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Metallica: 72 Jahreszeiten, Covid und ein Krieg in Europa

Etwas weniger als sieben Jahre sind seit der Veröffentlichung des letzten Metallica-Studioalbums ‘Hardwired … to Self-Destruct’ am 18. November 2016 vergangen. Und was für ein prophetischer Titel das damals war. Das Album erschien in demselben Jahr, in dem Trump das Weiße Haus zum ersten Mal eroberte, der Brexit das große Britannien in ein fremdenfeindliches und in sich zerstrittenes Inselchen transformierte und in dem der Wind der Veränderung sich erneut zu einem Orkan aufblies. Sieben weltgeschichtlich turbulente Jahre später melden sich Metallica mit einem neuen Album zurück. Das trägt den Titel „72 Seasons“ und hat es in sich: es ist wütend, zeugt von Bitterkeit, Frustration und Ohnmacht, aber auch von distanzierter Reflexion. So viel sei schon jetzt gesagt, wer Fan der frühen Metallica ist, von Alben wie ‚And Justice for All‘ oder ‚The Black Album‘, der wird mit ‚72 Seasons‘ besonders gut bedient sein.

Dem Album liegt ein Konzept zugrunde, das James Hetfield wie folgt erklärt: „Die 72 Seasons (Jahreszeiten) sind die ersten 18 Jahre unseres Lebens, die Phase unseres Lebens, in der sich unser wahres oder falsches Selbst formt. In diesem Zeitraum lehren uns Eltern, soziales Umfeld, Kindergärten und Schulen, wer und was wir sind und wie wir sein sollen. Vieles, was wir als Erwachsene erleben, ist eine Wiederholung oder Reaktion auf diese Kindheitserfahrungen. Bleiben wir Gefangene der Kindheit oder befreien wir uns von ihren Fesseln?“ Für Hetfield ist das fortlaufende Studium dieser anerzogenen Grundüberzeugungen höchst interessant, nicht zuletzt deshalb, weil sie letztlich bestimmen, wie wir die Welt sehen und erfahren.

Theorien des Selbst finden wir vor allem in der Psychologie, aber auch in Philosophie und Soziologie, und von Plato über Bourdieu bis hin zu Goffman oder May versuchen sich Theoretiker und Laien an der Beantwortung der ganz großen Frage: Wer bin ich, was bin ich und wie bin ich geworden, wer und was ich bin? Während Goffmans Performativity Theory das Selbst als Schauspieler identifiziert, die auf wechselnde Bühnen ihre jeweils wechselnden Rollen spielen und Goffman in letzter Konsequenz die Existenz eines Selbst an sich infrage stellt, ist für Hetfield das Selbst die Arena, in der Menschen die bittersten inneren und äußeren Konflikte austragen.

Das Selbst ist die Arena, in der Menschen die bittersten inneren und äußeren Konflikte austragen.

In den überragenden Texten des Albums, einige davon vielleicht die besten, die Metallicas Frontmann je geschrieben hat, setzt er sich so mit existenziellen Fragen in einer enervierenden Intensität auseinander. Wie die Texte reflektiert auch die Musik eine Zeit, in der die Welt aus den Fugen geraten ist. Was Kirk Hammett gern zugesteht.

Der Gitarrist hat im April 2023 in seiner Residenz im sonnigen Hawaii zum Telefon gegriffen, um ein wenig über „72 Reasons“ zu plaudern. 30 Minuten hat die Plattenfirma zugestanden, weit über 50 Minuten sollten es am Ende werden.

Geschrieben wurden die Songs des Albums zu einer Zeit, in der auch Metallica sich auf sich selbst zurückgeworfen fanden, inmitten einer Pandemie, die die Welt zum vorübergehenden Stillstand brachte. Ob die veränderten Umstände einen Einfluss auf die Arbeit der Band gehabt haben?

Aber unbedingt“, bestätigt der Gitarrist die naheliegende Vermutung, und fährt fort: „Diese ganze Lockdown-Sache war ein ziemlicher Tiefschlag, und ich war wirklich besorgt, ob wir ein paar Jahre in unserer Karriere verlieren würden oder nicht. Wir haben gründlich über die Situation nachgedacht und schließlich beschlossen, das Beste aus der Lage zu machen und mit dem Schreiben von Songs zu beginnen. Gott sei Dank konnten wir die Zeit nutzen und mussten nicht ohnmächtig zusehen, wie zwei Jahre einfach den Bach runtergingen.“

Wie der Rest der Covid-erschütterten Welt, mussten sich die Metallica-Musiker ebenfalls über Nacht mit Videokonferenz-Software wie Zoom, Teams oder Jitsi vertraut machen. Für Kirk Hammett eine ganz neue Erfahrung.

Bis dahin war Zoom für mich nur ein altes Kinderprogramm im Fernsehen. Doch dann sprachen plötzlich alle von Zoom, aber diesmal war es der Name dieser Video-Konferenz-Software. Daran musste ich mich erst einmal gewöhnen. Der Typ, der diese Software entwickelt hat, tat dies genau zum rechten Zeitpunkt und dürfte inzwischen von seinen Erträgen recht gut leben können.

Der schnelle Hausbesuch oder die gemeinsame Arbeit im Übungsraum gehörten damit zunächst einmal einer besseren Vergangenheit an. Stattdessen wurde notverordnet im Eigenheim gewerkelt und Ideen wurden in Zoom-Konferenzen debattiert und vorgespielt. Kreativität, das Schreiben von Songs, wurde zum Ausweg aus der Ausnahmesituation und ermöglichte es den Musikern zudem, diese zu reflektieren.

Grundsätzlich haben wir unsere Arbeitsweise gar nicht so stark verändert, nur war sie diesmal weniger aus freien Stücken so, sondern eher durch die Umstände erzwungen. Wir waren froh, dass die Technologie es uns ermöglichte, unsere Kreativität sinnvoll und konstruktiv auszuleben. Das Schreiben von Songs gab uns Halt in einer Zeit, in der die Welt wirklich aus den Fugen geraten schien.

Kirk Hammett, das sei am Rande erwähnt und ist eigentlich eine andere Geschichte, nutzte die Zwangspause nicht nur, um am neuen Metallica-Album zu arbeiten, sondern auch, um sein superbes Soloalbum ‚Portals‘ zu schreiben, aufzunehmen und zu veröffentlichen.

Während COVID bin ich ins Studio gegangen und habe mein eigenes Soloalbum produziert, ich habe mich einfach auf meine Erfahrungen aus der Vergangenheit verlassen, die ich in jahrelanger Arbeit im Studio gesammelt habe. Deshalb konnte ich die Verantwortung für die Produktion meiner eigenen Musik, den Sound und das Abmischen ohne Probleme übernehmen. Ich wusste genau, was zu tun war und wie.

