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Barrieren überwinden: The Scorpions in Leningrad 1988

In den späten Achtzigern fegte ein Sturm durch Europa, der alte Gewissheiten über den Haufen warf und Systeme zerbröckeln ließ. Der Eiserne Vorhang, seit Ende des Zweiten Weltkriegs die beinahe unüberwindliche Barriere im Herzen Europas, rostete rapide und die Löcher in ihm wurden immer größer, bis er schließlich mit dem Berliner Mauerfall endgültig in Fetzen riss. Eine willkommene Folge war die Öffnung des bis dahin beinahe hermetisch abgeschlossenen Osten Europas für westliche Popkultur – und damit für deutsche Bands. Eine Reihe von Zeitgeschichten schildern Aufbrüche in Ost und West, erste zaghafte Reisen westlicher Musiker hinter den Eisernen Vorhang, Andeutungen künftiger Umwälzungen und Revolution, das Keimen von Hoffnungen,, die am Ende auf den Schlachtfeldern der Ukraine einmal mehr – Geschichte wiederholt sich doch, wenn auch in immer etwas anderen Szenarien – im Blut ertrinken. Insgesamt fünf Zeitgeschichten reflektieren eine sehr kurze Periode von gerade einmal fünf Jahren. Den Anfang macht diese hier, die  Schilderung des ersten Besuchs der Scorpions in der Sowjetunion im April 1988. Im September 1988 fuhr ich dann mit den Toten Hosen nach Litauen, wo eine erstarkende Unabhängigkeitsbewegung immer öffentlicher wurde. Im tiefen Winter 1988 traf ich in Moskau Stas Namin, Bon Jovi und andere Akteure, die ein sowjetisches Woodstock auf die Beine stellen wollten. Das fand dann im August 1989 statt, und ist das Thema einer weiteren Zeitgeschichte. Die letzte Zeitgeschichte in dieser Reihe beschreibt die Reise von Kreator in den frühen Neunzigern in ein Moskau, das sich bereits rapide verändert hatte. Die Sowjetunion gab es nicht mehr, Grenzen wurden überall neu gezogen, und Russland verstand sich zunehmend als Verlierer der friedlichen Revolution, die Europas Angesicht von Grund auf verändert hatte. In Moskau wie im Rest Russlands wurden die nationalistischen Töne immer lauter und ein düsterer Revanchismus wurde zur Ideologie zumindest in rechten Kreisen. Mit dieser Zeitgeschichte endet dann der Russland-Zyklus. 

In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts war Westeuropa zusammengewachsen und die Grenzanlagen wurden immer durchlässiger. Man besuchte sich zwanglos, lebte im einen Land und arbeitete im anderen – eine neue, europäische Realität formte sich, die von den Bürgern auch als solche erlebt wurde. Die Spaltung des Kontinents, und damit die Spaltung Deutschlands, in Ost und West allerdings bestanden fort. Die tiefgreifenden Veränderungen und Revolutionen der späten Siebziger und frühen Achtziger fanden im Westen zunächst im Stillen statt und wurden vor allem von neuen Technologien angetrieben. Die Achtziger waren das Jahrzehnt, in dem eine technologische Revolution anfangs kaum merklich Fahrt aufnahm, die am Ende die Musikindustrie in ihren Grundfesten erschüttern sollte. Erschüttert und über den Haufen geworfen wurde auch ein für alle Mal die Art und Weise, in der Musik gehört, erlebt, empfunden und konsumiert wird.

Revolutionen sind weder gut noch böse. Wie auch immer sie enden, ob mit einer Republik, mit einer Demokratie, einem sozialistischen Staat, einer totalitären Diktatur oder einer islamischen Republik – ihr eigentliches Wesen ist die radikale Veränderung, nicht die neue Ordnung danach. Politische Revolutionen müssen nicht unbedingt von unten kommen, begonnen und ausgefochten von Kräften, die in Opposition zur existierenden Ordnung stehen und diese verändern wollen. Revolutionen können auch von oben initiiert werden. Manchmal reicht dazu ein einfacher Verwaltungsakt, die Anweisung, ein Element des Status Quo zu modifizieren. Die Folgen dieses Verwaltungsaktes scheinen absehbar und wohl kalkulierbar. Doch kein Verwaltungsakt kann für sich allein stehen, jeder bewirkt eine Veränderung am Gesamtgefüge, die zwangsläufig weitere Veränderungen nach sich zieht. Und plötzlich kommt eine Lawine ins Rollen, die der ursprüngliche Verwaltungsakt sicherlich nicht auslösen sollte, die aber unaufhaltsam die alte Ordnung zerstört.

Michail Sergejewitsch Gorbatschow wurde im März 1985 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gewählt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Land bereits in einer tiefen ökonomischen Krise. Der 1979 begonnene Krieg in Afghanistan hatte sich zum sowjetischen Vietnam entwickelt, ein Konflikt, der enorme Massen an Kapital und Material verschlang und viele junge Sowjetsoldaten das Leben kostete. Dieser Krieg, das war sowjetischen Militärs und einigen hellsichtigen Mitgliedern des Politbüros bereits 1985 klar, konnte mit konventionellen Mitteln nicht gewonnen werden. Wenn er überhaupt gewonnen werden konnte. Ein Blick in die Geschichte des späten 19. Jahrhunderts hätte den Sowjets eine Warnung sein sollen, als sie sich am 25. Dezember 1979 dazu entschieden, militärisch in den afghanischen Bürgerkrieg einzugreifen. Denn bereits im ersten Anglo-Afghanischen Krieg vom Juli 1839 bis Oktober 1842 hatte das britische Empire eine empfindliche Niederlage gegen afghanische Stammeskrieger einstecken müssen und über 20.000 Mann verloren.

