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Jim Marshall: Ein Trommler, der Gitarristen das Lärmen lehrte

Diese Zeitgeschichte ist ganz dem Großvater des verzerrten Lärms gewidmet. Im Herbst 2004 traf ich Jim Marshall (verstorben im April 2021) in seinem Büro in Milton Keynes. Der geniale Tüftler, dessen Verstärker und Lautsprecher dem Rock’n’Roll seinen dreckigen Klang gaben und geben, ließ sich eigentlich ungern interviewen, und noch weniger mochte er Autogramme geben. Doch in diesem Herbst machte er eine Ausnahme von beidem. Ungefragt bot er vor dem Interview gar sein Autogramm an, wegen dem Doktor vor dem Jim. „Ist schon ein Ding„, erklärte er, „ich bin in meinem Leben nie zur Schule gegangen, und jetzt bin ich trotzdem ein Doktor.“ Der Titel ist ehrenhalber, vom College Of Music einer renommierten amerikanischen Universität verliehen. Nach dem Marshall schrieb er noch OBE und deutete dann extra mit dem Finger drauf: „Einen OBE habe ich jetzt auch, Anfang des Jahres verliehen bekommen. Von der Königin!“ Jim Marshall war also bester Laune und bereit, ein wenig über sich und sein Lebenswerk zu plaudern. Geschichten, die auf diesem Interview basierten, erschienen im November im Spiegel und einen Monat darauf im Rock Hard. Nachfolgend die Version, die das Rock Hard abdruckte.

Milton Keynes ist ein postmodernes Scheusal, ein städtebaulicher Sündenfall der 70er. Glas, Beton, stumpfsinnige rostbraune Fassaden und ausufernde Asphaltbänder prägen das graue, lebensfeindliche Bild der Kunststadt, von Reißbrett-Planern im nahen London lieblos ins Grüne geklotzt. Seelenlose Einkaufszentren, triste Pubs und anonyme Bürogebäude machen das Bild urbanen Schreckens komplett. Wer das graue Betonlabyrinth der Bochumer Uni kennt, der kann sich leicht ein Bild von Milton Keynes machen.

Die Stadt im Südwesten der britischen Insel ist dennoch eine bedeutende Koordinate im Weltatlas des Rock´n´Roll. Denn ausgerechnet hier befindet sich das Marshall-Verstärker-Werk, Produktionsstätte jener Amps, um die Gitarristen in aller Welt einen Kult betreiben, der fast an religiöse Verehrung grenzt. Und innerhalb des Werks hat Jim Marshall sein Büro.

Das Büro ist der einzige Raum im gesamten Werkkomplex, in dem geraucht werden darf. Die Luft ist geschwängert vom Rauch dicker Havannas. Ein alter Plattenspieler steht auf einem Sideboard, ein Verstärker, einige Schallplatten. Und ein Schlagzeug. Auf dem trommelt Jim Marshall  täglich zwei Stunden herum, um in Form zu bleiben. Denn der Mann, dem der Rock´n´Roll seinen Sound verdankt, die lebende Legende, Gottvater aller Rockgitarristen, ist von Hause aus Schlagzeuger. Die Gitarre hat er in seinen 76 Lebensjahren nie in die Hand genommen.

Kaum zu glauben, aber wahr: Ausgerechnet ein Schlagzeuger ist der Schöpfer jenes dreckigen, enorm druckvollen, immer leicht verzerrt klingenden Sounds, der Marshall-Amps so einmalig macht, der Generationen von Gitarristen geprägt und Marshall zu einer Legende hat werden lassen. Eine quicklebendige Legende zudem. Sein Alter sieht man Jim Marshall nicht an, er wirkt mindestens ein Jahrzehnt jünger. Und ist aktiv wie manch 40jährige nicht mehr.