Was er damit ebenso sagt: Mit gut 40 Jahren Studio-Erfahrung auf dem Buckel können die Musiker längst jedem Producer auf Erden mehr als nur das Wasser reichen. Dennoch hat sich die Band dafür entschieden, bei den Aufnahmen von „72 Seasons“ erneut mit Greg Fidelman als Produzent zu arbeiten, der sich die Producer-Credits brüderlich mit Hetfield und Ulrich, den treibenden Kräften hinter Metallica, teilt. Welchen Beitrag konnte Fidelman in einem solchen Szenario überhaupt leisten, in dem ihm die Musiker an Erfahrung und Kompetenz ebenbürtig waren und in dem er zudem mit starken und selbstbewussten Charakteren arbeiten musste. Oder, anders gefragt, braucht die Band überhaupt noch einen Produzenten?

Wenn’s ums rein Fachliche geht, erklärt Hammett, dann wohl eher nicht. Dass sie es alle drauf haben, hätten sie schon ausreichend unter Beweis gestellt, Rob Trujillo nicht zuletzt bei Ozzy Osbourne. Überhaupt, Robert Trujillo. Dass etwas anders lief bei der Arbeit an „72 Seasons“ macht Hammett auch am Beispiel Trujillo fest. Der Bassist hat gleich an drei Tracks mitgeschrieben, einer davon, ‚Screaming Suicide‘, ist einer der stärksten und eindringlichsten Titel auf dem Album. Die anderen beiden sind ‚Sleepwalk My Life Away‘ und ‚You Must Burn‘.

Aber zurück zu Greg Fidelman, dessen Rolle, und ihre Wichtigkeit, Kirk Hammett wie folgt beschreibt: „Greg ist der Mann, der die Übersicht hat. Er ist bei jedem Schritt dabei, er überwacht alles. Wir kommen rein und erledigen unseren Teil, machen unsere Parts, und Greg sorgt dafür, dass alles konsistent ist, dass wir alle auf derselben Ebene sind und alles gut zusammenpasst. Er ist sehr wertvoll geworden, weil er bereit ist, die unverschämt lange Zeit zu investieren, die es braucht, um ein Metallica-Album aufzunehmen und fertigzustellen. Das ist wahrlich kein schneller Prozess, sondern einer, der Monate, manchmal Jahre dauert. Greg Fidelman ist derjenige, der die Geduld, die Mittel, die Intuition und den Fokus hat, um sicherzustellen, dass alles musikalisch zusammenkommt und stimmig ist. Und das ist keine leichte Aufgabe. Für mich ist er der König, wenn es um den Aufnahmeprozess geht.“

Lars Ulrich (Pic Gage Skidmore, CC BY-SA 3.0,)

Die Metallica Musiker, insbesondere James Hetfield und Lars Ulrich, sind selbstbewusste und willensstarke Persönlichkeiten, die genau wissen, was sie wollen und ihre eigenen Vorstellungen haben. Um als Produzent in diesem Umfeld bestehen zu können, ist diplomatisches Geschick wohl ebenfalls eine gefragte Qualität.

Absolut,“ bestätigt Kirk Hammett, „Umso mehr, wenn wir alle weit voneinander entfernt arbeiten und interagieren müssen. Greg bringt uns zusammen, hat einen konkreten Plan, was zu tun ist, und er kann uns auf das Wesentliche fokussieren. So müssen wir uns nur auf drei oder vier Dinge konzentrieren, die an diesem Tag erledigt werden müssen, und schon haben wir es geschafft. Anstatt uns durch 200 oder mehr Details quälen zu müssen, um schließlich diese drei oder vier Dinge zu finden, aber völlig ermüdet und erschöpft zu sein, wenn wir endlich so weit sind. Mit anderen Worten: Er hat sich also durch eine Menge Lärm gekämpft, um ein Signal zu finden.

Es ist offensichtlich, dass Band und Produzent sich über die Jahre hinweg gut kennengelernt haben und dass Metallica Greg Fidelman nicht nur vertrauen und seine fachliche Kompetenz anerkennen, sondern ihn zudem als Autoritätsperson akzeptieren.

Er muss sich auskennen, und er muss gute Sounds, gute Mischtechniken und eine gute Produktion beherrschen. Denn jeder von uns könnte sich hinsetzen“, wiederholt Kirk Hammett, „und den Job erledigen, falls nötig. Die Frage ist allerdings, ob wir das an diesem Punkt unseres Lebens und unserer Karriere überhaupt noch wollen. Zehn Monate lang zehn Stunden am Tag im Studio sitzen? Das war okay, als wir in unseren Dreißigern oder Vierzigern waren, aber das ist jetzt etwas anderes. So viele andere Sachen spielen heute eine Rolle in unserem Leben. Wir haben alle Familien. Wir alle haben Verantwortung. Da ist es sehr hilfreich, dass wir Greg an diesem Punkt unseres Lebens haben. Er ist vertrauenswürdig, er hat, wie ich schon sagte, denselben Instinkt wie wir. Wir vertrauen seinem Gehör und seinem Gespür. Es hilft unserer Perspektive, wenn wir jemanden wie Greg um uns haben. Wir profitieren von seinen Ideen, er weiß, was funktioniert und was nicht. Das ist großartig. Ich sage das nur ungern und es klingt wie ein Klischee, aber er ist das neue fünfte Mitglied von Metallica.“

Metallica haben es Fans und Kritikern in der Vergangenheit manchmal nicht einfach gemacht. Immer wieder haben sie bewusst musikalisches Neuland betreten und sich auf Experimente eingelassen, die nicht alle nachvollziehen konnten. Die Zusammenarbeit mit Lou Reed war so eins, die in dem Album „Lulu“ (2011) mündete und die Metallica-Gemeinde und Kritiker in Lager teilte, die einander beinahe unversöhnlich gegenüberstanden. Die einen hassten das Album, eine an Alban Bergs unvollendete Oper ‚Lulu‘ angelehnte Vertonung von Frank Wedekinds Tragödien ‚Erdgeist‘ und ‚Die Büchse der Pandora‘, die anderen liebten es und sahen es als ein Meisterwerk moderner Musik. Für meinen britischen Kollegen JR Moores war es gar eins der zwei wichtigsten je veröffentlichten Alben (das andere ist laut John „Metal Machine Music“). Ich würde zwar nicht so weit gehen wie John, aber gehöre dennoch zu denen, die das Album für einen sträflich unterbewerteten Meilenstein halten. Nach Experimenten oder selbstironisch- autobiographischem Material wie dem Country-Blues ‚Mama Said‘ vom „Load“-Album sucht (oder hofft) man auf „72 Seasons“ vergeblich. Stattdessen ist das Album roh, düster und aggressiv geraten, die oben schon erwähnten Reminiszenzen an „And Justice for all….“ und „The Black Album“ sind unüberhörbar.

