboy, Feuerwehrmann oder Pirat?

Steve Bennett: Nein, es war mir schon früh klar, dass ich was mit Raketen machen wollte, mit Weltraum. Schuld waren Neil Armstrong und Gerry Anderson. Mein Interesse an Raketen, an der Weltraumfahrt im Allgemeinen, begann mit Armstrongs Landung auf dem Mond. Da muss ich um die sechs Jahre alt gewesen sein. Gerry Andersons Fernsehserie Thunderbirds besorgte dann den Rest. Wie Millionen andere britische Kinder war ich restlos fasziniert von Thunderbirds. Nur dass bei mir die Faszination dann nie wieder nachgelassen hat.

Zunächst einmal haben Sie sich allerdings bei ihrer Mutter als Feuerteufel unbeliebt gemacht. Sie musste mehr als einmal Brände im Garten löschen.

Steve Bennett: Ich war halt fasziniert von allem, was mit Feuer, Lärm und Explosionen zu tun hatte. Und als ich dann meinen ersten Chemie-Baukasten bekam, gab’s kein Halten mehr. Bald begann ich auch mit verschiedenen Raketentreibstoffen zu experimentieren. Mit Dreizehn habe ich dann schon richtige Raketen gebastelt und Treibstoff gebraut. Die Raketen waren etliche Zentimeter lang und sind bis zu 100 Meter hoch geflogen. Das war bereits richtige Raketen-Wissenschaft. Nach und nach wurden die Raketen immer größer, flogen immer höher und wurden immer teurer. Da hatte es mich endgültig gepackt. 1992 habe ich mich schließlich entschieden, das Hobby zum Beruf zu machen. Zu meiner Frau sagte ich: „Ich werde meinen Job kündigen und in Zukunft meine Arbeitszeit ausschließlich diesem Projekt widmen.“ Sie antwortete: „Aha, und was genau hast du vor? Was willst du erreichen?“ „Ich will eine Rakete bauen“, war meine Antwort, „die groß genug ist mich ins All zu tragen.“

Und sie hat nicht umgehend die Scheidung eingereicht?

Steve Bennett: Erstaunlicherweise nicht. Sie sagte nur: „Okay, wenn du meinst. Ich bin dabei.“ Meinen Job als Labortechniker habe ich dann doch nicht sofort aufgegeben, sondern noch bis 1996 beibehalten. Bereits 1995 hatte sich abgezeichnet, dass das Unternehmen allmählich Ausmaße anzunehmen begann, die einen Nebenjob nicht mehr zuließen. Bald wurde außerdem klar, dass ich alleine überfordert war. Ich konnte ein Triebwerk allein bauen, aber wenn die Rakete zusammengesetzt und transportiert werden musste, dann brauchte ich Hilfe. Und natürlich beim Start und bei Triebwerktests. Das Einmann-Unternehmen wurde zum Team.

Und sie wurden Uni-Dozent.

Steve Bennett: Richtig, eine der Universitäten von Greater Manchester, die University of Salford, hatte einen Kurs in Rocket-Science eingerichtet und groß beworben. Das Echo hatte den Chef der Fakultät für Physik dann allerdings kalt erwischt. Das Interesse an dem Kurs war so groß, dass er in leichte Panik geriet, denn es fehlte ihm an Raketenspezialisten als Dozenten. Irgendwer machte ihn in dieser Situation auf mich und meine Raketentests aufmerksam, und er rief mich an. Für mich war das Angebot ein kleines Geschenk des Himmels. Ich konnte meine Raketen aus der Garage holen und in der Universität unterbringen, bekam dort ein eigenes Büro, ein eigenes Laboratorium, konnte jederzeit auf die Hilfe von eifrigen Studenten zurückgreifen und wurde dafür auch noch bezahlt. In ein ordentliches Unternehmen, eine Limited (entspricht der deutschen GmbH), konnte ich Starchaser schließlich 1998 umwandeln. Und inzwischen haben wir auch einen amerikanischen Zweig, Starchaser US in New Mexico.

Warum ist es so schwierig, geeignete Startplätze zu finden? Sie sind ja mittlerweile mit Rakete im Gepäck um die halbe Welt gereist.

Steve Bennett: Nur die halbe Welt? Wir sind kreuz und quer über den Globus gezogen. In Großbritannien können wir keine Raketen mehr abschießen, weil hier der Luftraum zu überfüllt ist. Die Gefahr versehentlich eine Linienmaschine abzuschießen, ist da sehr real. Außerdem gibt’s in Großbritannien nicht genügend freie Fläche, um die Rakete wieder sicher runter zu bringen. Unsere Raketen sind schlicht zu groß geworden. Einer der letzten Starts war der der Nova Rakete am 22.11.2001 von Morecombe Bay aus. Das war zugleich die größte Rakete, die je von der britischen Hauptinsel aus gestartet ist. Seitdem waren wirv4vchbme unter anderem in Australien und jetzt schließlich in New Mexico. Australien hatte eigentlich perfekte Bedingungen zu bieten.

Warum sind Sie dann nicht dort geblieben?

Steve Bennett: Wir sind von Woomera aus gestartet, das ist ein riesiger Raketenbahnhof, den vorher schon die Briten, die Japaner und etliche andere Nationen genutzt hatten. Das Gelände ist wunderbar. Das Problem mit Woomera ist nur, dass das wirklich ganz weit draußen ist. Die Anreise ist ein logistischer Alptraum, so dass wir uns am Ende doch wieder nach was anderem umgesehen haben.

In New Mexico ist alles besser?

