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Ein kleines bisschen Horrorschau: Mit den Toten Hosen in Litauen…

In den späten Achtzigern fegte ein Sturm durch Europa, der alte Gewissheiten über den Haufen warf und Systeme zerbröckeln ließ. Der Eiserne Vorhang, seit Kriegsende die beinahe unüberwindliche Barriere im Herzen Europas, rostete rapide und die Löcher in ihm wurden immer größer, bis er schließlich mit dem Berliner Mauerfall endgültig in Fetzen riss. Eine willkommene Folge war die Öffnung des bis dahin beinahe hermetisch abgeschlossenen Osten Europas für westliche Popkultur – und damit für deutsche Bands. Im September 1988 reiste ich mit den Toten Hosen in die Sowjetrepublik Litauen, wo die Düsseldorfer für das Lituanika-Festival gebucht worden waren. Das Festival stand ganz im Zeichen des sich immer offener präsentierenden litauischen Nationalismus, der sich alle Freiheiten nahm, die ihm Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestroika erlaubte. Lituanika vermittelte eine erste Ahnung davon, dass das Überleben der UdSSR selbst auf dem Spiel stand, dass die zumindest teilweise Auflösung der Union eine zunehmend realistische Option wurde. Diese Reise war meine zweite in die UdSSR, weitere sollten folgen und werden als weitere Zeitgeschichten in Kürze ebenfalls hier veröffentlicht. Doch zunächst einmal stehen Vilnius und Kaunas auf dem Programm. Außerdem die heute leider völlig zu Unrecht vergessene Band Blittzz aus Erfurt, die damals noch unter ihrem alten Namen Prinzz auftrat. Ach ja, zuerst veröffentlicht wurde diese Story in der Oktober Ausgabe des Metal Hammer.

Nach Russland, so hieß es, rolle der Zug mit den Toten Hosen und der Band Ülo an Bord. Von Düsseldorf über Duisburg und quer durch die DDR bis zum Ostberliner Hauptbahnhof – erste Stationen einer Reise, die streckenweise einer konzertierten Vernichtungsaktion für Dosenbier (reichlich vorhanden) und andere Alkoholika glich. Nur war nicht Russland das Ziel, sondern die Sowjetrepublik Litauen, von Stalin im Zweiten Weltkrieg gewaltsam in die Union eingegliedert. Ab Berlin sollten wir einen eigenen Waggon haben, so hatte es geheißen, einen Liegewagen noch dazu. Bis Berlin wurde daher auch kaum geschlafen, stattdessen gegenseitiges Beschnuppern und Kennenlernen.

Beginnen wir also mit Ülo, den „duften Typen aus dem Ruhrgebeat…“

Sänger, Texter, Manager und Organisator Klaus Üdingslohmann (verstorben 2021), kurz Ülo genannt, weiß schon, welches Image auf seine Band am besten passt. Duisburg, Stahl, Kohle und Schimanski … Ruhrpott in Rheinkultur. Als Ruhrgebeat-Band hat sich Ülo in der Vergangenheit bereits solidarisch mit der Region gezeigt. Die Band eröffnete im Februar dieses Jahres das Duisburger ‚AufruhrFestival‘, eine Solidaritätsveranstaltung für die Rheinhausener Stahlwerker, bei auch die Toten Hosen mit von der Partie gewesen waren. Außerdem dabei war Ülos lokaler Konkurrent Peter Bursch mitsamt seiner Bröselmaschine. Mit Ülo hatte, nebenbei bemerkt, alles angefangen.

Vorhang zu und Zwischenspiel

Im Mai 1988 hatte es Ülo erstmals nach Vilnius, Hauptstadt der Sowjet-Republik Litauen und Partnerstadt Duisburgs verschlagen. Auf Einladung der Litauer übrigens, die die Band vorher in Duisburg live begutachtet hatten. Vor gut 25.000 Leuten hatten Ülo aufgespielt und zu gefallen gewusst. So war die Einladung nur folgerichtig. Als zweiten Vertreter schickte die Stadt Duisburg noch das musikalische Aushängeschild Nr. 1 Peter Bursch und’ seine Bröselmaschine auf die Reise – allerdings auf getrenntem Transportweg. Mit Ülo fuhren dagegen die Toten Hosen, deren Vinylerzeugnisse die Litauer unbedingt live umgesetzt erleben wollten. Soweit die Vorgeschichte.

Vorhang auf zum zweiten Akt….

Berlin, Hauptstadt der DDR, also Ost. „Endstation, alles aussteigen!“ Fenster und Türen auf und das Gepäck in Rekordgeschwindigkeit auf den Bahnsteig befördert. „Ähhh, hallo, ähhh…das ist der falsche Bahnhof, ähhh, wir müssen noch’n bisschen weiter. Und der Zug fährt gleich wieder los!

Waaaaaassss???

Der Zeitrekord vom Ausladen wurde beim Wiedereinladen gebrochen. Eine kurze Zeit später dann doch endlich die Ankunft auf dem Hauptbahnhof Berlin (Ost), die vorläufige Endstation. Gute zwei Stunden Aufenthalt und die Frage, wohin mit dem ganzen Gepäck???

Die DDR- Bahnsteigbeamten boten ihren Aufenthaltsraum als Gepäckaufbewahrung an, eine Offerte, die bedenkenlos angenommen wurde. Bedenkenlos? Nun, nicht ganz, schließlich befanden sich unter all der Bagage auch einige Gegenstände von Wert. Vor allem die Paletten Dosenbier seien da genannt, denen denn auch die Hauptsorge galt.

Meinste wirklich, wir können denen unbesorgt dat ganze Bier dalassen?“ Faust, Interim-Mixer der Toten Hosen und die wohlbeleibte gute Seele des Unternehmens, ein wandelndes Warenhaus, das mit allem aufwarten kann (Toilettenpapier? Kein Problem. Aspirin? Grippetabletten? Alles in Fausts Vorräten. Wurst, Eier, Stullen? Faust hat es.) beäugt misstrauisch den Abtransport der Bierpaletten. „Ob wir die wohl noch mal wiedersehen werden?