Absicht? Eher nicht, erklärt Kirk Hammett, und fügt hinzu, dass man in der Vergangenheit zwar oft mit dem Vorsatz ins Studio gegangen sei, ein Album aufzunehmen, das an die alten Tage erinnere, doch dass diesmal ein anderes Anliegen im Vordergrund gestanden habe, die Rückbesinnung auf die eigenen musikalischen Vorbilder nämlich: „Wir sahen uns nur an und sagten ein Wort oder fünf Wörter: Neue Welle. Neue Welle des britischen Heavy Metal. Okay, sechs Wörter. Und genau das haben wir dann getan. Ich hatte Diamond Head im Sinn und Tygers of Pan Tang, Motörhead, Angel Witch oder Jaguar, Du weißt schon, so was in der Art. „And Justice for All“ oder das „Black Album“ war das Letzte, was ich Sinn hatte, um ehrlich zu sein. Umso überraschender ist es dann für mich, dass jetzt von allen Seiten die Vergleiche mit gerade diesen beiden Alben auf uns hereinprasseln. Eine schöne Überraschung allerdings.“

Die in den Songs durchklingenden Emotionen wie Wut und Frustration seien jedoch nicht der fernen Vergangenheit geschuldet, sondern den Krisen der Gegenwart, fährt Kirk Hammett dann fort: „Ich sehe dieses Album als eine Reaktion auf alles, was in den letzten drei Jahren in den Vereinigten Staaten passiert ist. Diese drei Jahre in diesen verdammten Staaten waren völlig verrückt. Sie waren unvorhersehbar, chaotisch, frustrierend und haben jeden wütend gemacht.

Die Rede ist hier nicht nur von COVID-19, erzwungener Isolation, und Impfdebatten, sondern auch von Donald Trumps versuchtem Staatsstreich, dem Sturm aufs Kapitol, dem gewalttätigen Auseinanderdriften Amerikas in zwei Lager, die sich zunehmend unversöhnlich gegenüberstehen und, schließlich, der völlig veränderten internationalen Lage.

 „Ich habe das Gefühl, dass diese Songs all diese Emotionen in sich vereinen. All diese Emotionen, denke ich, haben sich in diesem Album in unseren Köpfen festgesetzt. Und es ist immer unbewusst oder unterbewusst, denn man kann sich nicht hinsetzen und sagen, okay, ich bin verdammt sauer. So funktioniert das nicht. Man setzt sich einfach hin, macht den Kopf frei und spielt. Und die Emotionen, die dann rauskommen, sind echte, wahre, ehrliche Emotionen. Und die Emotionen, die herauskamen, waren groß und wütend, frustrierend, chaotisch. Ich denke, die Musik fängt das ein. Deshalb überrascht es mich in der Nachschau auch nicht, dass sich auf dem Album keine einzige Ballade findet, nichts, das auch nur annähernd ruhig ist, schön und anrührend. Dieses ganze Album ist ungemein intensiv, wütend, aggressiv, feindselig, konfrontativ. Purer Heavy Metal eben, so wie wir es verdammt noch mal mögen. Und wenn die Vergangenheit mir recht gibt, wenn wir etwas mögen, dann stehen die Chancen gut, dass unsere Fans es auch mögen.“

Obgleich sich auf dem Album keine einzige Ballade findet, verbergen sich in den Songs doch viele kleine und einige ganz große Melodien. Eine von der letzteren Sorte findet gegen Ende von ‚Room Of Mirrors‘, eine wunderschöne Gitarrenharmonie, die an Thin Lizzy erinnert, an Gary Moore, vielleicht sogar an Wishbone Ash. Ein bewusstes Zitat?

Ach,“ lacht Kirk, „wir sind alle seit frühester Jugend glühende Thin Lizzy-Fans. Wenn also ein Gitarrenpart mal nach Gary Moore klingt, egal ob von mir oder James gespielt, dann ist das durchaus eine Hommage, manchmal eine bewusste, manchmal eine unbewusste, aber wir stehen beide unbedingt dazu.“

James Hetfield, Showcase in London 1998, pic: Edgar Klüsener

Die Texte nehmen die grundlegenden Stimmungen der Musik auf und kanalisieren sie. Wie schon so oft sind sie selbstreflexiv, spiegeln die innere Zerrissenheit Hetfields wieder, den Kampf gegen die eigenen Dämonen, lassen aber Raum für unterschiedliche Interpretationen. Hetfield selbst schweigt sich meist aus über seine Texte und deren Bedeutungen, und die anderen Musiker fragen ihn auch nicht danach, sondern respektieren die Haltung. Für Kirk Hammett schließt diese Akzeptanz von James Hetfields Rolle als alleiniger Texter ein, dass er nur dann Texte für seine eigenen Songbeiträge schreibt, wenn er von Hetfield explizit dazu aufgefordert wird. Doch obwohl Hetfield seine Texte nicht erklärt, begreifen seine Mitmusiker ihre Bedeutung oft intuitiv: „Einige der Texte sind für mich offensichtlich; ich weiß worüber er singt, weil ich James kenne. Er ist mein Bruder, also verstehe ich viele der Anspielungen, die er macht.“

Lyrics wie die von ‚Screaming Suicide‘ oder dem mächtigen ‚Crown of Barbed Wire‘ haben eine poetische Qualität, die seinen Bandkollegen in Kirk Hammetts Augen erneut als herausragenden – und immer noch sträflich unterbewerteten – Lyriker bestätigen.

Ich habe schon oft gesagt, dass James ein Dichter ist, der ein Gespür für Sprache hat und definitiv eins für den Rhythmus und die Bedeutung hinter den Worten. Bei diesem Album sind es vor allem die Texte, die mich umhauen. Aber nicht nur die Texte, sondern auch die Phrasierung am Anfang und am Ende des Liedes. Ich denke, James‘ Gesangsleistung auf diesem Album ist mit das Beste, was er je gemacht hat. Es war das erste Mal, dass er in seinem eigenen Haus gesungen hat. Mit ein paar Mikrofonen, ein paar Mikrofon-Vorverstärkern und ein paar Kompressoren, direkt in Logic oder Pro Tools oder was auch immer er benutzt. Und er sagte, dass es einfach einen großen Unterschied in der Performance macht, wenn man entspannt ist und zu Hause aufnimmt. Und ich sagte zu ihm: Das merkt man, Bruder, denn es ist verdammt gut.“

Was auffällt, sind die Anleihen bei religiöser Symbolik in einigen Songs wie ‚Crown of Barbed Wire‘ oder der bereits ausgekoppelten Single ‚Lux Æterna‘. Das ‚ewige Licht‘ (Lux aeterna), auf das Hetfield hier Bezug nimmt, brennt Tag und Nacht in christlichen Kirchen wie in Synagogen am Tabernakel und zeigt die Gegenwart Christi (im Christentum) und Gottes (im Judaism) an.