Photo by Bill Jelen on Unsplash

Steve Bennett: In vielerlei Hinsicht ja. Obwohl New Mexico der viertgrößte Staat der USA ist, ist er nur sehr dünn besiedelt. Die derzeitige Einwohnerzahl beträgt gerade mal zwei Millionen. Das Wetter ist fantastisch, 360 Sonnentage pro Jahr. Vor allem aber gibt’s in New Mexico die White Sands Missile Range, die älteste Raketenstart-Anlage der USA und Geburtstort des amerikanischen Weltraumprogrammes. Von hier aus wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die erbeuteten V2 abgeschossen. Der zivile Flugverkehr wird seit über fünfzig Jahren großräumig um White Sands herumgeleitet, und die Verkehrsanbindung ist exzellent. Ein weiterer nicht zu unterschätzender Vorteil des Areals ist seine geographische Lage, beinahe anderthalb Kilometer über dem Meeresboden. Das macht die Strecke ins All eineinhalb Kilometer kürzer. Das mag nicht nach viel klingen, aber wenn man zum Beispiel von Florida aus startet, dann muss man diese eineinhalb Kilometer durch dichte Atmosphäre erstmal überwinden – und zahlt dafür einen gehörigen Preis in zusätzlichem Treibstoff und deutlich erhöhtem Startgewicht. Und das ist immer noch nicht alles. Was am Ende ganz besonders für New Mexico spricht, ist, dass der Staat die kommerzielle Raumfahrt als schnell wachsende Zukunftsindustrie ansieht, deren wirtschaftliche Bedeutung für New Mexico enorm sein wird. Deshalb hat der Staat in Las Cruces, ganz in der Nähe von White Sands, einen großzügigen Spaceport aufgebaut und fördert gezielt die Ansiedlung von kommerziellen Raumfahrtunternehmen wie Starchaser US.

Weites, offenes Land, kaum besiedelt, garantierter Sonnenschein, wenig Verkehr auf den Free- und Highways – das klingt nicht nur nach einem Paradies für Raketenbauer, sondern auch nach einem für Motorrad-Freaks. Nehmen Sie Ihre Maschine öfter mal mit nach drüben?

Steve Bennett: Nein, die bleibt schön hier. Aber ich leihe mir gelegentlich das Motorrad eines Freundes aus und fahre dann einfach drauflos. Allerdings machen mir amerikanische Autofahrer Angst.

Warum das?

Steve Bennett: Die haben die unangenehme Eigenschaft, mit ihren Pickup-Trucks so dicht aufzufahren, dass sie einen fast berühren. Und auch beim Überholen achten sie nur selten auf Abstand.

Weltraumtourismus sei ein gigantischer Wachstumsmarkt, sagen Sie. Auf diesem Markt konkurriert Steve Bennett, der frühere Labor-Techniker und jetzige Uni-Dozent mit seiner kleinen Firma Starchaser nicht nur mit den Dinosauriern NASA oder ESA, sondern auch mit milliardenschweren Geschäftsleuten wie Richard Branson, dem Microsoft-Mitgründer Paul Allen oder John Carmack, dem Vater der Spiele Doom und Quake. Ist das Rennen da nicht von vornherein verloren?

Steve Bennett: Richard Branson mag noch so laut verkünden, dass Virgin Galactic groß ins Weltraumtourismusgeschäft einsteigen wird, es ändert nichts daran, dass er im Moment nicht einmal eine Rakete hat. Allerdings verhandelt seine Firma wohl mit Scaled Composite, deren SpaceShipOne den mit zehn Millionen Dollar dotierten Anahri X Prize gewonnen hat. Bransons baldiger Einstieg ins Weltraum-Geschäft ist also noch durchaus möglich; und wenn er einsteigt, dann hat er sicherlich ausreichend Ressourcen, um das Geschäft auf Dauer zu dominieren. Andere reden nur und haben gar nichts. Im Moment wird viel geredet, aber nur wenige sind tatsächlich schon so weit. Der amerikanische Konstrukteur Burt Rutan und sein Team gehören sicherlich zu den letzteren. Er gibt aber eine Menge Geld aus. Es sieht so aus, als kreiere er ein Sportauto, wo eigentlich ein Volkswagen gebraucht wird. Auch Carmack und Paul Allen machen gute Fortschritte. Der Rest, nun ja, man wird sehen. Was mich wirklich stört, sind diese Firmen, die schon jetzt großspurig auftreten und Trips in den All verkaufen, als sei das seit Jahren ihr tägliches Brot. Diese Firmen beschreiben ihre Pläne und Aktivitäten in der Gegenwartsform: Wir fliegen dreimal täglich in die Stratosphäre, unsere Raketen haben die und die Schubkraft, wir transportieren pro Tag sechs Touristen… und so fort. Wenn man dann mal genauer hinschaut, stellt man fest, dass diese Firmen nicht einmal eine Rakete, geschweige denn einen Startplatz oder eine Raumkapsel haben.

Wo steht Starchaser denn zur Zeit?

Steve Bennett: Starchaser ist ein anderer Fall. Wir verfolgen eine Strategie der beharrlichen kleinen Schritte. Jede Entwicklung wird zunächst ausgiebig getestet, bevor wir mit der nächsten Stufe weiter machen. Unsere Arbeit ist daher grundsolide, und an Erfahrung und technischer Kompetenz sind wir den meisten anderen Unternehmen inzwischen überlegen.

Und finanziell?

Steve Bennett: Wir hatten nie einen potenten Geldgeber im Rücken und mussten daher von Anfang an mit jedem Pfennig rechnen. Wir haben schon sehr früh ein Geschäftsmodell entwickelt, das uns Einnahmen sichert. In den vergangenen Jahren hat Starchaser rund drei bis vier Millionen Pfund ( 4,5 – 6 Millionen Euro) eingenommen. Ein großer Teil dieser Gelder wurde von Sponsoren zur Verfügung gestellt, andere Einnahmequellen sind unser Merchandise, der Club und vor allem das Outreach-Programm. Voraussichtlich noch in diesem Jahr wird Starchaser außerdem an die Börse gehen. Der Hauptgeschäftszweig wird in Zukunft jedoch der Raum-Tourismus sein. Da tut sich ein gigantischer Markt auf.

Wenn Sie mit einer Rakete im Schlepptau durch enge Innenstadt-Straßen kurven und Verkehrschaos verursachen, ist das Teil des Outreach-Programms oder schlichte Lust am Aufruhr?