»Ich bin halt ein Workaholic«, sagt er und meint damit: »Ich arbeite immer noch täglich bis zu zehn Stunden, sieben Tage in der Woche. Ich spiele immer noch in einer Band, die auch regelmäßig auftritt. Ich trommle immer noch ein bis zwei Stunden täglich auf meinem Drumkit.«

Nicht, dass er das wirklich nötig hätte. Denn bevor er der Welt seine Amps bescherte, war er ein gefragter Schlagzeuglehrer, aus dessen Schule einige der größten Rockdrummer hervorgingen. Überhaupt: die Lebensgeschichte des Jim Marshall. Filmreif ist ein Attribut, das oft viel zu voreilig vergeben wird. Reicht´s dann in den meisten Fällen doch nur bestenfalls zu einem C-Movie, wäre in seinem Fall mehr als ausreichend Stoff für einen Hollywood-Klassiker vorhanden.

Knochentuberkulose und Gipskorsett

The Sound of Rock’n’Roll: Marshall Amps. Pic by Photo by Clem Onojeghuo on Unsplash

Geboren wurde er am 29. Juli 1923 in Kensington als Sohn von Beatrice und Jim Marshall. Die Kindheit verlief alles andere als glücklich. Jim erkrankte an Knochentuberkulose und musste den größten Teil seiner Kindheit in ein Gipskorsett eingezwängt verbringen. In regelmäßigen Abständen schnitten die Ärzte den Gips auf, um das Wachstum des Jungen nicht zu behindern, und wickelten ihn dann neu ein. An Schulbesuch war unter diesen Umständen nicht zu denken.

»Meine Eltern waren arm«, erinnert er sich zurück. »Ich verbrachte die meiste Zeit im Krankenhaus. Zu der Zeit wurden Kinder im Krankenhaus noch nicht unterrichtet. An Privatunterricht war überhaupt nicht zu denken. Also wuchs ich ohne jede Schulbildung auf. Nur einige Pfadfinder bemühten sich in dieser Zeit, mir etwas beizubringehttps://zerotodrum.com/micky-waller/n.« Allerdings nicht Lesen, Schreiben oder Rechnen, sondern »...sie lehrten mich, wie man Bastkörbe flechtet. Wenn du jemals einen Bastkorb brauchst«, lacht er, »komm zu mir, ich flechte dir einen perfekten!«

Er war bereits 13, als die Krankheit endlich so weit unter Kontrolle war, dass er endgültig ohne Gipskorsett leben konnte. Prompt schickten die Eltern ihn zur Schule.

»Ich kam wegen meines Alters sofort in die Abschlussklasse. Und verstand natürlich, weil mir jede Vorbildung fehlte, kein Wort von dem, was da im Unterricht erzählt und gesprochen wurde. Wenig später bekam mein Vater einen neuen Job in einem anderen Teil von London. Wir mussten also umziehen. Er wollte für mich dort eine neue Schule finden, was für mich aber überhaupt keinen Sinn machte. Also sagte ich zu ihm: „Wofür soll das gut sein? Ich versteh´ in der Schule eh kein Wort. Kann ich mir nicht stattdessen einen Job suchen?„«

Am Ende ließ der Vater sich breitschlagen und verschaffte Jim eine Stellung als Ladenjunge in dem Geschäft, dessen Manager er war.

Aus dieser von Armut und Krankheit geprägten Kindheit läßt sich leicht erklären, warum Jim Marshall heutzutage massiv für Wohlfahrts-Organisationen spendet und sich auch persönlich stark in Charity-Projekte einbringt. Er ist Mitglied bei den Waterrats, einer erlesenen Gruppe von Showbiz-Größen, die bei der Aufnahme von neuen Mitgliedern strengste Auswahlkriterien anlegt. Der Kreis unterstützt diverse Projekte, fördert karitative Organisationen, die in der Kinder- und Jugendarbeit tätig sind, gibt Gelder für Kinder in der Dritten Welt oder greift einem unabhängigen Theaterprojekt unter die Arme.

»Ich gebe jedes Jahr rund eine halbe Million Pfund – circa 420 Millionen € – für unterprivilegierte und behinderte Kinder«, beziffert er die finanzielle Seite seines Engagements.

Erste Steptänze, ein Job als Sänger und ein Schlagzeug

Der Vater war es, der letztlich seinen Einstieg ins Showbusiness forcierte. Er wollte, dass der Sohnemann Steptanz lernte, in der Hoffnung, dass dieser die immer noch fragilen Knöchel in den Fußgelenken stärke. In der Entertainment-Schule war Jim der einzige Junge unter lauter Mädchen. Was zu einem Problem wurde, als die alljährliche Vorstellung für die Eltern bevorstand.