Dass der Sänger und Gitarrist eine spirituelle Ader hat, gesteht Hammett durchaus zu: „Nun, James hat einen spirituellen Aspekt, genau wie ich einen spirituellen Aspekt in mir habe. Der spirituelle Aspekt von James basiert auf dem Christentum, während mein spiritueller Aspekt eher im Osten und im Nondualismus angesiedelt ist. Wir koexistieren und treffen uns oft in unserer Spiritualität. Aber wir haben unterschiedliche Ansätze und unterschiedliche Ansichten. Wann immer er also über etwas Spirituelles oder Christliches nachdenkt, respektiere ich es vollkommen. Und wenn es das ist, worüber er singen will, dann soll es so sein.“

Das bereits thematisierte neue Chaos in der Welt beschränkt sich natürlich nicht nur auf die USA. In Europa hat Putins expansionistisches Streben nach der Restauration alter Sowjetmacht die alte Nachkriegsordnung, und damit eine 70jährige europäische Friedenszeit (nein, den Balkankrieg haben wir nicht vergessen, aber er hat die Nachkriegsordnung weit weniger erschüttert), endgültig über den Haufen geworfen und Krieg wieder Alltag werden lassen. Der Aufstieg Chinas zur zweiten Supermacht hat die globalen Machtverhältnisse gravierend verändert, und die Demokratie als Form der politischen Selbstorganisation ist weltweit, auch im Herzen Europas, auf dem Rückzug. Kalte und heiße Kriege haben selbstverständlich Auswirkungen auf eine Band, die ihre Fans auf allen Seiten der Frontlinien hat. Konzerte in Kiew oder Moskau dürften für Metallica vorläufig nicht mehr auf dem Programm stehen.

Als besonders schmerzhaft allerdings empfindet Kirk Hammett, dass „…es für uns so aussieht, als würden unsere Fans gegen unsere Fans kämpfen. Das ist es, was hier passiert. Ja, ich weiß, es geht um mehr als das. Es sind Menschen, die gegen Menschen kämpfen. Aber für mich kommt ein persönliches Element hinzu. Wenn ich es als einen blutigen Kampf von Metallica-Fans gegen andere Metallica-Fans betrachte, bricht es mir das Herz.“

Dass der Status und die damit verbundene Prominenz nicht nur ein Segen sind, hat Kirk Hammett schon vor langer Zeit erkannt. Seine mentale Gesundheit hatte lange unter dem öffentlichen Druck gelitten, mit dem er sich als Metallica Musiker auseinandersetzen musste. Einen Halt fand er schließlich in seiner Hinwendung zur Spiritualität: „Es ist wichtig, sich mit etwas verbinden zu können, das größer ist als man selbst. Es ist wichtig zu wissen, dass der Anfang und das Ende des Universums nicht bei einem selbst beginnt. Wenn du wie ich psychische Probleme hast, aber auch eine Berühmtheit bist, dann müssen die Realitäten irgendwann miteinander kollidieren und in eine Krise münden. Ich hatte zahlreiche Krisen in meinem Leben. Meine Spiritualität und Nüchternheit halten mich heute auf dem Boden der Tatsachen. Spiritualität gibt mir das Gefühl, dass ich immer noch Teil der menschlichen Rasse bin. Sie hält mich davon ab, mich über oder unter allen anderen zu sehen. Am Ende ist alles außer der Musik irgendwie nur Blödsinn. Wenn man wirklich spirituell ist, durchschaut man den ganzen Scheiß. Deshalb denke ich, dass Religion und Spiritualität wichtig sind, besonders wenn man sich in einer Situation befindet, in der die Menschen von einem Inspiration, Führung und Positivität erwarten.“

Das Thema geht Kirk hörbar nahe. Treffend beschrieben haben diese Erfahrung seiner Meinung nach die Musiker von Black Sabbath, als sie ihr Greatest Hits Album schlicht ‚We Sold Our Souls To Rock‘n’Roll benannte: „Es ist wirklich großartig, 100 Millionen Alben zu verkaufen und all diese Ressourcen zu haben und in der Lage zu sein, ein anständiges Haus für deine Mutter zu kaufen und eine schöne Gitarre zu haben. Aber verdammt, Mann, wie viele meiner Freunde, die ich in den frühen 80ern um mich hatte, haben es nicht bis hierher geschafft? Eine Menge, Bruder. Viele meiner Freunde, die eine Überdosis nahmen, begingen Selbstmord. Es ist eine brutale Branche. Und im Nachhinein ist Sex, Drogen und Rock ’n‘ Roll der größte Mythos und so schädlich für die Gesundheit und das Wohlergehen und die verdammte Entwicklung eines Menschen. Ich wünsche, ich hätte es besser gewusst, als ich jung war und damals Sex, Drogen und Rock’n’Roll einfach ignoriert. Wenn man das jahrzehntelang gemacht hat, ist man am Ende eine ziemlich leere Hülle, und dann muss man seine Seele suchen und kommt schließlich zu dem Schluss, dass Sex, Drugs and Rock’n’Roll nur eine seltsame verdammte Mythologie ist. Worauf es am Ende nur ankommt, ist ausschließlich die Musik.“

Musik soll denn auch weiter im Vordergrund stehen, von Herzen kommende, wütende, manchmal an der Welt verzweifelnde und oft frustrierte Musik, wie sie so nur von Metallica kommen kann. Die Band hat mit „72 Seasons“ ein Album vorgelegt, das sosehr den gegenwärtigen Zeitgeist beschreibt wie schon seit langem keine Veröffentlichung mehr.

Edgar Klüsener

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Aktuell Archive Reportagen Zeitgeschichten

Jim Marshall: Ein Trommler, der Gitarristen das Lärmen lehrte

Diese Zeitgeschichte ist ganz dem Großvater des verzerrten Lärms gewidmet. Im Herbst 2004 traf ich Jim Marshall (verstorben im April 2021) in seinem Büro in Milton Keynes. Der geniale Tüftler, dessen Verstärker und Lautsprecher dem Rock’n’Roll seinen dreckigen Klang gaben und geben, ließ sich eigentlich ungern interviewen, und noch weniger mochte er Autogramme geben. Doch in diesem Herbst machte er eine Ausnahme von beidem. Ungefragt bot er vor dem Interview gar sein Autogramm an, wegen dem Doktor vor dem Jim. „Ist schon ein Ding„, erklärte er, „ich bin in meinem Leben nie zur Schule gegangen, und jetzt bin ich trotzdem ein Doktor.“ Der Titel ist ehrenhalber, vom College Of Music einer renommierten amerikanischen Universität verliehen. Nach dem Marshall schrieb er noch OBE und deutete dann extra mit dem Finger drauf: „Einen OBE habe ich jetzt auch, Anfang des Jahres verliehen bekommen. Von der Königin!“ Jim Marshall war also bester Laune und bereit, ein wenig über sich und sein Lebenswerk zu plaudern. Geschichten, die auf diesem Interview basierten, erschienen im November im Spiegel und einen Monat darauf im Rock Hard. Nachfolgend die Version, die das Rock Hard abdruckte.