Die Belastungen durch den Krieg, ein erstarrtes und unflexibles Wirtschaftssystem, das nach den planerischen Prinzipien der US-amerikanischen Ingenieure Taylor und Ford organisiert war, veraltete Industrien und ineffiziente Verwaltungsstrukturen hatten die UdSSR in eine politische und ökonomische Krise schlittern lassen, die durch die Kosten des Rüstungswettlaufs mit dem Westen noch dramatisch verschärft wurde.

Gorbatschow wollte sich diesen Problemen mit einem reformerischen politischen und ökonomischen Ansatz stellen. Die Leitlinien, verkündet direkt nach seinem Amtsantritt im April 1985, hießen Umbau des Systems (Perestroika) und Transparenz (Glasnost). Umbau allerdings nicht als Revolution, sondern als Reform, als kontrollierte Veränderung, initiiert durch Verwaltungsvorschriften und gezielte Eingriffe in die Mechanismen von Institutionen. Glasnost bedeutete vor allem, dass Missstände offen kritisiert werden sollten; in der Tradition von Kritik und Selbstkritik sollte die Benennung von Fehlern zu deren Behebung führen. Die Verwaltungsvorschriften waren erlassen, der Plan wurde in die Tat umgesetzt. Welche weitreichenden Folgen vor allem Glasnost haben sollte, war im April 1985 unmöglich vorhersehbar.

Dass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurden (zuvor traten Uriah Heep 1987 zehnmal in Moskau auf).

Scorpions, Crew und Journalisten vor der Konzerthalle (und der Autor im Vordergrund)

Leise dümpelte der Panzerkreuzer Aurora vor sich hin, mit dem Ufer der Newa fest verbunden durch einen stählernen Laufsteg. Aus seinen Kanonen hatten meuternde russische Matrosen in der Nacht vom 25. Oktober 1917 mit Platzpatronen das Signal zum Sturm auf den Winterpalast des Zaren gegeben, der Startschuss für die Russische Revolution, die das Ende des Zarenreiches einläutete und mit der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken enden sollte. Die UdSSR schien an jenem kalten Apriltag 1988 noch unerschütterlich, an dem sich eine Gruppe junger Männer mit langen Haaren, gekleidet in nietenbeschlagene Lederjacken und hautenge schwarze Lederhosen, an den Füßen silberbeschlagene Cowboystiefel, die Augen verborgen hinter dunklen Sonnenbrillen, vor dem Laufsteg drängelte und Einlass suchte in das zum Revolutionsmuseum umfunktionierte Kanonenboot. Westliche Dekadenz in Reinkultur, so mag diese Gruppe ungläubig schauenden Leningradern erschienen sein. In ihrem Gefolge fand sich ein Tross von Fotografen, Journalisten, Freunden und Betreuern, alle vom Erscheinungsbild her unverkennbar westlich und in deutscher und englischer Sprache wild durcheinander palavernd.

In einigen Metern Entfernung von der auffälligen Reisegruppe lungerten einige russische Teenager herum, die sie aufmerksam beäugten. Einer hielt das sowjetische Äquivalent eines Ghettoblasters im Arm. Er lächelte zu den Westbesuchern hinüber und drückte auf den Startknopf des Kassettenspielers. Aus den Lautsprechern dröhnte leicht verzerrt einer der damals größten Hits der Scorpions, die Ballade „Still Loving You“. Die Jugendlichen winkten schüchtern zu der Gruppe an der Aurora hinüber, in denen sie zu Recht die Scorpions erkannt hatten. Dass sie auch auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs schon bekannte Größen waren, hatten die Musiker in den Tagen seit ihrer Anreise zu ihrer eigenen Überraschung lernen können. Der Eiserne Vorhang schien zwar politisch noch unüberwindlich, war aber nicht so hermetisch von westlicher Popkultur abgeschirmt, wie es von außerhalb erscheinen mochte.

Klaus Meine kommentierte damals mit Blick auf die Gruppe von Teenagern: „Das begann schon am Moskauer Flughafen. Obwohl wir dort nur zwischengelandet waren und die Aufenthaltszeit bis zum Weiterflug nach Leningrad (das heutige St. Petersburg) nur kurz bemessen war, tauchte dort eine Menge Jugendlicher mit tragbaren Kassetten-Rekordern auf, die sie uns entgegenhielten und aus deren Lautsprechern unsere Songs schepperten.