Soviel vorweg: Wir sollten sie wiedersehen, vollzählig und unbeschädigt. Womit die gute Laune auf der Weiterfahrt gerettet war. Zunächst war jedoch Frühstück in Ost-Berlin angesagt. Also S-Bahn bis zum Alexanderplatz und dann die Suche nach einer frühmorgens bereits geöffneten Lokalität. Die Cafeteria des riesigen Inter Hotels bot sich scheinbar an, erwies sich aber schnell als vergebliche Hoffnung, da der Reisegruppe der Eintritt verwehrt wurde („Haben Sie reserviert? Sind Sie Gäste des Hotels?“). Auch der dezente Hinweis „Wir zahlen in harter Währung, in Westmark“ fruchtete nicht. Gottseidank war auf der anderen Straßenseite noch ein Lokal geöffnet….

Etliche Tassen Kaffee später gings dann weiter Richtung Warschau, sowjetische Grenze und Litauen. Im eigenen Waggon diesmal, ein Liegewagen, ums genauer zu sagen. Zugestiegen waren in diesen außerdem die Westberliner New Waver Boom Operators, die an Trinkfestigkeit und Partymentalität den Punk- und Mainstreamrockern von den Toten Hosen und Ülo in nichts nachstehen sollten. Zur Ost-West-Mixtur wurde die Reisegellschaft schließlich, weil sie den Liegewagen mit einer Abschlussklasse aus der DDR-Stadt Gera teilte.

Vorhang zu und Zwischenspiel…

Lituanika 1988 (Linkziel in litauischer Sprache) war die offizielle Bezeichnung des gut einwöchigen Festivals in der Republik Litauen, zu dem der inzwischen auf einen beachtlichen Umfang angewachsene Tross unterwegs war. Das Lituanika Festival war konzipiert als reines Rockfestival mit Punk-, Thrash-, Heavy Metal – und New Wave-Bands aus den baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen, aus Finnland, den Niederlanden, anderen Teilen der UdSSR und aus West- und Ostdeutschland.

Lituanika stand und steht aber auch für Litauen, für eine erstarkende nationale Bewegung in der nicht ganz freiwilligen Sozialistischen Sowjetrepublik, die in den 30er Jahren dem Hitler-Stalin-Pakt zum Opfer gefallen und völkerrechtswidrig von der Sowjetunion annektiert worden war.

Der Club Lituanika, Veranstalter und Organisator des Festivals, ist eine private Organisation, hervorgegangen aus der Jugendorganisation der KPdSU, der Komsomol, und zugleich stark involviert in die nationale Bewegung. Somit hatte das Festival von Anfang an eine politische Dimension, an der niemand, auch die beteiligten Bands, auf Dauer vorbeikam.

Vorhang auf und weiter im Text…

,,Könne mer n Autojramm ham???

Sächselnde Jungmädchenstimmen zu nachtschlafender Zeit im geschlossenen Abteil?

Als wir euch,“ gemeint sind die Toten Hosen, ,,aufm Bahnhof gesehn ham, da hat’s in der Klasse ne Diskussion gegehm. Die meisten meintn, dass ihr irjendwie nachgemacht ausseht, so Möchtejern-Panx und so…

Katrin aus Gera ist inzwischen von der Authentizität der Toten Hosen überzeugt, ebenso ihre Schulkameradinnen und -kameraden.

Deutsch-deutsche Diskussionen mit dem Tenor „…bei uns iss dat so und so —- jaaaa, bei uns iss dat jenau so…. Oder auch nicht und ganz anders…“ beherrschen in den folgenden Stunden die Gespräche auf dem Gang. Zumindrest was die männlichen Schüler angeht. Die weiblichen zogen die Atmosphäre des Ülo-Abteils … ähem, lassen wir das.

Die konzertierte ost-westliche Biervernichtungsaktion, von der Flasche Jägermeister mal ganz zu schweigen, nahm ihren unerbittlichen Lauf. Gegen Morgen allerdings herrschte Ruhe im Abteil, unterbrochen nur durch gelegentliche Schnarchtöne. Und durch Legionen von Grenzbeamten, Zöllnern und anderen Offiziellen, die in Fünfminuten-Abständen die Pässe kontrollierten, das Gepäck kontrollierten, die Pässe kontrollierten … von geruhsamem Schlaf konnte schon bald keine Rede mehr sein.

Weiter ging’s nach Vilnius. Dort angekommen, warteten schon Alge auf Ülo und Wita auf die Toten Hosen. Die jungen Damen sprachen flüssig Deutsch, zumindest Alge, und waren als Betreuerinnen und Verantwortliche für das körperliche und geistige Wohl ihrer Schutzbefohlenen wahre Engel – zumindest Alge.

Vorhang zu, Zwischenspiel…

Mindaugas Cerniauskas:

Das letzte große Festival dieser Art hatte 1980 in der georgischen Hauptstadt Tiflis stattgefunden. Danach gab es bis 1986 kein unionsweites Rockfestival mehr, lediglich Jokale oder regionale Veranstaltungen dieser Art wurden von den Behörden mehr oder weniger erlaubt. Als eine Gruppe litauischer Komsomol-Mitglieder 1986 daran ging, das erste Lituanika-Festival zu organisieren, stieß sie schon in der Anfangsphase der Vorbereitungen auf teilweise erbitterten Widerstand im Komsomol und in der Partei. Einige der eingeladenen Bands wurden als anti-sowjetisch eingestuft und ihre Teilnahme am Festival schlicht verboten.

Aha….

Die Veranstalter ließen sich von all dem nicht irritieren und machten einfach weiter. Mit dem Resultat, dass schließlich das ganze Projekt Lituanika zu einem anti-sowjetischen Ereignis erklärt wurde. Es fand trotzdem statt und wurde ein voller Erfolg. Ebenso wie das Nachfolgefestival im Jahre 1987, das allerdings im Vorfeld noch heißer umkämpft war als das 86er Festival und unter anderem zu einem vorübergehenden Ausschluss des Präsidenten des Clubs Lituanika, Mindaugas Cerniauskas, aus der Partei führte.