Milton Keynes ist ein postmodernes Scheusal, ein städtebaulicher Sündenfall der 70er. Glas, Beton, stumpfsinnige rostbraune Fassaden und ausufernde Asphaltbänder prägen das graue, lebensfeindliche Bild der Kunststadt, von Reißbrett-Planern im nahen London lieblos ins Grüne geklotzt. Seelenlose Einkaufszentren, triste Pubs und anonyme Bürogebäude machen das Bild urbanen Schreckens komplett. Wer das graue Betonlabyrinth der Bochumer Uni kennt, der kann sich leicht ein Bild von Milton Keynes machen.

Die Stadt im Südwesten der britischen Insel ist dennoch eine bedeutende Koordinate im Weltatlas des Rock´n´Roll. Denn ausgerechnet hier befindet sich das Marshall-Verstärker-Werk, Produktionsstätte jener Amps, um die Gitarristen in aller Welt einen Kult betreiben, der fast an religiöse Verehrung grenzt. Und innerhalb des Werks hat Jim Marshall sein Büro.

Das Büro ist der einzige Raum im gesamten Werkkomplex, in dem geraucht werden darf. Die Luft ist geschwängert vom Rauch dicker Havannas. Ein alter Plattenspieler steht auf einem Sideboard, ein Verstärker, einige Schallplatten. Und ein Schlagzeug. Auf dem trommelt Jim Marshall  täglich zwei Stunden herum, um in Form zu bleiben. Denn der Mann, dem der Rock´n´Roll seinen Sound verdankt, die lebende Legende, Gottvater aller Rockgitarristen, ist von Hause aus Schlagzeuger. Die Gitarre hat er in seinen 76 Lebensjahren nie in die Hand genommen.

Kaum zu glauben, aber wahr: Ausgerechnet ein Schlagzeuger ist der Schöpfer jenes dreckigen, enorm druckvollen, immer leicht verzerrt klingenden Sounds, der Marshall-Amps so einmalig macht, der Generationen von Gitarristen geprägt und Marshall zu einer Legende hat werden lassen. Eine quicklebendige Legende zudem. Sein Alter sieht man Jim Marshall nicht an, er wirkt mindestens ein Jahrzehnt jünger. Und ist aktiv wie manch 40jährige nicht mehr.

»Ich bin halt ein Workaholic«, sagt er und meint damit: »Ich arbeite immer noch täglich bis zu zehn Stunden, sieben Tage in der Woche. Ich spiele immer noch in einer Band, die auch regelmäßig auftritt. Ich trommle immer noch ein bis zwei Stunden täglich auf meinem Drumkit.«

Nicht, dass er das wirklich nötig hätte. Denn bevor er der Welt seine Amps bescherte, war er ein gefragter Schlagzeuglehrer, aus dessen Schule einige der größten Rockdrummer hervorgingen. Überhaupt: die Lebensgeschichte des Jim Marshall. Filmreif ist ein Attribut, das oft viel zu voreilig vergeben wird. Reicht´s dann in den meisten Fällen doch nur bestenfalls zu einem C-Movie, wäre in seinem Fall mehr als ausreichend Stoff für einen Hollywood-Klassiker vorhanden.

Knochentuberkulose und Gipskorsett

The Sound of Rock’n’Roll: Marshall Amps. Pic by Photo by Clem Onojeghuo on Unsplash

Geboren wurde er am 29. Juli 1923 in Kensington als Sohn von Beatrice und Jim Marshall. Die Kindheit verlief alles andere als glücklich. Jim erkrankte an Knochentuberkulose und musste den größten Teil seiner Kindheit in ein Gipskorsett eingezwängt verbringen. In regelmäßigen Abständen schnitten die Ärzte den Gips auf, um das Wachstum des Jungen nicht zu behindern, und wickelten ihn dann neu ein. An Schulbesuch war unter diesen Umständen nicht zu denken.

»Meine Eltern waren arm«, erinnert er sich zurück. »Ich verbrachte die meiste Zeit im Krankenhaus. Zu der Zeit wurden Kinder im Krankenhaus noch nicht unterrichtet. An Privatunterricht war überhaupt nicht zu denken. Also wuchs ich ohne jede Schulbildung auf. Nur einige Pfadfinder bemühten sich in dieser Zeit, mir etwas beizubringehttps://zerotodrum.com/micky-waller/n.« Allerdings nicht Lesen, Schreiben oder Rechnen, sondern »...sie lehrten mich, wie man Bastkörbe flechtet. Wenn du jemals einen Bastkorb brauchst«, lacht er, »komm zu mir, ich flechte dir einen perfekten!«

Er war bereits 13, als die Krankheit endlich so weit unter Kontrolle war, dass er endgültig ohne Gipskorsett leben konnte. Prompt schickten die Eltern ihn zur Schule.

»Ich kam wegen meines Alters sofort in die Abschlussklasse. Und verstand natürlich, weil mir jede Vorbildung fehlte, kein Wort von dem, was da im Unterricht erzählt und gesprochen wurde. Wenig später bekam mein Vater einen neuen Job in einem anderen Teil von London. Wir mussten also umziehen. Er wollte für mich dort eine neue Schule finden, was für mich aber überhaupt keinen Sinn machte. Also sagte ich zu ihm: „Wofür soll das gut sein? Ich versteh´ in der Schule eh kein Wort. Kann ich mir nicht stattdessen einen Job suchen?„«

Am Ende ließ der Vater sich breitschlagen und verschaffte Jim eine Stellung als Ladenjunge in dem Geschäft, dessen Manager er war.

Aus dieser von Armut und Krankheit geprägten Kindheit läßt sich leicht erklären, warum Jim Marshall heutzutage massiv für Wohlfahrts-Organisationen spendet und sich auch persönlich stark in Charity-Projekte einbringt. Er ist Mitglied bei den Waterrats, einer erlesenen Gruppe von Showbiz-Größen, die bei der Aufnahme von neuen Mitgliedern strengste Auswahlkriterien anlegt. Der Kreis unterstützt diverse Projekte, fördert karitative Organisationen, die in der Kinder- und Jugendarbeit tätig sind, gibt Gelder für Kinder in der Dritten Welt oder greift einem unabhängigen Theaterprojekt unter die Arme.