Steve Bennett: Das ist Teil des Outreach-Programms. Wir gehen mit den Raketen in Schulen. Wir zeigen den Schülern, was es mit Raketen und dem Weltraum auf sich hat und bauen mit ihnen in Workshops Raketen und starten diese auch. Das Ziel ist es, in den Schülern Interesse an Physik, Raketentechnologie und an Weltraumforschung zu wecken. Bisher beschränkt sich das Schulprogramm auf die britischen Inseln, aber wir würden es gern ausdehnen, auch nach Deutschland. Bei der Gelegenheit käme ich dann vielleicht auch mal wieder nach Paderborn. Eine andere Outreach-Aktivität ist unsere enge Kooperation mit dem Spaceport in Liverpool. Aber unser wichtigstes Betätigungsfeld ist für die Zukunft eindeutig der Weltraumtourismus.

Was ist eigentlich Ihre Definition von Weltraum-Tourismus?

Steve Bennett: Das ist eine interessante Frage. Es gibt sicherlich mehrere Aktivitäten und Angebote, auf die der Begriff Weltraumtourismus zutrifft. Irdischer Weltraumtourismus, okay, das ist eigentlich ein Widerspruch in sich selbst, wäre zum Beispiel der Besuch von Space Parks wie dem Spaceport in Liverpool oder dem Kennedy Space Park. Millionen von Menschen machen von diesen Angeboten bereits Gebrauch; sie buchen Touren, kaufen Merchandise und lassen sich das Vergnügen locker 100 Dollar pro Kopf kosten. Dann gibt’s Space Rides, in denen man für einige Sekunden nahezu schwerelos ist. Manche Achterbahnen bieten diesen Effekt, aber auch andere, oft speziell für diesen Zweck designete Amüsierpark-Maschinerie. Die nächste Stufe sind Flüge, in deren Verlauf man für einige Sekunden Schwerelosigkeit verspüren kann. Oder jene Astronauten-Pakete, in denen man die typischen Phasen des Astronauten-Trainings mitmachen kann. Schließlich erschwingliche Raketenflüge in eine Höhe von 100 km und darüber, die Starchaser anbieten wird. Wir bringen unsere Passagiere sicher rauf und wieder runter, das ist das kurzfristige Ziel. Ganz oben in der Liste, und nur für sehr wenige erschwinglich, finden sich dann Flüge in die Umlaufbahn und Ausflüge zur Internationalen Raumstation, die im Moment nur die Russen im Programm haben und die rund 20 Millionen Dollar pro Person kosten. Das sind die Gegenwart und die nahe Zukunft des Weltraumtourismus. Wie immer man Weltraumtourismus am Ende auch definiert, er findet bereits statt, und der Markt wächst rasant. In unserem Segment gehören wir derzeit zu den Firmen, die ganz vorne mitspielen.

Was war Ihrer Meinung nach der größte Fehler, den die Regierung des konservativen Premiers Edward Heath gemacht hat?

Steve Bennett: Die Einstellung des britischen Raumfahrtprogrammes im Jahre 1971. Seitdem ist Großbritannien nur noch Zuschauer und beteiligt sich höchstens mal an einzelnen Projekten der Europäischen Raumfahrtagentur ESA. Im Vergleich zu anderen EU-Staaten wie Frankreich, Deutschland oder Italien, die massiv in Weltraumforschung und Weltraumtechnologie investieren, gerät Großbritannien dadurch langfristig auch technologisch ins Hintertreffen. Wenn man sieht, welch gewaltige Anstrengungen Amerika, Russland, China, Japan oder Indien in der Weltraumforschung unternehmen, dann wird diese britische Zurückhaltung noch weniger verständlich.

Fördert der britische Staat denn wenigstens private Raumfahrtunternehmen wie das Ihre?

Steve Bennett: Von der britischen Regierung kommt gar nichts. In Amerika sieht die Sache anders aus. Starchaser US wird vom Staate New Mexico sehr gut unterstützt. Das ist übrigens auch etwas, was wir mit unserem Outreach-Programm zu erreichen hoffen: Manche von den Schülern, die durch das Programm für Raketentechnik und Weltraumforschung begeistert werden, werden vielleicht irgendwann in ihrem späteren Leben Politiker oder Beamte, die über die Verteilung von Geldern für Forschungsvorhaben zu entscheiden haben.
Hat das Privatunternehmen Starchaser Verbindungen, egal welcher Art, zu staatlichen und überstaatlichen Organisationen wie der ESA oder der NASA?
Steve Bennett: Oh ja. ESA zum Beispiel hat uns offiziell als Dientsleister und als Forschungspartner anerkannt. Mit NASA sieht die Sache ähnlich aus. Da Starchaser US eine amerikanische Firma ist, haben wir Zugang zu vielen NASA-Services und zu technischen Unterlagen, die nicht-amerikanischen Firmen verwehrt bleiben. Und auch mit den Russen arbeiten wir punktuell zusammen.

Welchen der Väter der Raumfahrt würden Sie als Ihr Idol ansehen?

Steve Bennett: Idol ist vielleicht ein zu großes Wort. Aber einigen von denen fühle ich mich sicherlich geistesverwandt. So wie Robert Goddard aus Massachusetts. Vor allem aber Wernher von Braun, der unzweifelhaft einer meiner Helden ist. Wenn ich deren Biographien lese, dann ist mir oft, als lese ich über mich selbst. Ich kann nachfühlen und verstehen, was sie angetrieben hat, ihre Gedankenwelt, Vorstellungen und Träume. Unsere eigene Arbeit beruht zudem ganz erheblich auf den Werken von Goddard und von Wernher von Braun. Wir erfinden schließlich nicht das Rad neu.