Cerniauskas: „Der Komsomol hatte rund 800 Unterschriften gegen das Festival und gegen das ZK der litauischen KP gesammelt, welches dem Projekt ursprünglich durchaus wohlwollend gegenüber gestanden hatte. Nach dieser Aktion änderte sich die Einstellung des ZK und die Konservativen ergriffen die Initiative. Ich wurde aus der Partei ausgeschlossen...“

Das Festival fand trotzdem statt, wurde ein noch größerer Erfolg und Mindaugas wieder in die Partei aufgenommen. Der Komsomol jedoch hatte seine Monopolstellung in der Jugendarbeit endgültig verloren, der Club Lituanika, nach wie vor mit Mindaugas als Präsident, arbeitet seitdem selbständig – und das seit Verabschiedung eines neuen Gesetzes in diesem Jahr auch völlig legal.

Vorhang auf zum Höhepunkt….

Das soll unser Hotel sein ???????!!!!”

Ähhhh, jjjaaa…”

Das „Hotel entpuppte sich als riesiger Betonkomplex der Marke „Jugendherberge der schlechtesten Sorte’. Ülo und die Toten Hosen beschlossen: Da kriegt uns keiner rein und kampierten erst einmal vor dem Gebäude, während Wita, Alge, Trini Trimpop und Ülo die Lage peilten. Die ersten Nachrichten aus dem Inneren der Gebäude bestätigten nur den niederschmetternden äußeren Eindruck: „Also, Toiletten gibt’s nur als Gemeinschaftsklos, und Duschen oder Badewannen haben wir überhaupt noch nicht entdecken können.

Laut Vertrag war das Interhotel zugesichert worden. Als dann noch bekannt wurde, dass alle anderen Bands mit ausreichendem Komfort und in Stadtnähe untergebracht worden waren, schlug die Stimmung endgültig um.

Mit dem Bescheid „Entweder ein anderes Hotel oder Fahrkarten Richtung Deutschland !” wurde den Betreuerinnen die Marschrichtung vorgegeben. Und siehe da: Plötzlich gab es doch ein freies Hotel in der Innenstadt, mit Duschen und Toiletten.

Hallo Peter.”

Hallo Jungs..!

Der erste Hotelgast, der uns über den Weg lief, war Ülos Lokalkonkurrent und Gitarrenguru Peter Bursch, der samt Band Bröselmaschine gerade von den Proben aus der nahegelegenen Sporthalle zurückkam.

Der Rest des Tages, wir schreiben übrigens den 14.9.1988, war frei. Duschen, schlafen, Stadtbesichtigung und schließlich ein Besuch in der Sporthalle … jeder tat das, wonach ihm gerade zumute war.

Die Sporthalle hat durchaus amerikanische Ausmaße und faßt, über den Daumen gepeilt, 15.000 Leute,.Die Stimmung war gut in der Halle und gab somit schon einen Vorgeschmack auf das, was die Toten Hosen und Ülo an den folgenden. Tagen erwarten würde. Vor allem Honey B & T-Bones, eine finnische Band, räumten voll ab mit ihrem traditionellen Blues-Rock und brachten das Publikum, einzelne anwesende Soldaten eingeschlossen, streckenweise gar zum Tanzen,

Sieger des Abends sollte dem Vernehmen nach allerdings die DDR-BandPrinzz gewesen sein, die wir selbst erst zwei Tage später auf dem Kaunas-Festival live erleben konnten. Prinzz, gegründet 1981 in Erfurt, waren ursprünglich das DDR-Äquivalent einer NdW-Band mit deutschen Texten, hatten sich aber kurz vor dem Gig in Vilnius endgültig für eine wesentlich härtere Gangart entschieden. Um diesen Schritt nach außen zu dokumentieren, hatten sie sich in Blitzz umbenannt, mussten in Vilnius aber mit neuer Musik noch unter altem Namen auftreten. 

Am nächsten Morgen war für die Toten Hosen Soundcheck angesagt, und damit kam Fausts große Stunde. John Caffery, der eigentliche Toningenieur der Hosen, hatte daheim bleiben müssen, und so musste Faust, ansonsten eigentlich der Fahrer und das wandelnde Warenhaus der Band, einspringen. Zum ersten Mal seit fast drei Jahren saß Faust wieder hinter dem Mischpult der Hosen — und warf erstmal alle Einstellungen über den Haufen.

Zudem kämpfte Faust mit dem ins Mischpult eingebauten Limiter. Über eine gewisse Lautstärke, die natürlich zu leise war, kam er einfach nicht hinaus.

Kann man dat Ding nich einfach außer Gefecht setzen???

Neee, dann würden wir glatt die Boxen durchblasen…

Na und ???

Außerdem passen die Jungs da oben wie die Schießhunde auf auf ihre Anlage!!!“

Scheiße! Dann eben den Gesamtsound ’n bisschen runterfahren!“

Vorhang auf zum vorletzten Akt…

Die nach wie vor illegale litauische Nationalhymne a capella, und Katedra hatten gewonnen. Das Publikum hielt brennende Feuerzeuge in die Höhe, sang lauthals mit und applaudierte anschließend minutenlang. Die litauischen Lokalmatadoren, ansonsten eine reinrassige Thrashband, musikalisch wie technisch top und besser als 90 Prozent aller westlichen Kollegen (sorry Jungs und Mädels, aber leider wahr), zeigten, wo es in Litauen zur Zeit lang geht. Der Zug rollt in Richtung Unabhängigkeit; wo er allerdings enden wird, ist zur Zeit absolut noch nicht klar.

Wesentlich schlechtere Karten hatte an diesem Abend die Leningrader, und damit russische, Band O (Nol) gehabt, die, obwohl ebenfalls verdammt gut, wenn auch eher in der traditionellen Punkecke angesiedelt, vom Publikum ausgesprochen kühl behandelt worden war. Sie waren halt Russen und damit, gleich ob gut oder‘ schlecht, von vornherein unbeliebt.

Nach Katedra und der litauischen Hymne dann die Toten Hosen. Die waren zwar auch nicht litauisch, aber der frühere – und ebenfalls berechtigte – Hass auf alles Deutsche scheint inzwischen in Litauen vergessen zu sein. Spätestens mit „Disco in Moskau“ war die Schlacht um die Gunst des Publikums an allen Fronten gewonnen.