»Ich gebe jedes Jahr rund eine halbe Million Pfund – circa 420 Millionen € – für unterprivilegierte und behinderte Kinder«, beziffert er die finanzielle Seite seines Engagements.

Erste Steptänze, ein Job als Sänger und ein Schlagzeug

Der Vater war es, der letztlich seinen Einstieg ins Showbusiness forcierte. Er wollte, dass der Sohnemann Steptanz lernte, in der Hoffnung, dass dieser die immer noch fragilen Knöchel in den Fußgelenken stärke. In der Entertainment-Schule war Jim der einzige Junge unter lauter Mädchen. Was zu einem Problem wurde, als die alljährliche Vorstellung für die Eltern bevorstand.

»Der Lehrer sagte zu mir: „Junge, was soll ich bloß mit dir anfangen?“ Dann hatte er eine Idee: „Du machst den Fred Astaire. Du tanzt ein bisschen und singst einige Nummern.“ Und so lief es dann auch.«

Ein Auftritt mit Folgen. Im Publikum saß nämlich der Großvater eines der Mädchen aus Jims Klasse. Er war Chef einer der beliebtesten Londoner Showbands jener Tage. Nach der Veranstaltung ging er auf Jim zu, gratulierte ihm zu seinem Auftritt und zu seiner Stimme und fragte ihn, ob er Lust habe, mal in seinem Orchester zu singen. Jim sagte zu, stand einige Abende später auf der Bühne, sang zum ersten Mal mit Orchester im Rücken, kam an – und hatte damit einen neuen Job.

Im stolzen Alter von 14 wurde Jim Marshall zum Profimusiker, der fünf oder sechs Abende pro Woche auf der Bühne stand und Swing-Standards sang. Nebenbei begann er, Schlagzeug zu lernen, und entwickelte sich in den folgenden Jahren auch noch zu einem gefragten Drummer.

Dann kam der Krieg. Jim wurde eingezogen und Wartungstechniker bei der Royal Air Force. »In dieser Zeit lernte ich eine Menge über Elektronik, ein Wissen, das sich später noch als sehr nützlich erweisen sollte.«

Nach Kriegsende kehrte er zurück ins Zivilleben und nahm seinen Musikerberuf wieder auf. In den frühen 50ern kam dann die nächste entscheidende Wende:

»Duke Ellington hatte eine Nummer mit dem Titel ´Skin Deep´ veröffentlicht. In Großbritannien war ich der erste, der diesen Song spielte. Was dazu führte, dass plötzlich all diese Youngsters ankamen, die von mir lernen wollten, wie man diesen speziellen Drumbeat spielt. Ich ließ mich schließlich breitschlagen, nahm zwei Schüler an und war selbst überrascht, als ich feststellte, dass ich es liebte, anderen etwas beizubringen. Die Schüler standen bei mir Schlange; es wurden so viele, dass ich schließlich beschloss, den Musikerberuf an den Nagel zu hängen und stattdessen nur noch Schlagzeugstunden zu geben

Er unterrichtete prinzipiell nur Einzelschüler, 65 insgesamt, jedem widmete er eine Stunde. Damit war die Woche weitgehend ausgebucht. Während er von dieser Zeit erzählt, leuchten Jim Marshalls Augen, er nippt immer wieder an seinem schottischen Whisky, schmaucht seine Zigarre und verliert sich in den Erinnerungen.

Ritchie Blackmore und Pete Townshend, Dudley Craven und Ken Bran

Unter seinen Schülern waren etliche, die später in großen Bands spielen sollten. Jimi Hendrix´ Drummer Mitch Mitchell zum Beispiel, Little Richards Taktgeber Micky Waller oder Ritchie Blackmores Schlagzeuger Mick Underwood. Diese jungen Drummer waren es auch, die ihn zum ersten Mal auf eine neue Musikform aufmerksam machten, die Mitte der 50er von Amerika nach Europa überschwappte: den Rock´n´Roll. Anfangs hielt Jim Marshall wenig davon.

»Ich hielt Rock´n´Roll für nichts anderes als eine weitere dieser vergänglichen musikalischen Moden. Heute heiß geliebt, morgen schon vergessen.« Nun grinst er breit, macht eine kleine Pause und fügt dann hinzu: »Wie man sich doch täuschen kann!«

Der Unterricht allein befriedigte ihn auf Dauer nicht. Anfang der 60er begann er daher, Baß- und PA-Boxen zu bauen und an andere Musiker zu verkaufen. Jim Marshall hatte eine Marktlücke erkannt:  »In diesen Tagen gab es keine speziellen Lautsprecher-Boxen für Bassgitarristen. Also baute ich welche

Pete Townshend

Wenig später eröffnete er zudem noch einen Schlagzeugladen, hauptsächlich für die eigenen Schüler, doch zu den Kunden gehörten bald auch jede Menge andere Drummer aus London und Umgebung. Viele seiner Schüler spielten inzwischen in eigenen Gruppen und brachten nun immer wieder mal ihre Bandkollegen mit in den Laden. Unter diesen war auch The Who-Gitarrist Pete Townshend. Pete gehörte zu jenen, die Marshall in den Ohren lagen, doch endlich sein Sortiment auch um Gitarren und Verstärker zu erweitern.

»Von beidem hatte ich nicht die geringste Ahnung«, amüsiert sich Marshall noch Jahrzehnte darauf. »Aber die Idee klang gut

1962 lief der Laden bereits so hervorragend, dass Marshall Personal einstellen mußte. Doch er wäre wohl bis heute ein Musikalienhändler unter vielen geblieben, wenn nicht diese Gespräche mit seinen Kunden gewesen wären:

»Ich unterhielt mich häufig mit den Gitarristen, die zu mir in den Laden kamen, vor allem mit Pete Townshend und Ritchie Blackmore. Die klagten immer wieder, dass es einfach für ihre Musik keinen Amp gäbe, der den Sound produzierte, den sie sich vorstellten. Sie wollten nicht den cleanen Fender-Sound oder sowas, sie wollten einen mächtigen, schmutzigen, dynamischen Sound, einen echten Rock´n´Roll-Sound. Sie fragten mich immer wieder, ob ich nicht für sie einen solchen Verstärker bauen könnte. Also dachte ich: Okay, versuchen wir´s mal!«

Jim, der hochtalentierte junge Elektroniker Dudley Craven und Marshalls Mitarbeiter Ken Bran machten sich also daran, den ersten Marshall-Amp zu designen. Im September 1962 stand der Prototyp bereit zum Ausprobieren.