Wernher von Braun ist allerdings auch ein Beispiel dafür, was passieren kann, wenn sich Wissenschaftler und Visionäre in Verfolgung ihrer Träume an ein unmenschliches Regime verkaufen. Zigtausende von Sklavenarbeitern sind bei der Konstruktion seiner Raketen umgekommen. Würden Sie Ihre Dienste dem Militär zur Verfügung stellen, wenn das britische Verteidigungsministerium auf Sie zukäme?

Steve Bennett: Ich war Soldat, habe also kein Problem mit dem Militär. Aber bisher ist es zu keiner Zusammenarbeit gekommen, und das Militär hat auch kein Interesse an einer solchen angedeutet.

Was fasziniert Sie bis heute so an Raketen und am Weltraum?

Steve Bennett: Der Weltraum ist das große Unbekannte. Auf der Erde haben wir so ziemlich alles erforscht, die höchsten Berge, die tiefsten Seen, die Pole und die Wüsten. Ich liebe es, Unbekanntes zu erforschen, Pionier zu sein. Ich will hinaus ins All, auf den Mond, den Mars, ich will mit eigenen Augen sehen, was da ist.

Sie sind nicht zufällig auch ein Star Trek-Fan?

Steve Bennett: Absolut! Nicht nur, weil Star Trek ein einziger, endloser Forschungs-Trip ist, sondern auch, weil Star Trek so viele technische Neuerungen, die uns heute selbstverständlich erscheinen, schon vor zehn, zwanzig Jahren vorweg genommen hat. Schauen Sie sich nur mal mein Mobiltelefon an. Das Design ist fast identisch mit dem der Enterprise-Kommunikatoren. Ich klappe es auf, und es ist bereit. Es ist weit mehr, als nur ein Telefon. Ich kann damit Berechnungen durchführen, kann Daten und Adressen speichern, Ton aufzeichnen und fotografieren. Ich kann mich direkt mit einem Computer oder dem Internet verbinden. Und das alles mit einem vergleichsweise winzigen Gerät. Noch vor fünfzehn Jahren wäre das wüsteste Science Fiction gewesen.

Nur der schnelle Flug in andere Sternsysteme oder gar Galaxien wird wohl auf immer Science Fiction bleiben. Schneller als das Licht geht nun mal nicht.

Steve Bennett: Wer sagt denn das? Okay, die Lichtgeschwindigkeit ist die Obergrenze. Aber es gibt verschiedene Wege von A nach B. Wenn man das Universum mit einem Blatt Papier oder einer Membran vergleicht, dann ist der Weg von A nach B endlos lang, wenn man immer schön auf der Oberfläche bleibt. Wenn man aber das Blatt Papier so faltet, dass A und B direkt übereinanderliegen und dann eine Nadel durchsticht, dann ist der Weg von A nach B kaum der Rede wert. Auf diesem Prinzip der Raumfaltung basiert der Warp-Antrieb der Enterprise. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir eines Tages eine Technologie entwickeln, die uns Ähnliches erlaubt.

Der Wissenschaftler Stephen Hawking hat vor einigen Tagen gesagt, dass wir dringlichst damit beginnen müssten, Kolonien im Weltraum zu errichten. Andernfalls sei das Überleben der Menschheit ernsthaft gefährdet. Er muss Ihnen aus der Seele gesprochen haben.

Steve Bennett: Hat er in der Tat. Ich bin ebenfalls der Überzeugung, dass die Zukunft der Menschheit im Weltall liegt. Die Gefahr, dass wir uns hier auf der Erde selbst auslöschen, ist sehr real. Dazu braucht’s nicht einmal einen Krieg. Es ist vielmehr eine Frage der Ressourcen und wie wir mit ihnen umgehen. Hier auf der Erde gehen sie unwiderruflich zur Neige. Ersetzen können wir manche nur noch von außerhalb, durch die Erschließung und Ausbeutung anderer Planeten.

Apropos Ressourcen: Starchaser pflanzt jedes Jahr hundert Bäume, um den Schaden wiedergutzumachen, den die Firma an der Umwelt anrichtet. Ist das nicht ein bisschen bigott?

Steve Bennett: Nicht wirklich. Der eigentliche Schaden wird von unseren Bodenfahrzeugen angerichtet, dem Sattelschlepper und den PKWs. Raketentreibstoff hingegen ist erstaunlich sauber. Wir arbeiten mit Zweikomponenten-Flüssigtreibstoffen, der wichtigste Bestandteil ist Hydrogen, der andere Kerosin. Der Schadstoffaustoß ist minimal. Unsere Raketen sind weit umweltfreundlicher als Flugzeuge oder PKWs.

Wollen Sie selbst noch zu anderen Planeten fliegen? Und zu welchen?

Steve Bennett: Ich will unbedingt zu anderen Planeten reisen! Ich möchte zum Mond und zum Mars. Mein Wunschziel jedoch ist der Jupitermond Europa. Er scheint der erdähnlichste Planet in unserem Sonnensystem zu sein. Viele Anzeichen sprechen sogar dafür, dass seine Oberfläche von Wasser bedeckt ist, auf dem eine dicke Treibeisschicht schwimmt. Ein hochinteressanter Planet also!

Kann ich meine Nachos gefahrlos in Rocket Fuel tauchen?

Steve Bennett: Sicher. Sie sollten aber ein Glas Wasser in Reichweite haben, denn das Zeug ist höllisch scharf. Hergestellt wird die Chili-Sauce in unserem amerikanischen Standort Las Cruces, und zwar ausschließlich aus natürlichen Zutaten. Als wir die Sauce zum ersten Mal in einem örtlichen Lokal probiert hatte, keuchte einer der Techniker nach einem längeren Hustenanfall: „Mein Gott, das Zeug ist Rocket Fuel.“ Womit es dann seinen Namen weghatte, unter dem es seitdem über unseren Merchandise Shop vertrieben wird.

Waren Sie eigentlich jemals in der Area 51?

Steve Bennett: Nein, aber in Roswell, das gleich um die Ecke von Las Cruces ist.

Aha, irgendwelche interessanten außerirdischen Technologien dort gefunden?