»Der Lehrer sagte zu mir: „Junge, was soll ich bloß mit dir anfangen?“ Dann hatte er eine Idee: „Du machst den Fred Astaire. Du tanzt ein bisschen und singst einige Nummern.“ Und so lief es dann auch.«

Ein Auftritt mit Folgen. Im Publikum saß nämlich der Großvater eines der Mädchen aus Jims Klasse. Er war Chef einer der beliebtesten Londoner Showbands jener Tage. Nach der Veranstaltung ging er auf Jim zu, gratulierte ihm zu seinem Auftritt und zu seiner Stimme und fragte ihn, ob er Lust habe, mal in seinem Orchester zu singen. Jim sagte zu, stand einige Abende später auf der Bühne, sang zum ersten Mal mit Orchester im Rücken, kam an – und hatte damit einen neuen Job.

Im stolzen Alter von 14 wurde Jim Marshall zum Profimusiker, der fünf oder sechs Abende pro Woche auf der Bühne stand und Swing-Standards sang. Nebenbei begann er, Schlagzeug zu lernen, und entwickelte sich in den folgenden Jahren auch noch zu einem gefragten Drummer.

Dann kam der Krieg. Jim wurde eingezogen und Wartungstechniker bei der Royal Air Force. »In dieser Zeit lernte ich eine Menge über Elektronik, ein Wissen, das sich später noch als sehr nützlich erweisen sollte.«

Nach Kriegsende kehrte er zurück ins Zivilleben und nahm seinen Musikerberuf wieder auf. In den frühen 50ern kam dann die nächste entscheidende Wende:

»Duke Ellington hatte eine Nummer mit dem Titel ´Skin Deep´ veröffentlicht. In Großbritannien war ich der erste, der diesen Song spielte. Was dazu führte, dass plötzlich all diese Youngsters ankamen, die von mir lernen wollten, wie man diesen speziellen Drumbeat spielt. Ich ließ mich schließlich breitschlagen, nahm zwei Schüler an und war selbst überrascht, als ich feststellte, dass ich es liebte, anderen etwas beizubringen. Die Schüler standen bei mir Schlange; es wurden so viele, dass ich schließlich beschloss, den Musikerberuf an den Nagel zu hängen und stattdessen nur noch Schlagzeugstunden zu geben

Er unterrichtete prinzipiell nur Einzelschüler, 65 insgesamt, jedem widmete er eine Stunde. Damit war die Woche weitgehend ausgebucht. Während er von dieser Zeit erzählt, leuchten Jim Marshalls Augen, er nippt immer wieder an seinem schottischen Whisky, schmaucht seine Zigarre und verliert sich in den Erinnerungen.

Ritchie Blackmore und Pete Townshend, Dudley Craven und Ken Bran

Unter seinen Schülern waren etliche, die später in großen Bands spielen sollten. Jimi Hendrix´ Drummer Mitch Mitchell zum Beispiel, Little Richards Taktgeber Micky Waller oder Ritchie Blackmores Schlagzeuger Mick Underwood. Diese jungen Drummer waren es auch, die ihn zum ersten Mal auf eine neue Musikform aufmerksam machten, die Mitte der 50er von Amerika nach Europa überschwappte: den Rock´n´Roll. Anfangs hielt Jim Marshall wenig davon.

»Ich hielt Rock´n´Roll für nichts anderes als eine weitere dieser vergänglichen musikalischen Moden. Heute heiß geliebt, morgen schon vergessen.« Nun grinst er breit, macht eine kleine Pause und fügt dann hinzu: »Wie man sich doch täuschen kann!«

Der Unterricht allein befriedigte ihn auf Dauer nicht. Anfang der 60er begann er daher, Baß- und PA-Boxen zu bauen und an andere Musiker zu verkaufen. Jim Marshall hatte eine Marktlücke erkannt:  »In diesen Tagen gab es keine speziellen Lautsprecher-Boxen für Bassgitarristen. Also baute ich welche

Pete Townshend

Wenig später eröffnete er zudem noch einen Schlagzeugladen, hauptsächlich für die eigenen Schüler, doch zu den Kunden gehörten bald auch jede Menge andere Drummer aus London und Umgebung. Viele seiner Schüler spielten inzwischen in eigenen Gruppen und brachten nun immer wieder mal ihre Bandkollegen mit in den Laden. Unter diesen war auch The Who-Gitarrist Pete Townshend. Pete gehörte zu jenen, die Marshall in den Ohren lagen, doch endlich sein Sortiment auch um Gitarren und Verstärker zu erweitern.