»Wir hatten uns natürlich auch an Fender-Amps orientiert«, erzählt Marshall von der Entstehung des Amps, der den Klang des Rock´n´Roll ein für allemal definieren sollte. »Einfach deswegen, weil Fender meine Lieblings-Amps baute. Aber nicht an deren Hauptmodell, sondern eher am Fender Bassman, weil mir dieser näher an dem Sound zu liegen schien, den wir erreichen wollten. Fender war also sicherlich ein Einfluß für uns. Andererseits: In der Röhrentechnologie gab´s nichts Neues mehr, alles war schon dagewesen.«

Wenig später war dann das erste Modell ladenfertig, ein 4×12. Und die Bestellungen flatterten so zahlreich rein, dass Marshall mit dem Bauen kaum noch nachkam. 1963 war dem Laden bereits eine Werkstatt angegliedert, in der Ken Bran und Dudley Craven einen Amp pro Woche bauten. Viel zu wenig, um den rasant steigenden Bedarf zu decken. 1964 lagerte Marshall die Produktion deshalb in eine neue Fabrik nach Hayes aus. 16 Mitarbeiter bauten dort dann schon 20 Verstärker pro Woche zusammen. Derweil sangen die Gitarristen Loblieder über die Amps. Pete Townshend wollte jedoch einen noch größeren, noch lauteren und noch druckvolleren Verstärker.

»Ich kannte Pete schon seit Jahren, weil ich früher mit seinem Vater, einem sehr guten Alt-Klarinettisten, zusammengespielt hatte. Wir hatten gerade unsere ersten 100-Watt-Amps gebaut und waren wirklich stolz auf sie. Aber Pete wollte noch mehr, einen 8×12. Ich wandte ein, daß seine Roadies Probleme haben würden, so ein Ding zu handhaben, baute ihm aber trotzdem einen. Und natürlich beschwerten sich seine Roadies auch prompt. Einige Wochen später stand Pete deswegen wieder im Laden. „Du hattest recht“, sagte er. „Ich will aber trotzdem die Höhe von 8×12. Wie wär´s, wenn wir die in zwei Cabinets packen?“ Er wollte das Ding schlicht in zwei Hälften schneiden, was unmöglich war. Also überlegten wir gemeinsam hin und her, wie sich das Problem lösen ließe, und kamen schließlich auf die Idee, zwei separate Cabinets zu bauen und diese aufeinander zu stapeln. Damit waren die Marshall-Stacks geboren, eine Idee von Pete Townshend und mir.«

„Jimi Hendrix fand er es witzig, dass es einen zweiten James Marshall gab.“

Jimi Hendrix by Heblo (Pixabay)

1965 spielte so gut wie jede britische Rockband mit Marshall-Verstärkern. Sie nahmen sie mit auf Tour nach Amerika, das europäische Festland, Japan. Überall dort horchten Musiker ebenfalls auf, zeigten sich fasziniert von dem Sound, der schnell zum Synonym für Rock´n´Roll wurde. Aber es war ein anderer James Marshall, der die Amps endgültig zur Legende werden ließ:

James Marshall Hendrix war gerade in London ansässig geworden und hatte bei Eric Clapton zum ersten Mal einen Marshall-Amp gesehen. Der junge Gitarrist war auf Anhieb fasziniert von dem unverfälschten Sound und wollte ebenfalls einen. Außerdem fand er es witzig, dass es einen zweiten James Marshall gab. Den wollte er unbedingt kennenlernen. Jim Marshall erinnert sich an die erste Begegnung:

»Mitch Mitchell hatte früher bei mir im Laden gearbeitet und dann von mir Schlagzeugunterricht bekommen. Eines Tages kam er zu mir und erzählte von diesem jungen amerikanischen Gitarristen, in dessen Band er jetzt spiele. Der sei ganz heiß darauf, mich mal zu treffen. Einmal, weil er es spannend fände, dass wir Namensvettern waren, zum anderen aber auch wegen meiner Amps. Hendrix kam dann in den Laden, und wir unterhielten uns. Er sagte, er wolle unbedingt auch über Marshall-Amps spielen, und behauptete im Brustton der Überzeugung, dass er bald einer der ganz Großen im Rockzirkus sein werde. Mein erster Eindruck war: Schon wieder einer von denen, die versuchen, was umsonst zu bekommen. Aber im nächsten Atemzug sagte er schon, dass er natürlich für alles den vollen Preis bezahlen werde. Jimi Hendrix war ein wirklich netter Kerl, und wir kamen bald sehr gut miteinander aus. Ich habe ihn dann auch zwei- oder dreimal spielen gesehen und war schwer beeindruckt von seiner Musikalität und seiner Technik. Jimi war in den folgenden Jahren unser größter und wichtigster Botschafter.«

Jimi Hendrix war es unbestreitbar, der, mehr als jeder andere, Marshall-Amps zur Standardausstattung für Rock- und Metal-Gitarristen machte.

Heute ist Jim Marshalls Verstärker-Geschäft ein Weltkonzern. In der Fabrik in Milton Keynes werden seine Amps in einer kuriosen, aber effektiven Prozedur, die modernste Fertigungstechniken mit traditioneller Handarbeit verbindet, für Musiker in der ganzen Welt hergestellt. Ein Verfahren, das die gleichbleibend exzellente Qualität der Geräte garantiert. Jim Marshall hat längst seinen eigenen Stern in Hollywoods „Walk Of Fame“, ist im eigenen Lande als Unternehmer wie als Mäzen und als Grundpfeiler der Rock´n´Roll-Welt zigfach ausgezeichnet worden.

76 Jahre ist er jetzt, immer noch hellwach, immer noch mit Leib und Seele der Musik ergeben. Und eben diese innige Liebe zur Musik sei es, sagt er, die das eigentliche Geheimnis des Erfolges seiner Amps ausmache. Denn »…ich bin selbst Musiker. Deshalb habe ich ein Gespür dafür, was andere Musiker wollen, ich verstehe, wovon sie reden, wenn sie einen bestimmten Sound beschreiben. Als Musiker habe ich gleichzeitig auch das Gehör für Sounds. Ich verstehe die technische Seite, kann das Verstehen also in Technik umsetzen. Das Wichtigste aber ist: Wir sind nie hergegangen und haben Geräte nach unseren eigenen Vorstellungen hergestellt, haben den Musikern nie vorgeschrieben, welchen Sound sie unserer Meinung nach haben sollten. Stattdessen haben wir jede Verstärkerreihe immer in enger Zusammenarbeit mit Musikern entwickelt, haben in langen Gesprächen deren Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen herauszufinden versucht. Das ist das eigentliche Erfolgsgeheimnis von Marshall-Amps.«

Solange es Rock´n´Roll gibt, egal unter welchem Deckblatt er gerade firmiert, ob als Metal, Kreuzundquer, Alternative oder was auch immer sonst, solange wird es auch Marshall-Amps geben. Gute Arbeit, Jim!