Steve Bennett: Nein, da muss jemand schneller gewesen sein.

Eine letzte Frage noch: „Born To Be Wild“ von Steppenwolf ist weltweit zur Bikerhymne geworden. Welcher Song hat ihrer Meinung nach das Zeug zur Raketenmann-Hymne?

Steve Bennett: Da gibt’s zwei Kandidaten. Erstens die Titelmelodie der von Gerry Anderson kreierten Fernsehserie Fireball XL 5. Und zweitens „Rocket Man“ von Elton John.

© 2007/2022 Edgar Klüsener
Erstveröffentlichung: Februar 2007, Galore

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Musik Nachrichten Reportagen Zeitgeschichten

Unerwünschter Rettungseinsatz in Schottland: Metal Fans mit Selbstmord-Kult verwechselt

Eigentlich sollte es ein Campingausflug werden, mit Bier, Gegrilltem und vor allem guter Musik. Eigentlich. Denn stattdessen erlebte eine kleine Gruppe von eingefleischten Metalfans einen Tag, von dem sie noch ihren Urenkeln erzählen können. Der Lehrer David Henderson, Universitäts-Dozent Panadiotis Filis und der Ingenieur Ross Anderson wollten sich zusammen mit ihren Kindern, der zehnjährigen Natalia Teo, Sohnemann Jude Henderson und dem siebenjährigen Andrew Vassiliadis sowie einem Hund namens Jazz auf einer ebenso winzigen wie historischen Insel im Loch Leven in einem geräumigen Tipi einrichten. Doch als sie sich in einem Boot auf den Weg zur Insel machten, erspähte sie ein zufällig am Ufer vorbeigehender Spaziergänger. Der Anblick der ganz in Schwarz gekleideten Gruppe in Ihrem Boot verleitete ihn, seine ganz eigenen Schlüsse zu ziehen: Schwarze Kleidung, lange Haare, Bierflaschen – die Kombination deutete für ihn ganz klar auf einen Selbstmordkult hin, der auf der Insel zur letzten Tat schreiten wollte. Der Mann verlor keine Zeit und alarmierte umgehend die Polizei, die Feuerwehr und die örtlichen Rettungsdienste und leitete so eine der größten Rettungsaktionen in der Geschichte der schottischen Region ein. Kurze Zeit nach dem Anruf zog bereits der erste Rettungshubschrauber über der Insel seine Kreise. Wenig später trafen dann mit heulenden Sirenen Polizeiautos, Ambulanzen und Feuerwehr-Mannschaften ein, während die ersten Boote aus den umliegenden Ortschaften sich auf den Weg zur Insel machten. Die Polizei nahm sich zunächst die beiden PKW der Gruppe vor, schlug die Seitenfenster ein und durchsuchte das Innere der Fahrzeuge nach Abschiedsbriefen. Sobald die Boote an der Insel anlandeten, machten sich die Besatzungen daran, die verdatterten Metalfans zu „retten“.

David Henderson, im Nebenberuf Sänger der Death Metal-Band Nyctopia beschrieb später einem BBC-Reporter das Geschehen aus seiner Sicht: „Wir sind einfach nur eine Gruppe von Freunden, die gerne in der freien Natur zelten, Bier trinken und Heavy Metal hören. Wir hatten unsere Autos gegenüber dem Lochleven Castle abgestellt und eine kurze Sicherheitsbelehrung bekommen, bevor wir dann zur Insel ruderten. Dort angekommen, informierte uns dann allerdings eine Mitarbeiterin von Historic Scotland, dass auf der Insel Camping leider verboten sei. Also ruderten wir weiter zur kleineren Insel und bauten unser Tipi dort auf. Wir saßen dann später ums Feuer und erzählten uns Geistergeschichten. Irgendwann fielen uns diese merkwürdigen Lichter auf, die sich der Insel von allen Seiten näherten. Der Hund wurde unruhig begann zu bellen. Es war wirklich surreal, wir hatten keine Ahnung, was los war. Es war wie eine Szene aus einem Horrorfilm oder aus den X-Akten, wo die Außerirdischen kommen und dich entführen.“

Die Gruppe entschloss sich zu handeln. „Wer oder was auch immer da auf uns zusteuerte, wir wussten nicht, ob die freundlich oder feindlich waren. Also löschten wir schnell das Feuer. Unsere größte Sorge galt der Sicherheit der Kinder.“

Es dauerte eine Weile, bis die Camper begriffen, dass sie nicht Opfer einer feindlichen Invasion, sondern einer großangelegten Rettungsaktion waren. Erst der Anblick von Rettungssanitätern in voller Montur überzeugte sie schließlich. Die Polizei, die den Verdacht hegte, dass hier möglicherweise auch eine Kindesentführung vorliegen könne, blieb nach wie vor misstrauisch und unterzog die Erwachsenen einer längeren Befragung. Am Ende kamen aber sowohl die Polizisten als auch die Rettungskräfte zu der Überzeugung, dass die Camper tatsächlich nur Camper waren und verließen die Insel wieder.

Apropos Nyctopia, hier einige Musikbeispiele:

 

 

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The 3 Million – EU-Bürger machen mobil in Brexitland

Grob geschätzt drei Millionen EU-Bürger leben derzeit im Vereinigten Königreich, drei Millionen, die seit dem Brexit-Referendum ihre Gegenwart, und noch viel mehr ihre Zukunft im Inselreich gefährdet sehen. Unter diesen finden sich nach einer Erhebung des britischen Office for National Statistics aus dem Jahr 2013 rund 135,000 Deutsche. Auch ich bin einer von diesen. Meine Frau dagegen ist Britin, die Kinder ebenfalls.