»Von beidem hatte ich nicht die geringste Ahnung«, amüsiert sich Marshall noch Jahrzehnte darauf. »Aber die Idee klang gut

1962 lief der Laden bereits so hervorragend, dass Marshall Personal einstellen mußte. Doch er wäre wohl bis heute ein Musikalienhändler unter vielen geblieben, wenn nicht diese Gespräche mit seinen Kunden gewesen wären:

»Ich unterhielt mich häufig mit den Gitarristen, die zu mir in den Laden kamen, vor allem mit Pete Townshend und Ritchie Blackmore. Die klagten immer wieder, dass es einfach für ihre Musik keinen Amp gäbe, der den Sound produzierte, den sie sich vorstellten. Sie wollten nicht den cleanen Fender-Sound oder sowas, sie wollten einen mächtigen, schmutzigen, dynamischen Sound, einen echten Rock´n´Roll-Sound. Sie fragten mich immer wieder, ob ich nicht für sie einen solchen Verstärker bauen könnte. Also dachte ich: Okay, versuchen wir´s mal!«

Jim, der hochtalentierte junge Elektroniker Dudley Craven und Marshalls Mitarbeiter Ken Bran machten sich also daran, den ersten Marshall-Amp zu designen. Im September 1962 stand der Prototyp bereit zum Ausprobieren.

»Wir hatten uns natürlich auch an Fender-Amps orientiert«, erzählt Marshall von der Entstehung des Amps, der den Klang des Rock´n´Roll ein für allemal definieren sollte. »Einfach deswegen, weil Fender meine Lieblings-Amps baute. Aber nicht an deren Hauptmodell, sondern eher am Fender Bassman, weil mir dieser näher an dem Sound zu liegen schien, den wir erreichen wollten. Fender war also sicherlich ein Einfluß für uns. Andererseits: In der Röhrentechnologie gab´s nichts Neues mehr, alles war schon dagewesen.«

Wenig später war dann das erste Modell ladenfertig, ein 4×12. Und die Bestellungen flatterten so zahlreich rein, dass Marshall mit dem Bauen kaum noch nachkam. 1963 war dem Laden bereits eine Werkstatt angegliedert, in der Ken Bran und Dudley Craven einen Amp pro Woche bauten. Viel zu wenig, um den rasant steigenden Bedarf zu decken. 1964 lagerte Marshall die Produktion deshalb in eine neue Fabrik nach Hayes aus. 16 Mitarbeiter bauten dort dann schon 20 Verstärker pro Woche zusammen. Derweil sangen die Gitarristen Loblieder über die Amps. Pete Townshend wollte jedoch einen noch größeren, noch lauteren und noch druckvolleren Verstärker.

»Ich kannte Pete schon seit Jahren, weil ich früher mit seinem Vater, einem sehr guten Alt-Klarinettisten, zusammengespielt hatte. Wir hatten gerade unsere ersten 100-Watt-Amps gebaut und waren wirklich stolz auf sie. Aber Pete wollte noch mehr, einen 8×12. Ich wandte ein, daß seine Roadies Probleme haben würden, so ein Ding zu handhaben, baute ihm aber trotzdem einen. Und natürlich beschwerten sich seine Roadies auch prompt. Einige Wochen später stand Pete deswegen wieder im Laden. „Du hattest recht“, sagte er. „Ich will aber trotzdem die Höhe von 8×12. Wie wär´s, wenn wir die in zwei Cabinets packen?“ Er wollte das Ding schlicht in zwei Hälften schneiden, was unmöglich war. Also überlegten wir gemeinsam hin und her, wie sich das Problem lösen ließe, und kamen schließlich auf die Idee, zwei separate Cabinets zu bauen und diese aufeinander zu stapeln. Damit waren die Marshall-Stacks geboren, eine Idee von Pete Townshend und mir.«