Insgesamt zehn Konzerte sollten die Scorpions in diesem kalten April in der Zarenstadt am Finnischen Meerbusen spielen. An allen Tagen war die Leningrader Sporthalle, ein imposanter Rundbau, der der Dortmunder Westfalenhalle 1 ähnelte, aber noch etwas größer war als das westfälische Juwel, restlos gefüllt. Der Ausflug in die Sowjetunion ergab wirtschaftlich wenig Sinn und war eher Ausdruck einer Lebensphilosophie, die dem Handeln der Band seit frühen Tagen zugrunde lag. Rudolf Schenker beschrieb diese damals so: „Wir wollen Neuland erkunden, want to break barriers (wollen Schranken niederreißen).

Diese Neugier auf die Welt war es, die die Band von Anfang an vorwärts trieb. Eine Neugier, die sie empfänglich machte für andere Kulturen und Lebens- und Denkweisen und die zudem die Sinne für Entwicklungen schärfte, die unter scheinbar ruhigen Oberflächen stattfanden. Was sie in Leningrad vorfanden, war eine Sowjetunion, in der ein erbitterter interner Konflikt zDass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurdenwischen Reformern und Konservativen tobte. Auf der einen Seite fand sich der Zirkel um Gorbatschow, auf der anderen deren reaktionäre Gegenspieler um Jegor Kusmitsch Ligatschow, den Gorbatschow selbst ins Politbüro der KPdSU geholt hatte und der lange Zeit als der zweite Mann nach dem Generalsekretär galt. Dass sich ein Umbruch anbahnte in der Sowjetunion – und damit in ganz Osteuropa – erkannte Klaus Meine bereits in Leningrad: „Wir spielen hier als erste westdeutsche Rockband. Wir zahlen alles aus eigener Tasche, eine Investition, die sich aber trotzdem lohnt. Wir brechen das Eis und öffnen hoffentlich Türen für andere deutsche und westliche Bands.“ Er zögerte einen Moment und fügte dann hinzu: „Solange sich die politische Lage nicht wieder verschlechtert.“ Die angesprochene Verschlechterung lag 1988 durchaus noch im Bereich des Möglichen, die Machtkämpfe innerhalb der KPdSU hatten auch direkten Einfluss auf die Konzertplanung der Scorpions gehabt.

Ursprünglich hatte die Band zunächst fünf Konzerte in Moskau und dann fünf weitere in Leningrad spielen sollen, doch dann machten die Moskauer Behörden wegen der bevorstehenden Maifeierlichkeiten Sicherheitsbedenken geltend und sagten die Termine in der Hauptstadt kurzerhand ab. Für Klaus Meine damals zwar ärgerlich, aber:

„Hier in Leningrad ist alles so interessant und beeindruckend, dass es uns am Ende doch weniger ausmacht als gedacht. Im Gegenteil, wir kommen kaum dazu, all die Eindrücke zu verarbeiten, die in diesen Tagen auf uns einstürzen und die uns regelrecht überwältigen.“

Zu diesen Eindrücken gehörten auch die Gruppen von Fans, die sich vor dem Hotel Pulkowskaja, damals die erste Adresse in der Stadt an der Newa und mit westlichem Komfort ausgestattet, drängten. Viele waren eigens für das Konzert aus anderen Teilen der UdSSR angereist, einer hatte Eis, Schnee und bitterer Kälte getrotzt, um aus dem fernen Sibirien per Anhalter nach Leningrad zu gelangen, um seine Lieblingsgruppe einmal live erleben zu können. Als die Scorpions von seiner Geschichte erfuhren, luden sie ihn zu einem Treffen ein und arrangierten für ihn außerdem freien Eintritt für die Konzerte.

In diesen zehn Tagen verschanzten sich die Musiker nicht in der Enklave mit westlichen Annehmlichkeiten, die das Pulkowskaja bot, sondern drängten hinaus in die Stadt, um sie zu sehen, riechen, fühlen und erleben. In einer Nacht landeten sie in einem der halblegalen, stickigen und verrauchten Untergrund-Clubs Leningrads, wo eine örtliche Rockband aufspielte. KDass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurdenDass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurdenurzentschlossen sprangen sie auf die Bühne und das zunächst verdutzte, dann begeisterte Publikum erlebte eine ausgedehnte Jamsession mit Musikern beider Bands. Später erinnerte sich Gitarrist Matthias Jabs mit Schaudern an das Equipment der Russen: „Die Verstärker lieferten eine Art Apfelsinenkisten-Sound, die Gitarren waren ‚Marke Eigenbau‘ und der Club war kaum mehr als ein mittelprächtiger Übungsraum. Der Sound war schrecklich, aber es hat dennoch mächtig Spaß gemacht. Bei der Gelegenheit ist mir erstmals so richtig klar geworden, unter welch miserablen Bedingungen russische Musiker arbeiten müssen.

Rockmusik, das machte nicht nur dieser nächtliche Ausflug in den subkulturellen Untergrund Leningrads klar, hatte sich in der Sowjetunion längst etabliert. Singles und Langspielplatten wurden seit Jahren aus dem Westen kontinuierlich ins Land geschmuggelt oder ganz einfach dreist und ohne Rücksicht auf irgendwelche westlichen Copyrights von der staatlichen Plattenfirma Melodija kopiert und in beachtlichen Stückzahlen an die sowjetische Jugend verkauft. Rockmusik kam auch über den Äther: Amerikanische Propagandasender wie Radio Free Europe/Radio Liberty oder Voice of America strahlten sie gezielt in den damaligen Ostblock aus. Rockbands gab es in jeder größeren Stadt und sie hatten durchaus ihr Publikum. Einige wie die Schwermetaller Kruiz oder Shah machten Ende der Achtziger des vergangenen Jahrhunderts bereits im Westen von sich reden.