Egal ob Deutsche, Italiener, Holländer oder Rumänen in Britannien, wir sind alle Bürger der Europäischen Union, mit klar umrissenen Rechten und Pflichten, bisher in nahezu allen Belangen den Briten gleich gestellt. Lediglich von den Wahlen zum britischen Parlament sind wir ausgeschlossen. Ausgeschlossen waren wir außerdem von der Teilnahme an eben jenem Referendum am 23. Juni 2016, dessen Ausgang nun maßgeblichen Einfluss auf unser künftiges Schicksal im Vereinigten Königreich, auf die Zukunftsplanung von Einzelnen und von ganzen Familien hat. Einige mussten zu ihrem Entsetzen feststellen, dass selbst enge britische Freunde gegen einen Verbleib des Landes in der EU und gegen weitere Einwanderung von EU-Bürgern gestimmt hatten. „Ich habe ja nichts gegen dich persönlich, aber es gibt einfach zu viele von euch“, ist die höfliche Version von „Verzieh dich endlich!“

Europaflagge

Geschockt sind auch viele Briten, und nicht nur die 48 %, die für einen Verbleib des Landes in der EU gestimmt hatten, denn ihnen dämmert so langsam, dass mit dem Brexit der Verlust aller europäischen Bürgerrechte einhergeht. „European Citizenship“, bisher kaum mehr als ein vager Begriff für viele, wird plötzlich zu einem wertvollen Gut. Die Realisierung, dass mit dem Brexit die Reisefreiheit eingeschränkt wird, die Freiheit in anderen EU-Ländern zu leben und zu arbeiten, Familien zu gründen oder als Studenten den einheimischen Studierenden gleichgestellt zu sein, bereitet inzwischen selbst manchen von jenen Bauchschmerzen, die eigentlich für den Ausstieg aus der EU gestimmt haben. So überrascht es nicht, dass ein Run auf zweite Staatsbürgerschaften eingesetzt hat, der mit jedem Tag an Intensität gewinnt. Vor allem irische Pässe sind gefragt, aber auch zyprische, französische, polnische oder deutsche. Besonders pikant: die deutsche Botschaft in London registriert seit dem Brexit-Votum eine starke Nachfrage nach deutschen Pässen von britischen Juden, deren Vorfahren einst mit knapper Not der Massenvernichtung durch Deutschland entkommen waren. Ihre europäische Staatsbürgerschaft will zumindest jene Hälfte der Briten nicht so ohne weiteres aufgeben, die gegen den Brexit gestimmt hat. Eine praktische Lösung ist die Annahme einer zweiten EU-Staatsbürgerschaft wo immer möglich. Andere Lösungen werden derzeit in Internet-Foren diskutiert. Eine interessante, wenn auch eher unrealistische Idee ist die Einführung einer echten EU-Staatsbürgerschaft, die Bürger aus Nicht-EU-Staaten wie Großbritannien nach vollzogenem Brexit auf Antrag die Beibehaltung oder den Erwerb des EU-Passes (also nicht den eines Mitgliedslandes) erlaubt. Dieser Ansatz wird vor allem auf der Website www.stilleu.uk diskutiert.

Uns EU-Bürger im Vereinigten Königreich treibt indes die Sorge um die möglichen Brexit-Folgen für das eigene Leben um. Im Alltag erleben wir einen rasanten Anstieg von offener, manchmal gewalttätiger Fremdenfeindlichkeit, während sich konservative Politiker um Premier-Ministerin May auf ihrem Parteitag in haarsträubenden Konzepten zur Kontrolle der fremden Plage überbieten. Das Gespenst einer möglichen Abschiebung nach vollzogenem Brexit, so wenig realistisch diese Option zur Zeit auch erscheinen mag, verängstigt viele von uns. Was uns jedoch am meisten verunsichert, ist, dass unsere Stimme nicht gehört wird und bislang kaum jemand für uns sprechen mochte, zumindest nicht in den ersten Wochen nach dem Referendum. Die Zeit des Schweigens allerdings ist vorbei. Unter dem Motto „We are the 3 Million“ formieren sich die EU-Bürger in Großbritannien und beginnen Druck auf Abgeordnete und Regierungsmitglieder auszuüben. Die Bewegung, obwohl immer noch in ihren Anfängen, hat mittlerweile einige Beachtung gefunden, jedenfalls in den wenigen liberalen Medien auf der Insel. Initiiert hat sie eine kleine Gruppe von Freiwilligen um den Franzosen Nicolas Hatton, ein Marketingexperte aus Bristol.

Unterstützt wird sie nicht nur von dem überparteilichen Aktionsbündnis Open Europe, das aus der Pro-EU Referendum-Kampagne hervorgegangen ist und in dem eine Reihe hochrangiger Politiker aller Parteien aktiv sind, sondern auch von einer Vielzahl von britischen Prominenten und normalen Bürgern. Eine der Aktionsformen von „We are the 3 Million“ ist der ‚Pledge‘ (Die Selbstverpflichtung), mit dem sich Parlamentarier aller Parteien ausdrücklich dazu verpflichten sollen, für die Belange der EU-Bürger in ihren Wahlkreisen einzustehen.

Theresa May

Die geschlossene Facebook-Gruppe der Kampagne besteht erst seit einigen Wochen, hat aber bereits einige tausend Mitglieder. Die Postings in der Gruppe erlauben tiefe Einblicke in die Gemütslage der EU-Bürger in Großbritannien, ihre Ängste und das allgemeine Gefühl der Unsicherheit über ihre Zukunft. Solange Premierministerin Theresa May unser Schicksal vor allem als Trumpfkarte im Verhandlungspoker mit der EU begreift, ist unser künftiger Platz im UK alles andere als klar. Entsprechend besorgt, aber auch kämpferisch ist die Stimmung. Und nicht nur unter den EU-Bürgern in Großbritannien, denn natürlich betrifft der Brexit gleichermaßen die rund zwei Millionen Briten, die in anderen EU-Ländern leben, ebenfalls oft schon seit Jahrzehnten. Die haben sich gleichfalls organisiert und suchen im Moment vor allem die juristische Auseinandersetzung mit der Brexit-Regierung. Eine der einflussreichsten Expat-Gruppierungen ist die ECREU (Expat Citizens Rights in EU), die es sich zum Ziel gesetzt hat, für die Rechte britischer Bürger in der EU und europäischer EU-Bürger im Vereinigten Königreich einzutreten. Der Schulterschluss zwischen „We Are the 3 Million“, ECREU und britischen Unterstützern wird überall in Europa aufmerksam verfolgt.