Campino war in Hochform, suchte den Kontakt mit dem Publikum, fand ihn und peitschte es regelrecht auf. Die Ansagen auf Englisch, die Texte deutsch, die Landessprache litauisch: Babylon live in Vilnius. Das heißt, nicht ganz: Eine Sprache verstanden sie alle gleich gut, Rock ’n’ Roll heißt die, und verbreitet ist sie – für alle Kids verständlich – rund um diesen gottverdammten Globus.

Die Hosen waren in Hochform, wenn auch die Pyramide mit dem Absturz des Sängers endete und sich mit einem Male alles auf den Bühnenbrettern wälzte.

Veranstalter und Publikum waren sich einig: Beste Band des Tages waren die Toten Hosen aus Westdeutschland und verliehen der Gruppe einen entsprechenden Preis,

Davon abgesehen, für viele Metaller immer noch nicht selbstverständlich, sind die Toten Hosen, und das haben sie in Vilnius nachdrücklich unter Beweis gestellt, tatsächlich eine Rockband. Sie vereinen in ihrer Musik Elemente traditionellen Punks der 70er Jahre (Sex Pistols, frühe Clash, Sham96, T.V. Smith oder The Damned) und amerikanischen Garage-Rocks mit Heavy-Rock-Einflüssen. Im Gegensatz zum Gros der zeitgenössischen Heavy Metal-Genossen zeigen sich die Hosen allerdings in ihren Texten sehr viel bewusster und reflektieren gelebte Alltagswirklichkeiten. Die neue LP „Ein kleines bisschen Horrorschau“ sei schon aus diesen Gründen wärmstens empfohlen.

Nach dem Gig stand Party auf dem Programm, zu der sich auch Prinzz, die Vertreter des DDR-Metals, angesagt hatten.

Vorhang zu, letztes Zwischenspiel,..

Also, das freut mich ja wirklich. Da sind DDR-Mädchen, die nich auf Bundie-Pässe und Westmark abfahren, sondern sich tatsächlich mal mit unseren eigenen Jungs abgeben. Das is wirklich ungewöhnlich.“

Lutz, Soundengineer der DDR-Band Prinzz, kommt aus dem Staunen nicht mehr raus,

Die Mädchen übrigens waren schon bekannt aus D-Zug-Zeiten und Ülo-Waggons. Losgelöst von Lehrpersonal und Aufsichtspersönchen hatten sie sich zum Festival eingefunden und hingen nun mit den Jungs von Prinzz rum. Bis auf eine, mit der Campino ins Gespräch gekommen war und die dann später, als die Frage nach dem freien Bett aufkam, kameradschaftlich von einem Angehörigen des Ülo-Trosses auf einer unbelegten Matratze untergebracht wurde.

Als DDR-Band hat man es ansonsten tatsächlich schwer, vor allem, wenn man wie Prinzz (Blitzz) Heavy Metal spielt und dann auch noch englische Texte singt.

Es gibt da noch ’n anderes Problem: Bei uns im Osten wollen die Fans nur nachgespielte Sachen von X oder Y aus dem Westen, also internationale ‚Standards. Material von einer DDR-Band? Nee, danke, kein Interesse. Wir spielen aber nur eigenes Material, so dass es ziemlich schwer ist, vom heimischen Publikum überhaupt akzeptiert zu werden.” Inzwischen werden Prinzz in der DDR immer stärker akzeptiert, von den Fans wie von den Medien. Tatsächlich sind sie zur Zeit eine der interessantesten deutschen Metal-Bands (Ost und West) überhaupt, was nicht zuletzt auch ein Verdienst der Sängerin Kerstin ist. Prinzz Gitarrist Flatsch bekam sein Mädchen aus der DDR mit ins Bett, allerdings : „Ich muss wohl irgendwie zu besoffen gewesen sein, gelaufen ist da jedenfalls nix.“

Gelaufen ist übrigens auch bei den Toten Hosen nix, obwohl Kiki und Bollock (Tourneeleiter und Chefroadie) häufiger mal die Anfrage „Ficken???“ starteten…

Dafür floss, trotz Prohibition und dank Schwarzmarkt, der Hochprozentige in Strömen.

Vorhang auf zum Finale

Die Party lief im Studentenheim von Vilnius, genauer gesagt in den Räumlichkeiten, die der Club Lituanika mit Videoanlage, und zwei Fernsehern ausgestattet hatte, über die die Konzerte des Abends noch einmal flimmerten. Zum Inventar gehörte außerdem eine sehr guten Discotheken-Anlage. Das Ganze ähnelte einem typisch westlichen Club, zumal auch das gesamte Equipment aus westlichen bzw. fernöstlichen Markenfabriken stammte.

Kaunas, die zweite Stadt, in der die Toten Hosen auf die Bühne sollten, ist nach Vilnius die bedeutendste Metropole Litauens, war zeitweise Hauptstadt Litauens und ist heute ein wichtiges kulturelles, wirtschaftliches und industrielles Zentrum der Sowjetrepublik. Knapp 100 Kilometer legen zwischen den beiden Metropolen des baltischen Staates. In Kaunas fand eine Nebenveranstaltung der Lituanika ’88 statt, die ebenso ausverkauft war wie das Hauptprogramm in Vilnius.

Entsprechend tot waren nach dieser Party denn auch einige Mitreisende am nächsten Morgen, als es hieß: Der Bus nach Kaunas wartet! Mit beträchtlicher Verspätung ging es auf die Autobahn, nicht allzuweit, denn nach etwa 50 Kilometern strandete der Bus samt Besatzung irgendwo im litauischen Nirgendwo. Motor überhitzt, Kühlwasser weg, das klang nach Kühlerleck. So war es tatsächlich. Die große Zeit der Improvisation begann. Während einige Mitglieder der Reisegruppe ihr Heil im Autostopp suchten, lagerten andere friedlich am Straßenrand. Der Fahrer begab sich derweil samt Kanister in die umliegenden Felder und suchte eine Wasserquelle.