Als Vorband hatte das staatliche Veranstaltungs- und Konzertbüro Goskonzert die Moskauer Band Gorki Park engagiert, eine melodiöse Hardrockband, die sich nicht nur musikalisch, sondern auch modisch stark an amerikanische Vorbilder anlehnte. Gorki Park symbolisierten in mancher Hinsicht den Wandel, der sich innerhalb der Sowjetunion vollzog. In den Straßen der kalifornischen Hair Metal-Metropolen oder Londons wären die Musiker mit ihren Ledermonturen, den hautengen Röhrenjeans und den langen Haaren kaum aufgefallen, in der sowjetischen Metropole am Finnischen Meerbusen sah die Sache 1988 noch etwas anders aus.

Gorki Park-Gitarrist Alexey Belov hatte sich bereits einen Namen erspielt, lange bevor Michail Gorbatschow die Wende einleitete. Mit diversen Formationen hatte er Platten veröffentlicht, von denen in der UdSSR mehrere Millionen Exemplare verkauft worden waren. An den Umsätzen, die die staatliche Plattenfirma Melodija mit diesen Alben erzielte, waren die Musiker allerdings nicht beteiligt, wie Belov in Leningrad leicht angesäuert beklagte: „Bezahlt wurden wir einmalig pro aufgenommene Minute Musik. Wenn also die Gesamtzeit einer LP hundert Minuten betrug, dann erhielt ich – vorausgesetzt, die Gitarre war die ganzen hundert Minuten lang zu hören – exakt hundert Rubel. Das war‘s, keine Kopeke mehr oder weniger, ganz egal, wie viele Platten anschließend verkauft wurden. Deswegen habe ich mir, sobald sich das politische Klima zu verändern begann, Musiker gesucht, um eine Band nach westlichem Muster zu formen, mit der ich professionell arbeiten kann.

Die Musiker fand er schnell in der Moskauer Szene. Wichtiger noch, er fand mit Stas Namin einen Manager, der nicht nur selbst Musiker war, sondern zudem West-Erfahrung hatte und der eine entscheidende Rolle bei der Organisation des Moscow Music Peace-Festivals ein Jahr später spielen sollte.

Stas Namin war einer der wenigen ganz großen sowjetischen Popstars der frühen Achtziger, deren Platten auch außerhalb des Ostblocks erfolgreich waren und es in amerikanische und australische Hitparaden schafften. Als Gorbatschow damit begann, seine Ideen von Glasnost und Perestroika in die Praxis umzusetzen, erkannte Stas Namin schnell, welche Möglichkeiten ihm die Liberalisierung des sowjetischen Kulturbetriebs eröffneten. Als erster Sowjetbürger gründete er eine private Management- und Produktionsfirma, die auf westliches Know-How zurückgreifen konnte. In seinem Moskauer Gorki Park-Musikcenter stellte er Übungsräume bereit und baute ein semiprofessionelles Tonstudio auf. Dazu kamen eine professionelle Managementfirma, eine eigene Tontechnik, ein Restaurant und eine Freiluftarena im Gorki Park, direkt am Ufer der Moskva. Stas Namin hatte Gorki Park auch die Konzerte im Vorprogramm der Scorpions vermittelt und war mit der Band an die Newa gereist. Für die Scorpions sollte sich dieser erste Kontakt mit Stas Namin noch als sehr wichtig erweisen.

Ohne die bemerkenswerte Fähigkeit der Scorpions, schnell Freundschaften zu schließen und nützliche Kontakte zu pflegen, wären diese Konzerte in der UdSSR im Frühjahr 1988 kaum möglich gewesen, was auch Klaus Meine betont: „In die UdSSR sind wir über den Umweg Ungarn gekommen. Dort hatten wir mit dem Konzertveranstalter Laszlo Hegedus zusammengearbeitet, der wiederum hatte Beziehungen in die Sowjetunion, die er für uns hat spielen lassen.“

In Leningrad spielten die Scorpions vor einem bunt gemischten Publikum, in dem sich Heavy Metal- und Rockfans ebenso fanden wie biedere Familien, die der Hauch des Exotischen angelockt hatte, und viele Soldaten und Milizionäre in Uniform. So gemischt das Publikum auch war, die Resonanz war überwältigend und festigte den Status der Band in der Sowjetunion.