All jenen, die in den vergangenen Jahrzehnten wie selbstverständlich von ihrem EU-Bürger-Grundrecht Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, ist spätestens seit dem 23. Juni 2016 klar, dass European Citizenship durchaus keine Selbstverständlichkeit ist, sondern verteidigt werden muss. In einer Zeit, in der Rechtsextreme und Rechtspopulisten in ganz Europa Oberwasser bekommen, stellen wir das Gegenmodell zu rapide um sich greifenden Nationalismen dar. 2014 lebten bereits acht Millionen Europäer dauerhaft in einem anderen Mitgliedsstaat. Hinzu kommen Studenten, pendelnde Arbeitnehmer, und eine weit größere Zahl von Menschen, die nur kurzfristig in einem anderen EU- Land leben. Wohlgemerkt, das sind keine Eliten, sondern in der überwiegenden Zahl ganz normale Arbeitnehmer aus allen Gesellschaftsschichten, für die Europa zum Alltag geworden ist, die sich aber bisher auch kaum Gedanken um ihre Identität, um Zugehörigkeit machen mussten. Das hat sich seit dem Brexit-Referendum dramatisch geändert. Die anfangs auf Post-Brexit-Britannien beschränkte Diskussion um eine europäische Identität, um den Wert einer europäischen Staatsangehörigkeit, um Bürgerrechte findet nun europaweit statt. EU-Bürger beginnen sich zu solidarisieren und zu organisieren. Das Eigeninteresse spielt da natürlich eine Rolle, ebenso aber die Erkenntnis, dass Europa in der Tat schon lange weit mehr als der Politzirkus in Brüssel ist, nämlich ganz realer Alltag, der plötzlich gefährdet erscheint.

So wie sich die Rechtsradikalen und Populisten internationalisieren und europaweit vernetzen, so vernetzen und organisieren sich nun auch EU-Bürger unionsweit. Am weitesten fortgeschritten ist die Entwicklung derzeit wohl in Großbritannien, doch die Stimmen aus Polen, Deutschland, Frankreich, Holland oder Italien werden gleichfalls lauter. Hier ist, eine eher unerwartete Konsequenz des Brexit-Referendums, eine europäische Bürgerbewegung im Entstehen. Die Zukunft wird zeigen, welches Gewicht sie erlangen kann.

 C 2016 MuzikQuest/Edgar Klüsener

(Unveränderte Weiterverbreitung und Nachdruck ohne vorherige Genehmigung erlaubt)
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Verwunschene Wasserwelten – unterwegs mit dem Kanalboot

Langsam… du bist zu schnell!

Nicht so schnell, runter vom Gas!!!“ Irritiert schaue ich auf den Käptn. Ich bin gerade von zwei gemächlich ausschreitenden Spaziergängern auf dem Pfad neben dem Kanal überholt worden. Trotzdem werde ich nun des Rasens bezichtigt. “Jau”, sagt der Käptn. “Du bist zu schnell. Wenn du an ankernden Kanalbooten vorbeifährst, musst du schön langsam bleiben. Sonst schlägst du zu hohe Wellen und die Leute in den Booten werden durchgeschaukelt und verschütten ihren Tee. Also runter mit dem Tempo!”? Gehorsam drossele ich die Geschwindigkeit weiter. Vom Motor ist jetzt kaum noch was zu hören, beinahe lautlos gleitet unser Boot an der friedlich am Uferrand ankernden „Ellie“ vorbei. So langsam, dass ich mir ziemlich sicher bin, dass niemand an Bord der Ellie auch nur einen Tropfen Tee verschütten wird. Dafür ist mein Puls jedoch erheblich beschleunigt. Die Wasserstraße ist eng, sehr eng. Zwischen unserem Boot, der Ellie und dem gegenüberliegenden Ufer passt auf beiden Seiten kaum mehr als ein Paar Stiefel. Die Gefahr, die Ellie versehentlich zu schrammen ist durchaus real. Dann dürften wohl mehr als nur ein paar Tropfen Tee verschüttet werden. „Du machst das gut.“ sagt der Käptn, „sieh nur zu, dass du das Boot gerade hältst.“

Das Boot ist gute 20 Meter lang, ich stehe am hinteren Ende, und der Bug scheint meilenweit entfernt. Was da vor der Bootsspitze im Wasser treiben könnte, kann ich weder sehen noch erahnen, höchstens befürchten. Ich klammere mich ans Ruder, bemüht, es so ruhig wie möglich zu halten. Aus dem Inneren des Bootes klingt Musik, Stimmengewirr, das Klirren von Gläsern und Besteck. Keine Frage, meine Mitpassagiere genießen die Reise. Dass die mitten durch die urbanen Vororte von Greater Manchester geht, kann man an Bord nur ahnen. Dicht bepflanzte Böschungen schirmen den Kanal auf beiden Seiten ab, vom Boot aus sieht man selten mehr als viel lauschiges Grün, pittoreske Brücken aus dem ausgehenden Neunzehnten Jahrhundert und andere Kanalboote, die entweder gemächlich einem unbekannten Ziel entgegen tuckern oder am Ufer angeleint sind. Zu meiner grenzenlosen Erleichterung gab es seit Beginn der Bootsfahrt kaum nennenswerten Gegenverkehr, die Herausforderungen an meine begrenzten Steuermanns-Fähigkeiten blieben daher wohltuend begrenzt. Das soll sich jedoch schnell ändern. Ausgerechnet in einer Kurve kommt mir die Sunderland entgegen.