 

C 2022 MuzikQuest/Edgar Klüsener, first published in Rock Hard 11/2004

 

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Peter Gabriels Neue Welten

Im Herbst 1994 interviewte ich Peter Gabriel in seinen Real World Studios im idyllischen Bath. Während des Interviews erklärte er seine Sicht auf die Zukunft der Musik. In der hatten CDs, DVDs und andere solide Medien keinen Platz mehr. Die Zukunft sei, so seine Überzeugung, der Daten-Highway. Wohlgemerkt, wir schreiben das Jahr 1994, befinden uns also in einer Zeit in der Deutschland – wie der Rest der Welt – noch weitgehend offline existierte. Und wer doch schon im Netz unterwegs war, das gerade erst zum World Wide Web wurde, war zumeist Kunde proprietärer Online-Dienste wie CompuServe, AOL, T-Online oder Web.de. Die Geschwindigkeiten, die mit den damaligen Modems erzielt wurden, reichten nicht, Songs oder gar Videos zu streamen. Von den Kosten ganz zu schweigen. Und dennoch entwickelt Peter Gabriel schon damals ein Szenario, das den heutigen Kunden von Netflix, Spotify und Konsorten nur allzu vertraut sein dürfte. Eine weitere Zeitgeschichte, die übrigens im Dezember 1994 im Ruhrgebiets-Magazin Marabo erschien.

Nicht unbedingt nur wegen seiner Musik, eher auch wegen seiner technischen Neugier und Weitsicht zählt Peter Gabriel zur Speerspitze der internationalen Popmusik. Zur Weihnachtszeit deshalb der Tipp von Erzonkel Gabriel: Keine Tonträger kaufen – bald kommt der Daten-Highway…

Der Meister wirkt abgespannt und übernächtigt. Aber er macht gute Miene zum lästigen Promo-Spiel. Eine Horde europäischer Journalisten ist in die beschauliche Ruhe der Real-World-Studios eingefallen, um Neues in Erfahrung zu bringen über das Live-Album „Secret World“ und die Video-Zusammenarbeit mit dem franko-kanadischen Regisseur Robert Lepage. Viel spannender wird es, als die Rede auf neue Kommunikations-Technologien kommt, mit denen sich der Meister schon länger befasst. Eher beiläufig kommentiert Peter Gabriel eine Entwicklung, die seit geraumer Zeit die Vorständler der großen Plattenfirmen um den wohlverdienten Schlaf bringt: „Die Tage der traditionellen Tonträger sind bereits gezählt„, sagt er. „Und auch die CD-ROM ist kaum mehr als ein zwar interessantes, letztlich aber doch nur kurzes Zwischenstadium in dieser Entwicklung.

Egal, welche verschlungenen Informations-Pfade die technologische Entwicklung fürderhin auch nehmen wird, Peter ist gewappnet. Der frühere Genesis-Säger hat sich längst etabliert als Speerspitze der multimedialen Kreativ-Avantgarde. Im idyllischen Box im Südwesten Englands hat er in einer alten Mühle einen kleinen Konzern aufgebaut, der für die digitale Zukunft bestens gerüstet scheint. Unter den Dächern der Mühle und der dazugehörigen Gesindehäuser findet man ein ultramodernes HiTech-Tonstudio, ein Videostudio sowie die Büros der Gabriel-Firmen Womad und Real World. Vor allem letztere hat in jüngster Vergangenheit Furore gemacht. Hier entstand unter der kreativen Federführung Peter Gabriels eine multimediale CD-ROM, an der sich seither alle anderen Künstler mit ihren Produkten messen lassen müssen. Meistens zu deren Nachteil.

Doch der Meister ist bereits wieder einen Schritt weiter. Zwar wirkt er im Moment ein wenig abgespannt, doch belebt sich seine Stimmung sofort, als er auf künftige technologische Entwicklungen zu sprechen kommt. „Die Zukunft gehört„, begeistert er sich, „Music on demand.“ Und meint damit eine völlig neue Art des Musikkonsums, die sich in den USA bereits langsam durchzusetzen beginnt. Der Musikfreund geht nicht mehr in den nächsten Schallplattenladen, um sich dort die neueste CD seines Lieblingskünstlers zu besorgen, sondern wählt sich vom heimischen PC aus direkt in eins der Datennetze ein. Dort findet er eine reichhaltig sortierte Musikbibliothek. Er geht die Liste der Künstler durch, findet schließlich einen Song, den er immer schon hören wollte und lädt sich diesen dann auf seine Festplatte. „Das ist der Tod der klassischen Tonträger”, betont Peter Gabriel noch einmal.

Er selbst hat längst die Schaufel des Totengräbers in die eigenen Hände genommen. Denn Real World arbeitet bereits an diversen Projekten, die das virtuelle Universum der weltweiten Datennetze mit ihren bislang kaum erforschten Möglichkeiten erkunden sollen. Er ist bereit für die Zukunft und will diese mitgestalten. Ob das für die Tonträgerindustrie in gleichem Maß gilt, muss sich erst noch zeigen.

Erstveröffentlichung: Marabo 12/1994

Beitragsbild/Image: Steven Toole, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

C 2022 MuzikQuest/Edgar Klüsener

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Dirkschneider & The Old Gang: Alte Helden leben länger

Man könnte es eine Accept-Reunion ohne Wolf Hoffmann nennen. Muss man aber nicht, denn was sich da aus der Heavy Metal-Geschichte in die Gegenwart stiehlt, erinnert personell zwar mehr als nur ein wenig an glorreiche Solinger Zeiten, ist aber letztlich doch klar ein anders gelagertes Projekt. Rund um Udo Dirkschneider, so unverwüstlich wie schon seit Dekaden und mit bewundernswerter Sturheit nach wie vor eine relevante Reibeisenstimme, hat sich mit den früheren Accept-Kumpanen Stefan Kaufmann und Peter Baltes, seinem trommelnden Sohn Sven und dem früheren U.D.O.- Gitarristen Matthias ‚Don‘ Dieth’ sowie Sängerin Manuela Bibert eine außerordentliche Truppe gesammelt. Die Besetzung allein ist schon vielversprechend und deutet ein Projekt an, dessen wahre Größenordnung in Zukunft wohl noch für einige Überraschungen gut sein wird. Erste Hinweise auf die fantastische musikalische Qualität offenbaren die beiden unter Lockdown-Bedingungen produzierten Videos für ‚Arising (Face of A Stranger)‘ und ‚Where Angels Fly‘, die derzeit auf Youtube für Furore sorgen. Weitere Nachrichten zum Projekt folgen in Kürze.

Youtube Video ‚Face Of A Stranger‘):

Youtube Video ‚Where Angels Fly‘

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