Für die Scorpions war der erste Abstecher in die Sowjetunion keine Konzertreise wie alle anderen. Noch trennte der rostende Eiserne Vorhang zwei grundverschiedene Welten voneinander. Doch 1988 wurden die ersten Risse und Rostlöcher schnell größer und die Grenzen damit zunehmend durchlässiger. „In Leningrad haben wir uns zum ersten Mal als deutsche Band gefühlt“, reflektiert Klaus Meine. „Bis dahin waren wir vor allem eine internationale Band, die zufällig aus Deutschland kam. Aber Leningrad ließ sich nicht mit London, Rio oder Los Angeles vergleichen. In Leningrad, wie überall in Osteuropa, hatten Deutsche nur wenige Jahrzehnte zuvor fürchterlich gewütet. Und da kamen wir nun als deren Kinder in diese Stadt und wurden gastfreundlich aufgenommen. Uns blieb nur, Demut zu zeigen. Für großspuriges Auftreten oder Rockstar-Gehabe war da schlicht kein Platz. Unsere Väter kamen mit Panzern, wir kamen mit Gitarren.“

C 1988/2020/2021 Edgar Klüsener,

Veröffentlicht unter anderen in Metal Hammer Germany, UK, Spain, Greece, France, Spain and Hungary. Auszüge außerdem im Buch ‚Wind of Change‘ (Hannibal 1993)

 

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Ein kleines bisschen Horrorschau: Mit den Toten Hosen in Litauen…

In den späten Achtzigern fegte ein Sturm durch Europa, der alte Gewissheiten über den Haufen warf und Systeme zerbröckeln ließ. Der Eiserne Vorhang, seit Kriegsende die beinahe unüberwindliche Barriere im Herzen Europas, rostete rapide und die Löcher in ihm wurden immer größer, bis er schließlich mit dem Berliner Mauerfall endgültig in Fetzen riss. Eine willkommene Folge war die Öffnung des bis dahin beinahe hermetisch abgeschlossenen Osten Europas für westliche Popkultur – und damit für deutsche Bands. Im September 1988 reiste ich mit den Toten Hosen in die Sowjetrepublik Litauen, wo die Düsseldorfer für das Lituanika-Festival gebucht worden waren. Das Festival stand ganz im Zeichen des sich immer offener präsentierenden litauischen Nationalismus, der sich alle Freiheiten nahm, die ihm Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestroika erlaubte. Lituanika vermittelte eine erste Ahnung davon, dass das Überleben der UdSSR selbst auf dem Spiel stand, dass die zumindest teilweise Auflösung der Union eine zunehmend realistische Option wurde. Diese Reise war meine zweite in die UdSSR, weitere sollten folgen und werden als weitere Zeitgeschichten in Kürze ebenfalls hier veröffentlicht. Doch zunächst einmal stehen Vilnius und Kaunas auf dem Programm. Außerdem die heute leider völlig zu Unrecht vergessene Band Blittzz aus Erfurt, die damals noch unter ihrem alten Namen Prinzz auftrat. Ach ja, zuerst veröffentlicht wurde diese Story in der Oktober Ausgabe des Metal Hammer.

Nach Russland, so hieß es, rolle der Zug mit den Toten Hosen und der Band Ülo an Bord. Von Düsseldorf über Duisburg und quer durch die DDR bis zum Ostberliner Hauptbahnhof – erste Stationen einer Reise, die streckenweise einer konzertierten Vernichtungsaktion für Dosenbier (reichlich vorhanden) und andere Alkoholika glich. Nur war nicht Russland das Ziel, sondern die Sowjetrepublik Litauen, von Stalin im Zweiten Weltkrieg gewaltsam in die Union eingegliedert. Ab Berlin sollten wir einen eigenen Waggon haben, so hatte es geheißen, einen Liegewagen noch dazu. Bis Berlin wurde daher auch kaum geschlafen, stattdessen gegenseitiges Beschnuppern und Kennenlernen.

Beginnen wir also mit Ülo, den „duften Typen aus dem Ruhrgebeat…“

Sänger, Texter, Manager und Organisator Klaus Üdingslohmann (verstorben 2021), kurz Ülo genannt, weiß schon, welches Image auf seine Band am besten passt. Duisburg, Stahl, Kohle und Schimanski … Ruhrpott in Rheinkultur. Als Ruhrgebeat-Band hat sich Ülo in der Vergangenheit bereits solidarisch mit der Region gezeigt. Die Band eröffnete im Februar dieses Jahres das Duisburger ‚AufruhrFestival‘, eine Solidaritätsveranstaltung für die Rheinhausener Stahlwerker, bei auch die Toten Hosen mit von der Partie gewesen waren. Außerdem dabei war Ülos lokaler Konkurrent Peter Bursch mitsamt seiner Bröselmaschine. Mit Ülo hatte, nebenbei bemerkt, alles angefangen.

Vorhang zu und Zwischenspiel

Im Mai 1988 hatte es Ülo erstmals nach Vilnius, Hauptstadt der Sowjet-Republik Litauen und Partnerstadt Duisburgs verschlagen. Auf Einladung der Litauer übrigens, die die Band vorher in Duisburg live begutachtet hatten. Vor gut 25.000 Leuten hatten Ülo aufgespielt und zu gefallen gewusst. So war die Einladung nur folgerichtig. Als zweiten Vertreter schickte die Stadt Duisburg noch das musikalische Aushängeschild Nr. 1 Peter Bursch und’ seine Bröselmaschine auf die Reise – allerdings auf getrenntem Transportweg. Mit Ülo fuhren dagegen die Toten Hosen, deren Vinylerzeugnisse die Litauer unbedingt live umgesetzt erleben wollten. Soweit die Vorgeschichte.

Vorhang auf zum zweiten Akt….