„Jimi Hendrix fand er es witzig, dass es einen zweiten James Marshall gab.“

Jimi Hendrix by Heblo (Pixabay)

1965 spielte so gut wie jede britische Rockband mit Marshall-Verstärkern. Sie nahmen sie mit auf Tour nach Amerika, das europäische Festland, Japan. Überall dort horchten Musiker ebenfalls auf, zeigten sich fasziniert von dem Sound, der schnell zum Synonym für Rock´n´Roll wurde. Aber es war ein anderer James Marshall, der die Amps endgültig zur Legende werden ließ:

James Marshall Hendrix war gerade in London ansässig geworden und hatte bei Eric Clapton zum ersten Mal einen Marshall-Amp gesehen. Der junge Gitarrist war auf Anhieb fasziniert von dem unverfälschten Sound und wollte ebenfalls einen. Außerdem fand er es witzig, dass es einen zweiten James Marshall gab. Den wollte er unbedingt kennenlernen. Jim Marshall erinnert sich an die erste Begegnung:

»Mitch Mitchell hatte früher bei mir im Laden gearbeitet und dann von mir Schlagzeugunterricht bekommen. Eines Tages kam er zu mir und erzählte von diesem jungen amerikanischen Gitarristen, in dessen Band er jetzt spiele. Der sei ganz heiß darauf, mich mal zu treffen. Einmal, weil er es spannend fände, dass wir Namensvettern waren, zum anderen aber auch wegen meiner Amps. Hendrix kam dann in den Laden, und wir unterhielten uns. Er sagte, er wolle unbedingt auch über Marshall-Amps spielen, und behauptete im Brustton der Überzeugung, dass er bald einer der ganz Großen im Rockzirkus sein werde. Mein erster Eindruck war: Schon wieder einer von denen, die versuchen, was umsonst zu bekommen. Aber im nächsten Atemzug sagte er schon, dass er natürlich für alles den vollen Preis bezahlen werde. Jimi Hendrix war ein wirklich netter Kerl, und wir kamen bald sehr gut miteinander aus. Ich habe ihn dann auch zwei- oder dreimal spielen gesehen und war schwer beeindruckt von seiner Musikalität und seiner Technik. Jimi war in den folgenden Jahren unser größter und wichtigster Botschafter.«

Jimi Hendrix war es unbestreitbar, der, mehr als jeder andere, Marshall-Amps zur Standardausstattung für Rock- und Metal-Gitarristen machte.

Heute ist Jim Marshalls Verstärker-Geschäft ein Weltkonzern. In der Fabrik in Milton Keynes werden seine Amps in einer kuriosen, aber effektiven Prozedur, die modernste Fertigungstechniken mit traditioneller Handarbeit verbindet, für Musiker in der ganzen Welt hergestellt. Ein Verfahren, das die gleichbleibend exzellente Qualität der Geräte garantiert. Jim Marshall hat längst seinen eigenen Stern in Hollywoods „Walk Of Fame“, ist im eigenen Lande als Unternehmer wie als Mäzen und als Grundpfeiler der Rock´n´Roll-Welt zigfach ausgezeichnet worden.

76 Jahre ist er jetzt, immer noch hellwach, immer noch mit Leib und Seele der Musik ergeben. Und eben diese innige Liebe zur Musik sei es, sagt er, die das eigentliche Geheimnis des Erfolges seiner Amps ausmache. Denn »…ich bin selbst Musiker. Deshalb habe ich ein Gespür dafür, was andere Musiker wollen, ich verstehe, wovon sie reden, wenn sie einen bestimmten Sound beschreiben. Als Musiker habe ich gleichzeitig auch das Gehör für Sounds. Ich verstehe die technische Seite, kann das Verstehen also in Technik umsetzen. Das Wichtigste aber ist: Wir sind nie hergegangen und haben Geräte nach unseren eigenen Vorstellungen hergestellt, haben den Musikern nie vorgeschrieben, welchen Sound sie unserer Meinung nach haben sollten. Stattdessen haben wir jede Verstärkerreihe immer in enger Zusammenarbeit mit Musikern entwickelt, haben in langen Gesprächen deren Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen herauszufinden versucht. Das ist das eigentliche Erfolgsgeheimnis von Marshall-Amps.«

Solange es Rock´n´Roll gibt, egal unter welchem Deckblatt er gerade firmiert, ob als Metal, Kreuzundquer, Alternative oder was auch immer sonst, solange wird es auch Marshall-Amps geben. Gute Arbeit, Jim!