Irgendwann ging’s tatsächlich weiter. In der Sporthalle Kaunas eingetroffen gab’s ein bemerkenswertes Bild zu sehen: Die Lichttraverse war auf die Bühne gekracht. Was nicht weiter verwunderte, wenn man genauer hinsah, Die Befestigungen waren offensichtlich dem Gewicht der Traverse nicht gewachsen gewesen. Dennoch sollte sie wieder hochgezogen werden – was allerdings auf erbitterten Widerstand aller anwesenden Drummer stieß. Die Traverse nämlich hing genau über dem Stuhl des Schlagzeugers. Die Traverse blieb unten und das Festival nahm seinen Lauf. Die Boom Operators (West Berlin) traten auf und hinterließen einen phantastischen Eindruck. Die Band ist unbedingt sehenswert – wenn man eine interessante Mischung aus New Wave und Rock zu schätzen weiß. Ähnlich gilt für die niederländische Band Kadaverbak, die nach ihnen dran waren. Dann schlug die Stunde für Prinzz. Obwohl Sängerin Kerstin stark erkältet auf die Bühne kletterte, legten die Ostmetaller einen brillanten Gig hin. Musikalisch ist Prinzz irgendwo zwischen Metallica und Alice Cooper (dessen ‚School’s Out’ sie coverten) anzusiedeln. Ihren ganz eigenen Charakter verdankt die Musik der Band aber der außergewöhnlichen Stimme und Bühnenpräsenz von Frontfrau Kerstin Radtke. Zu dem Zeitpunkt hatte die Band sich bereits von Prinzz zu Blitzz umbenannt, trat aber noch unter dem alten Namen auf.

Von Prinzz zu den Toten Hosen. Die hatten zunächst mal die Roadcrew in die Stadt jagen müssen: „Jungs, wir brauchen BIER!“

Die Jungs waren Gottseidank rechtzeitig zum Auftritt wieder zurück — mit Bier.

Auf der Bühne schließlich wieder Hosen in Bestform, eine beeindruckende Liveband, die vor Publikum alle Register zieht und dementsprechend auch an diesem Tag die Halle in einen Hexenkessel verwandelte, nicht zuletzt weil sie mit Campino einen Frontmann mit enormem Charisma ihaben, dem sich live kaum jemand entziehen kann; dem er dann selbst allerdings auch fast zum Opfer fiel, als er sich in die Menge begab. Kiki und Bollock hatten einige Mühe, ihn aus einer Traube von Kids zu befreien und ihn wieder heil auf die Bühne zu bringen – mit nacktem Oberkörper, das T-Shirt war ihm vom Leibe gezogen worden. Nach dem Auftritt ging’s zurück nach Vilnius und noch einmal zur Party, wo es in etwa so abging wie am Vorabend.

Vorhang zu, Saallichter an…

Wo sind denn …???

Bier holen !

Aber der Zug…

Die schaffen das schon noch rechtzeitig…

Sie schafften es rechtzeitig, beladen mit einigen Paletten feinsten Dosenbiers.

Sollten wir nicht ein eigenes Abteil haben?

Ja.“

Wat machen denn dann die ganzen Leute hier drin???

Kein eigenes Abteil. Der Schaffner tat sein bestes, alle halbwegs unterzubringen. Er schaffte es nicht ganz. Die Rückfahrt also in einer gemischten russisch-deutschen Abteilbesetzung, die zum guten Ende zu einigen sehr interessanten Kontakten und Gesprächen führte. Wen kümmerte es da noch, dass von Warschau an das eigene Abteil für die Toten Hosen völlig leer am Zug hing, während wir uns im vollgepackten Liegewagen drängelten, den Schaffner aus seiner Kabine warfen und diese zur Spielhölle umfunktionierten?

Ärgerlich war es allerdings doch etwas, als wir in Ost-Berlin, inzwischen völlig übermüdet und kaputt, endlich von dem eigens für uns angehängten Kurswagen erfuhren…

C 2022 MuzikQuest/ Edgar Klüsener, Erstveröffentlichung in Metal Hammer 10/1988

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Rockmusik in Israel: Auf der Suche nach einer neuen Identität

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hatte ich den Journalismus für einige Jahre beinahe völlig  an den Nagel gehängt und stattdessen an der University of Manchester ein BA(Hons)-Studium in Contemporary Middle Eastern Studies begonnen. Beim BA sollte es nicht bleiben, es folgte der MA und schließlich der PhD. Das Interesse an populärer Musik hatte ich natürlich nicht verloren (was eh unmöglich ist, wenn man in einer Stadt wie Manchester lebt), aber das Studium schärfte den Blick für popkulturelle Entwicklungen in Regionen am Rande oder außerhalb der Grenzen westlicher kultureller, ökonomischer und kultureller Dominanz. Genauer angeschaut hatte ich mir damals Entwicklungen in Iran, der Türkei und Israel. Die erste Zeitgeschichte hat Rockmusik in Israel zum Thema. 

Maor Appelbaum ist der Sänger, Hauptkomponist und Bassist einer Rockband. Die Band heißt Sleepless, und sie ist aus Israel. Das erkläre einiges, meint Maor Appelbaum, vor allem die Intensität und Aggressivität von Sleepless. Denn Israel sei ein schnelles Land, ein Land, in dem musikalische Stile und Trends sich in rasantem Tempo verändern. Ein Land unter Druck, in dem keine Zeit sei für Beschaulichkeit und für Langeweile. In dem Interview mit einem amerikanischen Fanzine führt er weiter aus:

„Leben in Israel ist ein Leben im Hier und Jetzt, wir können nichts auf morgen verschieben. Dieses Land ist großartig für aggressive Musik, weil es unter ständigem Druck ist, umgeben von Feinden. Und manchmal sind wir selbst unsere größten Feinde.“

 

Maor Appelbaum

Rockmusik ist seit den späten Sechzigern die dominante Musikform Israels. International erfolgreicher mag schräger Pop á la Dana International sein, oder auch israelischer Goa Trance, aber Rock, und seit kurzem HipHop, sind die Musikformen, die den israelischen Alltag prägen. Was überrascht und die zionistischen Väter des Staates wahrscheinlich in ihren Gräbern rotieren lässt. Denn die hatten eine andere Musikkultur im Sinne gehabt, eine, die nicht an englischen und amerikanischen Klängen ausgerichtet, sondern ganz eindeutig und unverkennbar jüdisch, zionistisch, israelisch sein sollte. Das Problem, dass die Gründungsväter hatten, war ein Identitätsproblem. Die Bevölkerung des künftigen Staates Israel war schon vor der Staatsgründung extrem heterogen. Die Sephardim, europäische Juden, hatten mit den Ashkenazim, den ‚orientalischen‘ Juden, die aus dem Iran, aus Marokko, Tunesien und anderen Gegenden des Nahen und Mittleren Ostens nach Palästina strömten, nur wenige historische, kulturelle und sprachliche Gemeinsamkeiten. Eine umfassende kulturelle, nationale und politische Identität musste buchstäblich erfunden werden.