Berlin, Hauptstadt der DDR, also Ost. „Endstation, alles aussteigen!“ Fenster und Türen auf und das Gepäck in Rekordgeschwindigkeit auf den Bahnsteig befördert. „Ähhh, hallo, ähhh…das ist der falsche Bahnhof, ähhh, wir müssen noch’n bisschen weiter. Und der Zug fährt gleich wieder los!

Waaaaaassss???

Der Zeitrekord vom Ausladen wurde beim Wiedereinladen gebrochen. Eine kurze Zeit später dann doch endlich die Ankunft auf dem Hauptbahnhof Berlin (Ost), die vorläufige Endstation. Gute zwei Stunden Aufenthalt und die Frage, wohin mit dem ganzen Gepäck???

Die DDR- Bahnsteigbeamten boten ihren Aufenthaltsraum als Gepäckaufbewahrung an, eine Offerte, die bedenkenlos angenommen wurde. Bedenkenlos? Nun, nicht ganz, schließlich befanden sich unter all der Bagage auch einige Gegenstände von Wert. Vor allem die Paletten Dosenbier seien da genannt, denen denn auch die Hauptsorge galt.

Meinste wirklich, wir können denen unbesorgt dat ganze Bier dalassen?“ Faust, Interim-Mixer der Toten Hosen und die wohlbeleibte gute Seele des Unternehmens, ein wandelndes Warenhaus, das mit allem aufwarten kann (Toilettenpapier? Kein Problem. Aspirin? Grippetabletten? Alles in Fausts Vorräten. Wurst, Eier, Stullen? Faust hat es.) beäugt misstrauisch den Abtransport der Bierpaletten. „Ob wir die wohl noch mal wiedersehen werden?

Soviel vorweg: Wir sollten sie wiedersehen, vollzählig und unbeschädigt. Womit die gute Laune auf der Weiterfahrt gerettet war. Zunächst war jedoch Frühstück in Ost-Berlin angesagt. Also S-Bahn bis zum Alexanderplatz und dann die Suche nach einer frühmorgens bereits geöffneten Lokalität. Die Cafeteria des riesigen Inter Hotels bot sich scheinbar an, erwies sich aber schnell als vergebliche Hoffnung, da der Reisegruppe der Eintritt verwehrt wurde („Haben Sie reserviert? Sind Sie Gäste des Hotels?“). Auch der dezente Hinweis „Wir zahlen in harter Währung, in Westmark“ fruchtete nicht. Gottseidank war auf der anderen Straßenseite noch ein Lokal geöffnet….

Etliche Tassen Kaffee später gings dann weiter Richtung Warschau, sowjetische Grenze und Litauen. Im eigenen Waggon diesmal, ein Liegewagen, ums genauer zu sagen. Zugestiegen waren in diesen außerdem die Westberliner New Waver Boom Operators, die an Trinkfestigkeit und Partymentalität den Punk- und Mainstreamrockern von den Toten Hosen und Ülo in nichts nachstehen sollten. Zur Ost-West-Mixtur wurde die Reisegellschaft schließlich, weil sie den Liegewagen mit einer Abschlussklasse aus der DDR-Stadt Gera teilte.

Vorhang zu und Zwischenspiel…

Lituanika 1988 (Linkziel in litauischer Sprache) war die offizielle Bezeichnung des gut einwöchigen Festivals in der Republik Litauen, zu dem der inzwischen auf einen beachtlichen Umfang angewachsene Tross unterwegs war. Das Lituanika Festival war konzipiert als reines Rockfestival mit Punk-, Thrash-, Heavy Metal – und New Wave-Bands aus den baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen, aus Finnland, den Niederlanden, anderen Teilen der UdSSR und aus West- und Ostdeutschland.

Lituanika stand und steht aber auch für Litauen, für eine erstarkende nationale Bewegung in der nicht ganz freiwilligen Sozialistischen Sowjetrepublik, die in den 30er Jahren dem Hitler-Stalin-Pakt zum Opfer gefallen und völkerrechtswidrig von der Sowjetunion annektiert worden war.

Der Club Lituanika, Veranstalter und Organisator des Festivals, ist eine private Organisation, hervorgegangen aus der Jugendorganisation der KPdSU, der Komsomol, und zugleich stark involviert in die nationale Bewegung. Somit hatte das Festival von Anfang an eine politische Dimension, an der niemand, auch die beteiligten Bands, auf Dauer vorbeikam.

Vorhang auf und weiter im Text…

,,Könne mer n Autojramm ham???

Sächselnde Jungmädchenstimmen zu nachtschlafender Zeit im geschlossenen Abteil?

Als wir euch,“ gemeint sind die Toten Hosen, ,,aufm Bahnhof gesehn ham, da hat’s in der Klasse ne Diskussion gegehm. Die meisten meintn, dass ihr irjendwie nachgemacht ausseht, so Möchtejern-Panx und so…

Katrin aus Gera ist inzwischen von der Authentizität der Toten Hosen überzeugt, ebenso ihre Schulkameradinnen und -kameraden.

Deutsch-deutsche Diskussionen mit dem Tenor „…bei uns iss dat so und so —- jaaaa, bei uns iss dat jenau so…. Oder auch nicht und ganz anders…“ beherrschen in den folgenden Stunden die Gespräche auf dem Gang. Zumindrest was die männlichen Schüler angeht. Die weiblichen zogen die Atmosphäre des Ülo-Abteils … ähem, lassen wir das.