Das Boot ist lang, der Gegenverkehr macht mulmig

Okay, jetzt nur keine Panik”, sagt der Käptn und wirkt plötzlich hellwach. “Das kriegen wir schon hin. Geh mal noch ein bisschen mehr vom Gas runter.” Er steht jetzt direkt neben mir, bereit, mir jederzeit das Ruder aus der Hand zu nehmen, falls erforderlich. Aber noch darf ich. Vom Heck sieht es beinahe so aus, als würde irgendwo ganz weit da vorne der Bug des Bootes sich langsam, aber unaufhörlich in die Seite der Sunderland rammen. Tatsächlich aber trennen die beiden Boote noch gut fünfzehn Zentimeter schmutzig-graues Wasser voneinander. “Du machst das gut, Junge”, sagt der Käptn aufmunternd. Seine Körpersprache allerdings drückt eher alarmierte Besorgnis aus. Irgendwie komme ich am Ende doch berührungsfrei an der Sunderland vorbei. “Das war die Härteprüfung”, sagt der Käptn. „Jetzt können wir dich auf die Kanäle loslassen.“

Diese Kanäle, die meisten während der Industriellen Revolution als schnelle und verlässliche Transportrouten für den Produktionsausstoß der Textilfabriken im Nordwesten Englands gebuddelt, durchziehen England kreuz und quer. Nennenswerter Fracht- und Güterverkehr findet nur noch auf den wenigsten statt. Mit dem Niedergang der einstigen Zentren britischer Textil- und Schwerindustrie sind auch die plumpen Lastkähne von den meisten Wasserwegen verschwunden. Ihren Platz nimmt nun eine ganz eigene Zivilisation der Frei- und Vollzeit-Wassernomaden ein. Das Leben auf dem Wasser ist nicht billig. Ein Boot wie das Narrow-Boat, das ich gerade mit schweißnassen Händen um die Kurve manövriert habe, kann voll ausgestattet gut und gerne 27.000 Euros kosten. Für den Preis gibt es allerdings auch allerhand Komfort. Bordtoilette und gut ausgestattete Küche sind ebenso im Preis inbegriffen wie separate Schlaf- und Wohnbereiche. Hinzu kommen Kosten für regelmäßige Wartung und Instandhaltung, Gas und Elektrizität. Rund 15.000 Briten haben mittlerweile das Reihenhaus oder die Mietwohnung gegen ein Kanalboot eingetauscht schätzt die britische Tageszeitung The Independent. Doch nicht nur sie haben die vielfältigen Reize der künstlichen Wasserwelten entdeckt. Die Ruhe und Gemächlichkeit, die die Kanäle mitten in urbanen Ballungsräumen bieten, zieht immer mehr Städter für kurze Ausflüge mit Freunden und Familien in gemietete Narrow-Boats. Sie suchen die Andeutung von Naturnähe und die verträumten Morgenstimmungen, wenn Dunstschleier die Grenzen zwischen Land und Wasser verschwinden lassen und eine Atmosphäre märchenhafter Unwirklichkeit schaffen, Oder sie feiern Parties auf den Booten, auch das ein Trend, der vor allem im traditionell partywütigen Manchester, wo mitten im Herzen der Stadt ein zentraler Kanal-Knotenpunkt eine ganz eigene urbane Wasserwelt zum Vergnügungszentrum geworden ist, den Wasserwegen neues Leben schenkt.

Mystische Kanalatmosphäre

Rund um die Kanäle hat sich in den letzten Jahren eine florierende Touristikbranche entwickelt. Die Angebotspalette reicht von kurzen Kanaltrips für Familien und kleine Gruppen, die in der Regel nicht länger als drei oder vier Stunden dauern und bei denen die Bordverpflegung im Preis inbegriffen ist, über Tagesausflüge bis hin zu „Ferien auf dem Wasser“- Angeboten, in denen ein Boot für Tage oder Wochen gemietet werden kann. Wer letzteres bucht, muss allerdings durch eine Schulung, bevor dann eigenhändig das Boot in den Sonnenuntergang gesteuert werden kann. Der Schnellkurs macht künftige Freizeit- und Ferienkapitäne mit den Regeln der Wasserwege vertraut, mit der Handhabung des Bootes und mit den Ankerbestimmungen. Vor allem aber wird die Bedienung der unzähligen Schleusen trainiert, die das gemächliche Hingleiten immer wieder mal unterbrechen. Die stellen die größte Herausforderung für Freizeitkapitäne dar. Immer wieder mal schafft es einer, und nicht immer ist es ein unerfahrener, sein Boot in einer Schleusenkammer zu versenken. In der Regel kommen Bootsführer und Passagiere in solchen Situation mit dem Schrecken und einem gehörigen Sachschaden davon. Sehr gelegentlich allerdings gibt’s auch Schwerverletzte oder gar Tote. Kein Wunder, dass Bootsvermieter bei der Schulung nicht mit sich spaßen lassen und auch schon mal Kunden ablehnen, die während der Schulung keine gute Figur gemacht haben.

Mein Käptn scheint ganz zufrieden mit mir zu sein. Über Meilen geht’s jetzt einfach nur geradeaus, und so lässt er mich zum ersten Mal allein am Steuer um sich in der Kombüse mit Kaffee zu versorgen. Eine Viertelstunde später steht er wieder neben mir, erzählt von seiner Liebe für die Kanäle, von der Faszination des Lebens auf dem Wasser, der er voll und ganz erlegen ist. Und auch von den waghalsigen Touren, die Narrowboat-Kapitäne immer wieder mal unternehmen. Er kenne einige, erzählt er, die in ihren Kanalbooten den großen Kanal, den zwischen England und dem Kontinent, überquert haben und seitdem die Flüsse und Kanäle Europas entlang schippern. Er sagt das mit einem abwesenden, gedankenverlorenen Blick. Will er auch? „Vielleicht“, sagt er, „vielleicht fahre ich einfach eines Tages mal los und halte einfach nicht mehr an.“

Für mich und meine Freunde endet der Trip wenig später. Es war sicherlich nicht mein letzter!

Edgar Klüsener

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