Rockmusik eingemeindet

Die Zionisten versuchten genau das. Sie propagierten Hebräisch als die offizielle Landessprache, und sie machten sich daran, eine Folklore-Tradition zu begründen, die unter dem Namen „Lieder des Landes Israel“ (Shirey Eretz Yisrael) bekannt werden sollte. Das Ziel war es, die Fragmente unterschiedlichster Kulturen durch eine israelische Kultur zu ersetzen, die durch eine gemeinsame Sprache, Literatur und Volksmusik definiert werden konnte. Seinen Höhepunkt erlebte dieses Unterfangen in den Dreißigern und Vierzigern des vorigen Jahrhunderts, den entscheidenden beiden Jahrzehnten vor der Staatsgründung. Die Ideologie der ‚Nation im Werden‘ schuf den Mythos einer Pionier-Jugend, die das Land der Vorväter zurückforderte. Viele der Lieder beschrieben daher in romantischer Verklärung die neuen, geheimnisvollen und mythischen Landschaften, in denen die Neueinwanderer nun lebten.

Hand in Hand mit der Schaffung einer neuen, israelischen Identität ging die bewusste Ablehnung westlicher Kultur als fremdartig und potenziell feindlich. Als dann in den späten Fünfzigern des vergangenen Jahrhunderts der Rock’n’Roll aus Amerika nach Israel überschwappte, standen die Zionisten vor einem erheblichen Problem. Rock’n’Roll war westlich, amerikanisch, global und extrem populär auch unter Israels Jugend – das genaue Gegenteil also von der eingeborenen Kultur, der israelischen Identität, die die Gründungsväter zu etablieren hofften. Das Dilemma wurde gelöst, indem Rock’n’Roll schlicht eingemeindet wurde. Rock mit hebräischen Texten musste es sein, mit Inhalten, die Bezug hatten zur israelischen, jüdischen, zionistischen Realität des Landes. Der Ansatz ist auch von anderen Ländern her bekannt, die um ihre kulturelle Identität bangten. Frankreich kämpft noch immer gegen die Windmühlen anglo-amerikanischen Popimperialismus und quotiert seine Radioprogramme entsprechend. In Israel war die Sache auch deshalb brisant, weil die ersten, die zum Rock’n’Roll konvertierten, Kids vom Rande der Gesellschaft waren, Jugendliche aus den Siedlungen und Vorstädten der Mizrahim, die sich in der von den europäischen Juden dominierten Gesellschaft zurückgesetzt fühlten. Aus ihrer Mitte kamen Bands wie Ha-shmeni ve-haraz-im oder The Goldfingers, zu deren Konzerten beachtlichen Zuschauermengen, oft zwei- oder dreitausend Fans, strömten. Diese Beatgruppen folgten weitgehend den englischen und amerikanischen Vorbildern und sangen auch in englischer Sprache. Die Etablierung von Randkulturen im neuen Staate Israel war genau das, was die zionistischen Gründungsväter möglichst vermeiden wollten. Die Folge war eine ausgedehnte Kampagne gegen die als vulgär und zwielichtig bezeichneten Elemente, deren Bindung zum nationalen Kollektiv in Frage gestellt wurde.


Israelischer Neonazi-Rock

Anders sah die Sache ein wenig später aus, als israelische Musiker begannen, Rockmusik mit hebräischen Texten zu schreiben. Musiker wie Arik Einstein, Shmulik Kraus, Shalom Hanoch oder die Band Kaveret israelisierten Rock in den Siebzigern und verankerten ihn im Mainstream des israelischen Musiklebens, aus dem er seitdem nicht mehr wegzudenken ist. Aber auch heute noch existieren verschiedene Rockkulturen mehr zwie- als einträchtig nebeneinander. Vor allem die russischen Einwanderer haben sich eine ganz eigene Rockkultur geschaffen, die eher an russischen Heavy Metal-Bands orientiert ist und sich deutlich vom Mainstream abgrenzt. Russische Einwanderer sind es auch, die Israel das nur vordergründige Paradoxon einer antisemitischen Neonazi-Rockszene beschert haben, ein Phänomen, das mittlerweile auch die Knesset (das israelische Parlament) beschäftigt hat. Seit 1975 hat Israel weit über eine Million Einwanderer aus den Staaten der früheren Sowjetunion aufgenommen, die meisten davon Juden. Doch unter ihnen eben auch 200 – 300.000 ökonomische Migranten, so die Schätzungen des Innenministeriums, die sich lediglich als Juden ausgegeben haben, und von denen eine Minderheit, obwohl Bürger Israels, antisemitisches Gedankengut offen äußert. Die musikalischen Vorbilder für die israeli-russischen Neonazis sind vor allem russische Rechtsaußen-Bands wie die dem neofaschistischen Politiker Schirinowski nahe stehenden Metal Korrosija, aber auch britische Blood & Honor-Kapellen wie Skrewdriver und neuerdings deutsche Nazikapellen.


Auf dem Weg zur Nahost-Normalität – Orphaned Land

By © Markus Felix (talk to me) – Own work, CC BY-SA 3.0, 

„Israel ist ein Land der Extreme“, sagt Kobi Farhi. Kobi ist Sänger einer Band namens Orphaned Land. Orphaned Land ist eine sehr bekannte Rockgruppe in Israel und allmählich auch in Europa, vor allem in Deutschland.