Die konzertierte ost-westliche Biervernichtungsaktion, von der Flasche Jägermeister mal ganz zu schweigen, nahm ihren unerbittlichen Lauf. Gegen Morgen allerdings herrschte Ruhe im Abteil, unterbrochen nur durch gelegentliche Schnarchtöne. Und durch Legionen von Grenzbeamten, Zöllnern und anderen Offiziellen, die in Fünfminuten-Abständen die Pässe kontrollierten, das Gepäck kontrollierten, die Pässe kontrollierten … von geruhsamem Schlaf konnte schon bald keine Rede mehr sein.

Weiter ging’s nach Vilnius. Dort angekommen, warteten schon Alge auf Ülo und Wita auf die Toten Hosen. Die jungen Damen sprachen flüssig Deutsch, zumindest Alge, und waren als Betreuerinnen und Verantwortliche für das körperliche und geistige Wohl ihrer Schutzbefohlenen wahre Engel – zumindest Alge.

Vorhang zu, Zwischenspiel…

Mindaugas Cerniauskas:

Das letzte große Festival dieser Art hatte 1980 in der georgischen Hauptstadt Tiflis stattgefunden. Danach gab es bis 1986 kein unionsweites Rockfestival mehr, lediglich Jokale oder regionale Veranstaltungen dieser Art wurden von den Behörden mehr oder weniger erlaubt. Als eine Gruppe litauischer Komsomol-Mitglieder 1986 daran ging, das erste Lituanika-Festival zu organisieren, stieß sie schon in der Anfangsphase der Vorbereitungen auf teilweise erbitterten Widerstand im Komsomol und in der Partei. Einige der eingeladenen Bands wurden als anti-sowjetisch eingestuft und ihre Teilnahme am Festival schlicht verboten.

Aha….

Die Veranstalter ließen sich von all dem nicht irritieren und machten einfach weiter. Mit dem Resultat, dass schließlich das ganze Projekt Lituanika zu einem anti-sowjetischen Ereignis erklärt wurde. Es fand trotzdem statt und wurde ein voller Erfolg. Ebenso wie das Nachfolgefestival im Jahre 1987, das allerdings im Vorfeld noch heißer umkämpft war als das 86er Festival und unter anderem zu einem vorübergehenden Ausschluss des Präsidenten des Clubs Lituanika, Mindaugas Cerniauskas, aus der Partei führte.

Cerniauskas: „Der Komsomol hatte rund 800 Unterschriften gegen das Festival und gegen das ZK der litauischen KP gesammelt, welches dem Projekt ursprünglich durchaus wohlwollend gegenüber gestanden hatte. Nach dieser Aktion änderte sich die Einstellung des ZK und die Konservativen ergriffen die Initiative. Ich wurde aus der Partei ausgeschlossen...“

Das Festival fand trotzdem statt, wurde ein noch größerer Erfolg und Mindaugas wieder in die Partei aufgenommen. Der Komsomol jedoch hatte seine Monopolstellung in der Jugendarbeit endgültig verloren, der Club Lituanika, nach wie vor mit Mindaugas als Präsident, arbeitet seitdem selbständig – und das seit Verabschiedung eines neuen Gesetzes in diesem Jahr auch völlig legal.

Vorhang auf zum Höhepunkt….

Das soll unser Hotel sein ???????!!!!”

Ähhhh, jjjaaa…”

Das „Hotel entpuppte sich als riesiger Betonkomplex der Marke „Jugendherberge der schlechtesten Sorte’. Ülo und die Toten Hosen beschlossen: Da kriegt uns keiner rein und kampierten erst einmal vor dem Gebäude, während Wita, Alge, Trini Trimpop und Ülo die Lage peilten. Die ersten Nachrichten aus dem Inneren der Gebäude bestätigten nur den niederschmetternden äußeren Eindruck: „Also, Toiletten gibt’s nur als Gemeinschaftsklos, und Duschen oder Badewannen haben wir überhaupt noch nicht entdecken können.

Laut Vertrag war das Interhotel zugesichert worden. Als dann noch bekannt wurde, dass alle anderen Bands mit ausreichendem Komfort und in Stadtnähe untergebracht worden waren, schlug die Stimmung endgültig um.

Mit dem Bescheid „Entweder ein anderes Hotel oder Fahrkarten Richtung Deutschland !” wurde den Betreuerinnen die Marschrichtung vorgegeben. Und siehe da: Plötzlich gab es doch ein freies Hotel in der Innenstadt, mit Duschen und Toiletten.

Hallo Peter.”

Hallo Jungs..!

Der erste Hotelgast, der uns über den Weg lief, war Ülos Lokalkonkurrent und Gitarrenguru Peter Bursch, der samt Band Bröselmaschine gerade von den Proben aus der nahegelegenen Sporthalle zurückkam.

Der Rest des Tages, wir schreiben übrigens den 14.9.1988, war frei. Duschen, schlafen, Stadtbesichtigung und schließlich ein Besuch in der Sporthalle … jeder tat das, wonach ihm gerade zumute war.