 

C 2022 MuzikQuest/Edgar Klüsener, first published in Rock Hard 11/2004

 

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Woodstock 1969 – Ein Traum von einer Revolution

Ten Years After vierzig Jahre später: Leo Lyons

Am Anfang war das Chaos: Hunderttausende junger Amerikaner eingepfercht auf schlammigen Kuhwiesen, heftige Regengüsse und Gewitter, katastrophale sanitäre Zustände und mangelhafte medizinische Versorgung. Alle Zufahrtsstraßen heillos verstopft, Nachschub an Nahrungsmitteln und Getränken kam nicht durch. Am Ende musste das Militär Nahrung, elementare Hilfsmittel und medizinisches Personal einfliegen. Das Festival glich einem Katastrophengebiet. Doch statt zum durchaus möglichen Desaster wurde Woodstock 1969 zur Legende, zum langlebigen Mythos einer globalen Jugendkultur.*

Für Leo Lyons war 1969 Woodstock zunächst einmal nur ein Festival unter vielen. Mit seiner Band Ten Years After tourte er in diesem Jahr kreuz und quer durch die USA. Auf dem Texas Pop- Festival hatten sie schon gespielt, dann auf dem Newport Jazz-Festival in St. Louis, zusammen mit Jazzern wie Dizzy Gillespie. Für den darauf folgenden Tag stand schließlich Woodstock auf dem Programm. Für die Briten nur ein Ortsname unter vielen, lediglich eine weitere Station auf ihrem endlosen Zug durch die Weiten Amerikas.?? „Wir wussten nur, dass Woodstock irgendwo in New York lag und dass wir am nächsten Morgen früh raus mussten, um den Flieger zu erwischen“??, erinnert sich Leo. „??Wir waren erst am zweiten Tag dran, als in Woodstock schon längst das Chaos tobte. Von dem wussten wir allerdings nichts. Erst unser Manager sagte uns schließlich auf dem Weg vom Flughafen nach Woodstock, was dort los war.??“

‚Los‘ waren weit über eine Million Menschen, die sich aus allen Teilen der USA auf den Weg nach Woodstock gemacht hatten. ‚Los‘ waren 400.000 Kids, die tatsächlich bis zum Festivalgelände durchgekommen waren. Das waren immer noch 350.000 mehr als die etwa 50.000, mit denen die Veranstalter ursprünglich gerechnet hatten. ‚Los‘ waren außerdem niedergerissene Zäune und die vom Massenandrang erzwungene Umwandlung des Festivals in ein kostenloses Konzert, die den Veranstaltern zunächst einmal Millionenverluste einbrachte.

Überhaupt, die Veranstalter: Da waren zum Einen die Jung-Investoren John Roberts und Joel Rosenman, beide aus vermögendem Haus und eher an der Wall Street zuhause denn in den Hippiekommunen der späten Sechziger, und zum anderen ein Duo örtlicher Musiker und Musikunternehmer, Artie Lang und Martie Kornfield. Letztere verstanden wenigstens von der technischen Seite der Konzertorganisation etwas und hatten einige der besten Bühnen- und Technikcrews verpflichtet, die in den USA zu der Zeit zu haben waren. Aber keiner der Vier hatte eine wirkliche Vorstellung von der Logistik, die eine Veranstaltung dieser Größenordnung erforderte.

Das Chaos war schon beinahe perfekt, bevor auch nur der erste Musiker auf die Bühne trat. Und trotzdem wurde Woodstock zum Mythos der Hippiebewegung, zum Jubelfest der amerikanischen Antikriegsbewegung, zur Wiege des Traums von einer globalen Hippie-Jugendkultur neuen Typs. Gründe dafür gab’s verschiedene. Einer war sicherlich das Aufgebot von namhaften Bands und Musikern, von denen etliche damals bereits zu den ganz großen Namen zählten oder doch zumindest vor dem Durchbruch standen. Unter ihnen Arlo Guthrie, Sohn der Folklegende Woodie Guthrie, Joan Baez und Santana. Andere waren Bands wie The Who, The Grateful Dead, Crosby, Stills, Nash & Young oder die britischen Underground-Rocker Ten Years After.