„Israel ist ein Schmelztopf der Kulturen. Diese unterschiedlichsten Kulturen, die den Staat Israel bilden, hatten in der Vergangenheit oft kaum etwas gemein. Keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Kultur. Eine echte multikulturelle Gesellschaft, so extrem wie vielleicht nirgendwo sonst in der Welt. Diese Vielseitigkeit ist spannend und kann sehr fruchtbar sein, wenn man sich ihr öffnet.“

Seine Band versucht diese Öffnung, will bewusst raus aus den Randgruppen-Nischen ebenso wie aus der Mainstream-Zwangsjacke. Sie bezieht nahöstliche Elemente in ihre Musik ein, singt in Arabisch, Hebräisch, Latein oder Englisch, mischt griechische Musik mit europäischem Heavy Metal, arabischen Melodien oder westlicher Klassik. Orphaned Land ist musikalisch ziemlich einzigartig. Außerdem überschreitet die Gruppe Grenzen, die gerade in diesen Tagen eigentlich unüberwindbar scheinen. Und das gelingt zu einem erstaunlichen Grad. Orphaned Land dürfte die einzige israelische Rockband sein, die auch eine breite Fanbasis in den arabischen Ländern hat. Zu einem Konzert, das die Band in der Türkei gab und das für das israelische Fernsehen dokumentiert wurde, kamen nicht nur Fans aus der Türkei selbst, sondern auch aus den arabischen Ländern, vor allem aus Syrien.

Überraschend? Nicht wirklich, findet Kobi. Denn Orphaned Land sei mehr als nur eine israelische Rockband. Orphaned Land, erläutert er, „…reflektiert eine übergeordnete kulturelle Identität, eine Nahost-Identität, in der sich arabische Jugendliche ebenso wiedererkennen wie junge Israelis. Der Nahe Osten ist, seit jeher ein gewaltiger Schmelztigel und Israel das Heilige Land für die drei großen monotheistischen Weltreligionen. Die Band selbst zeigt den Facettenreichtum Israels, der Region. Unsere Musiker stammen aus dem Irak, aus dem Jemen, aus Kenya…“.

Orphaned Land propagiert eine übergreifende moderne Nahost-Rock-Kultur, die Israels mühsam entstandenen kulturellen Identitäten ebenso reflektiert wie die der arabischen Nachbarn von Syrien bis Ägypten. Augenfällig wurde der besondere Stellenwert der Band im Nahen Osten während der jüngsten Auseinandersetzung zwischen Hisbollah und Israel, als sich aus den bombardierten Städten Libanons junge Orphaned Land-Fans im Bandforum meldeten und sich mit israelischen, türkischen und westlichen Besuchern über den Wahnsinn dieses Konflikts austauschten.

Inzwischen ist die Band Vorreiter geworden in einer vorerst noch zaghaften inner-israelischen Debatte um den eigenen Standort in einer Region, die endgültig auch zur kulturellen Heimat wird.

© 2006 / 2022 Edgar Klüsener/MuzikQuest
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Wacken 2021 abgesagt

Und wieder nix mit Metal auf der Kuhwiese. Auch im zweiten Jahr der Covid-Epidemie wird es im Mekka europäischer Metal Fans abgesehen vom Blöken des lokalen Rindviehs keine lauten Töne geben. Während das Virus munter rund um den Globus mutiert und Länder und Regionen auf sich selbst beschränkt, bleibt die Livemusik erneut auf der Strecke. Mit Trauer im Herzen haben die Macher des Wacken Open Air daher jetzt auf der Website des Festivals verkündet, dass das Open Air – immerhin eins der größten und wichtigsten Metal-Festivals der Welt – auf das Jahr 2022 verschoben wird. Nicht nur für Wackenfans ist dies eine ganz schlechte Nachricht, sondern auch für all diejenigen, deren täglich Brot entscheidend von Liveveranstaltungen abhängt. Ob Bühnentechniker, Merchandiser, Ordner, Roadcrews oder Musiker – um nur einige zu nennen , sie alle sind damit in ihrer Existenz getroffen. Bleibt nur die Hoffnung, dass fortgesetzte Massenimpfungen bald zum Erreichen der Herden Immunität und damit endgültig zum Wiederaufleben des längst schmerzlich vermissten Livesektors führen. Dann wird vom 04.08. – 06.08.2022 auf den Wiesen um Wacken wieder des diesjährigen Muhens und Blökens wieder ein vieltausendstimmiges WACKÖÖÖÖÖN zu hören sein.

Um die Erinnerung wachzuhalten, hier ein Blick auf die guten alten Prä-Covid-Zeiten:

https://www.youtube.com/watch?v=HWH7tjm5IOI
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Dirkschneider & The Old Gang: Alte Helden leben länger

Man könnte es eine Accept-Reunion ohne Wolf Hoffmann nennen. Muss man aber nicht, denn was sich da aus der Heavy Metal-Geschichte in die Gegenwart stiehlt, erinnert personell zwar mehr als nur ein wenig an glorreiche Solinger Zeiten, ist aber letztlich doch klar ein anders gelagertes Projekt. Rund um Udo Dirkschneider, so unverwüstlich wie schon seit Dekaden und mit bewundernswerter Sturheit nach wie vor eine relevante Reibeisenstimme, hat sich mit den früheren Accept-Kumpanen Stefan Kaufmann und Peter Baltes, seinem trommelnden Sohn Sven und dem früheren U.D.O.- Gitarristen Matthias ‚Don‘ Dieth’ sowie Sängerin Manuela Bibert eine außerordentliche Truppe gesammelt. Die Besetzung allein ist schon vielversprechend und deutet ein Projekt an, dessen wahre Größenordnung in Zukunft wohl noch für einige Überraschungen gut sein wird. Erste Hinweise auf die fantastische musikalische Qualität offenbaren die beiden unter Lockdown-Bedingungen produzierten Videos für ‚Arising (Face of A Stranger)‘ und ‚Where Angels Fly‘, die derzeit auf Youtube für Furore sorgen. Weitere Nachrichten zum Projekt folgen in Kürze.

Youtube Video ‚Face Of A Stranger‘):

Youtube Video ‚Where Angels Fly‘

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Unerwünschter Rettungseinsatz in Schottland: Metal Fans mit Selbstmord-Kult verwechselt

Eigentlich sollte es ein Campingausflug werden, mit Bier, Gegrilltem und vor allem guter Musik. Eigentlich. Denn stattdessen erlebte eine kleine Gruppe von eingefleischten Metalfans einen Tag, von dem sie noch ihren Urenkeln erzählen können. Der Lehrer David Henderson, Universitäts-Dozent Panadiotis Filis und der Ingenieur Ross Anderson wollten sich zusammen mit ihren Kindern, der zehnjährigen Natalia Teo, Sohnemann Jude Henderson und dem siebenjährigen Andrew Vassiliadis sowie einem Hund namens Jazz auf einer ebenso winzigen wie historischen Insel im Loch Leven in einem geräumigen Tipi einrichten. Doch als sie sich in einem Boot auf den Weg zur Insel machten, erspähte sie ein zufällig am Ufer vorbeigehender Spaziergänger. Der Anblick der ganz in Schwarz gekleideten Gruppe in Ihrem Boot verleitete ihn, seine ganz eigenen Schlüsse zu ziehen: Schwarze Kleidung, lange Haare, Bierflaschen – die Kombination deutete für ihn ganz klar auf einen Selbstmordkult hin, der auf der Insel zur letzten Tat schreiten wollte. Der Mann verlor keine Zeit und alarmierte umgehend die Polizei, die Feuerwehr und die örtlichen Rettungsdienste und leitete so eine der größten Rettungsaktionen in der Geschichte der schottischen Region ein. Kurze Zeit nach dem Anruf zog bereits der erste Rettungshubschrauber über der Insel seine Kreise. Wenig später trafen dann mit heulenden Sirenen Polizeiautos, Ambulanzen und Feuerwehr-Mannschaften ein, während die ersten Boote aus den umliegenden Ortschaften sich auf den Weg zur Insel machten. Die Polizei nahm sich zunächst die beiden PKW der Gruppe vor, schlug die Seitenfenster ein und durchsuchte das Innere der Fahrzeuge nach Abschiedsbriefen. Sobald die Boote an der Insel anlandeten, machten sich die Besatzungen daran, die verdatterten Metalfans zu „retten“.

David Henderson, im Nebenberuf Sänger der Death Metal-Band Nyctopia beschrieb später einem BBC-Reporter das Geschehen aus seiner Sicht: „Wir sind einfach nur eine Gruppe von Freunden, die gerne in der freien Natur zelten, Bier trinken und Heavy Metal hören. Wir hatten unsere Autos gegenüber dem Lochleven Castle abgestellt und eine kurze Sicherheitsbelehrung bekommen, bevor wir dann zur Insel ruderten. Dort angekommen, informierte uns dann allerdings eine Mitarbeiterin von Historic Scotland, dass auf der Insel Camping leider verboten sei. Also ruderten wir weiter zur kleineren Insel und bauten unser Tipi dort auf. Wir saßen dann später ums Feuer und erzählten uns Geistergeschichten. Irgendwann fielen uns diese merkwürdigen Lichter auf, die sich der Insel von allen Seiten näherten. Der Hund wurde unruhig begann zu bellen. Es war wirklich surreal, wir hatten keine Ahnung, was los war. Es war wie eine Szene aus einem Horrorfilm oder aus den X-Akten, wo die Außerirdischen kommen und dich entführen.“

Die Gruppe entschloss sich zu handeln. „Wer oder was auch immer da auf uns zusteuerte, wir wussten nicht, ob die freundlich oder feindlich waren. Also löschten wir schnell das Feuer. Unsere größte Sorge galt der Sicherheit der Kinder.“

Es dauerte eine Weile, bis die Camper begriffen, dass sie nicht Opfer einer feindlichen Invasion, sondern einer großangelegten Rettungsaktion waren. Erst der Anblick von Rettungssanitätern in voller Montur überzeugte sie schließlich. Die Polizei, die den Verdacht hegte, dass hier möglicherweise auch eine Kindesentführung vorliegen könne, blieb nach wie vor misstrauisch und unterzog die Erwachsenen einer längeren Befragung. Am Ende kamen aber sowohl die Polizisten als auch die Rettungskräfte zu der Überzeugung, dass die Camper tatsächlich nur Camper waren und verließen die Insel wieder.

Apropos Nyctopia, hier einige Musikbeispiele:

 

 

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Iran Musik Zeitgeschichten

Farzad Golpayegani – Ausnahmegitarrist aus Iran

Zum ersten Mal erweckte Farzad Golpayegani außerhalb der iranischen Hauptstadt Teheran Aufmerksamkeit, als er 2007 mit seiner Band, zu der damals noch der englische Drummer Eddie Wastnidge gehörte, auf dem Istanbuler Barisa-Festival aufspielte. Vor allem seine virtuose Gitarrenarbeit überzeugte schon damals die Zuhörer, eneso wie die oft avantgardistisch anmutende Verquickung iranischer Musik mit westlichen Heavy Metal- und Industrial-Elementen. Die Musik von Farzad Golpayeganis Band ließ sich kaum in gängige Schubladen pressen, zumal Golpayegani nie die Lust am Experiment und an der bewussten Überschreitung von Genregrenzen verlor. Seine ersten Alben veröffentlichte er an der staatlichen Zensur vorbei in der Islamischen Republik Iran und vertrieb sie digital übers Internet.

Weil die Arbeitsbedingungen für Rockmusiker in Iran sich unter der Präsidentschaft Ahmadinejads weiter verschlechterten – Auftritte waren unmöglich, legale Veröffentlichungswege für die Musik waren kaum vorhanden -, zog der Sohn eines bekannten iranischen Malers schließlich um nach Istanbul und von dort dann nach Los Angeles, wo er seitdem lebt und arbeitet. Unter seinem eigenen Namen hat er mittlerweile sieben Alben veröffentlicht, die die ganze Bandbreite seiner Musik dokumentieren. Er selbst  bezeichnet die als progressiven Metal und Fusion. Die Alben tragen keine Titel, sondern sind schlicht ‚One‘, ‚Two‘ und so fort benannt. ‚Seven‘ erschien vor einigen Wochen und dokumentiert einmal mehr die fantastischen technischen Fähigkeiten und das kompositorische Talent Golpayeganis, der in LA nach viel beachteten Auftritten im House of Blues viele Fans vor allen unter den dortigen Gitarristen gewonnen hat. Sein Markenzeichen ist übrigens eine speziell für ihn angefertigte siebensaitige Gitarre.

Golpayegani tritt zudem in die Fußstapfen seines Vaters, seine Gemälde haben längst Interesse von Sammlern und Galeristen auch außerhalb seiner kalifornischen Wahlheimat geweckt. Das Video ist eine Auskopplung aus deinem aktuellen Album ‚Seven‘.

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