Woodstock 1969 – Ein Traum von Love and Peace

Ein anderer Grund war, dass das Festival trotz des allgegenwärtigen Chaos friedlich blieb. Es kam weder zu Gewalt noch zu Massenpaniken, stattdessen herrschte ein Geist der Kooperation, des „Jede hilft Jedem“. Und die Menge hatte trotz allem, trotz sintflutartiger Regenschauer, trotz Gewitter, trotz Chaos und trotz fehlender sanitärer Einrichtungen ihren Spaß. Woodstock war der Höhepunkt des Summers Of Love, ein Hippietraum von Love and Peace, der für einige Tage Wirklichkeit werden sollte. Außerdem war Woodstock eine politische Demonstration. Bei aller Naivität, die vor allem in der historischen Rückschau so verblüffend scheint, hatte die Hippiebewegung und ihre radikaleren Ausformungen wie Yippies und andere linke Gruppierungen durchaus eine politische Agenda. Sie war Part des breiten Widerstands gegen den Vietnamkrieg und Teil der Bürgerrechtsbewegung, beeinflusst vom LSD-Propheten Timothy Leary ebenso wie von Black Panther-Führer Eldridge Cleaver und den radikalen Aktivisten um Jerry Rubin und Abbie Hoffman, die in einem Chicagoer Gerichtssal den Begriff von der Woodstock Nation prägten. Die Politisierung der amerikanischen Jugend war umfassend und erstaunte Europäer, die in diesem Jahr in die USA reisten.

Leo Lyons verblüffte die starke Politisierung seines amerikanischen Publikums:

„Die britische Definition von ‚Underground‘ war in jenen Jahren primär eine musikalische. Kleidung und Aussehen hatten nicht diese politische Signifikanz wie in Amerika. Als wir unsere erste Amerika-Tour spielten, waren wir überrascht, wie sehr unser Aussehen und unsere Musik uns in den Augen des Publikums und der Presse automatisch in eine ganz bestimmte politisch-weltanschauliche Ecke stellten. Überraschend war auch, wie schnell Gespräche mit Fans und Presseleuten ins Politische wechselten, Themen wie die Bürgerrechtsbewegung und den Vietnamkrieg berührten.“

Der Höhepunkt des Festivals war der Moment, in dem Jimi Hendrix die amerikanische Nationalhymne systematisch in einer Orgie von Rückkopplungen und Verzerrungen zerstörte, stellvertretend für alles, was hässlich war an diesem Amerika der Sechziger. Es war zugleich ein ambivalenter Moment, denn der ehemalige, nach dreizehn Monaten allerdings vorzeitig entlassene, GI Jimi Hendrix war durchaus ein Patriot und alles andere als ein überzeugter Anti-Militarist.

Trotz allem, Woodstock wäre wohl nur ein Festival von vielen geblieben, wenngleich ein spektakulär schlecht organisiertes und ein Millionenverlust für die Veranstalter, hätte es da nicht noch diesen Film gegeben. Erst der dreieinhalbstündige Film, der ein gutes Jahr nach dem Festival in die Kinos kam, begründete wirklich und nachhaltig den weltweiten Mythos Woodstock.

Da hatte die Wirklichkeit den Mythos allerdings bereits überholt. Die Hippiebewegung war in unzählige Sub-Subkulturen zersplittert, einige waren in den Terrorismus abgewandert, und exzessiver Drogenkonsum dezimierte in den folgenden Jahren die Schar der Rockmusiker dieser Generation erheblich. Festivals verschanzten sich hinter Stacheldraht wie in Fehmarn oder uferten in Gewalt aus wie in Altamont. Und als dann noch das Publikum begann, Festivalbühnen abzufackeln, wie 1977 in Scheeßel, war der Mythos auch hierzulande endgültig am Ende.

Edgar Klüsener

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