Die Sporthalle hat durchaus amerikanische Ausmaße und faßt, über den Daumen gepeilt, 15.000 Leute,.Die Stimmung war gut in der Halle und gab somit schon einen Vorgeschmack auf das, was die Toten Hosen und Ülo an den folgenden. Tagen erwarten würde. Vor allem Honey B & T-Bones, eine finnische Band, räumten voll ab mit ihrem traditionellen Blues-Rock und brachten das Publikum, einzelne anwesende Soldaten eingeschlossen, streckenweise gar zum Tanzen,

Sieger des Abends sollte dem Vernehmen nach allerdings die DDR-BandPrinzz gewesen sein, die wir selbst erst zwei Tage später auf dem Kaunas-Festival live erleben konnten. Prinzz, gegründet 1981 in Erfurt, waren ursprünglich das DDR-Äquivalent einer NdW-Band mit deutschen Texten, hatten sich aber kurz vor dem Gig in Vilnius endgültig für eine wesentlich härtere Gangart entschieden. Um diesen Schritt nach außen zu dokumentieren, hatten sie sich in Blitzz umbenannt, mussten in Vilnius aber mit neuer Musik noch unter altem Namen auftreten. 

Am nächsten Morgen war für die Toten Hosen Soundcheck angesagt, und damit kam Fausts große Stunde. John Caffery, der eigentliche Toningenieur der Hosen, hatte daheim bleiben müssen, und so musste Faust, ansonsten eigentlich der Fahrer und das wandelnde Warenhaus der Band, einspringen. Zum ersten Mal seit fast drei Jahren saß Faust wieder hinter dem Mischpult der Hosen — und warf erstmal alle Einstellungen über den Haufen.

Zudem kämpfte Faust mit dem ins Mischpult eingebauten Limiter. Über eine gewisse Lautstärke, die natürlich zu leise war, kam er einfach nicht hinaus.

Kann man dat Ding nich einfach außer Gefecht setzen???

Neee, dann würden wir glatt die Boxen durchblasen…

Na und ???

Außerdem passen die Jungs da oben wie die Schießhunde auf auf ihre Anlage!!!“

Scheiße! Dann eben den Gesamtsound ’n bisschen runterfahren!“

Vorhang auf zum vorletzten Akt…

Die nach wie vor illegale litauische Nationalhymne a capella, und Katedra hatten gewonnen. Das Publikum hielt brennende Feuerzeuge in die Höhe, sang lauthals mit und applaudierte anschließend minutenlang. Die litauischen Lokalmatadoren, ansonsten eine reinrassige Thrashband, musikalisch wie technisch top und besser als 90 Prozent aller westlichen Kollegen (sorry Jungs und Mädels, aber leider wahr), zeigten, wo es in Litauen zur Zeit lang geht. Der Zug rollt in Richtung Unabhängigkeit; wo er allerdings enden wird, ist zur Zeit absolut noch nicht klar.

Wesentlich schlechtere Karten hatte an diesem Abend die Leningrader, und damit russische, Band O (Nol) gehabt, die, obwohl ebenfalls verdammt gut, wenn auch eher in der traditionellen Punkecke angesiedelt, vom Publikum ausgesprochen kühl behandelt worden war. Sie waren halt Russen und damit, gleich ob gut oder‘ schlecht, von vornherein unbeliebt.

Nach Katedra und der litauischen Hymne dann die Toten Hosen. Die waren zwar auch nicht litauisch, aber der frühere – und ebenfalls berechtigte – Hass auf alles Deutsche scheint inzwischen in Litauen vergessen zu sein. Spätestens mit „Disco in Moskau“ war die Schlacht um die Gunst des Publikums an allen Fronten gewonnen.

Campino war in Hochform, suchte den Kontakt mit dem Publikum, fand ihn und peitschte es regelrecht auf. Die Ansagen auf Englisch, die Texte deutsch, die Landessprache litauisch: Babylon live in Vilnius. Das heißt, nicht ganz: Eine Sprache verstanden sie alle gleich gut, Rock ’n’ Roll heißt die, und verbreitet ist sie – für alle Kids verständlich – rund um diesen gottverdammten Globus.

Die Hosen waren in Hochform, wenn auch die Pyramide mit dem Absturz des Sängers endete und sich mit einem Male alles auf den Bühnenbrettern wälzte.

Veranstalter und Publikum waren sich einig: Beste Band des Tages waren die Toten Hosen aus Westdeutschland und verliehen der Gruppe einen entsprechenden Preis,

Davon abgesehen, für viele Metaller immer noch nicht selbstverständlich, sind die Toten Hosen, und das haben sie in Vilnius nachdrücklich unter Beweis gestellt, tatsächlich eine Rockband. Sie vereinen in ihrer Musik Elemente traditionellen Punks der 70er Jahre (Sex Pistols, frühe Clash, Sham96, T.V. Smith oder The Damned) und amerikanischen Garage-Rocks mit Heavy-Rock-Einflüssen. Im Gegensatz zum Gros der zeitgenössischen Heavy Metal-Genossen zeigen sich die Hosen allerdings in ihren Texten sehr viel bewusster und reflektieren gelebte Alltagswirklichkeiten. Die neue LP „Ein kleines bisschen Horrorschau“ sei schon aus diesen Gründen wärmstens empfohlen.

Nach dem Gig stand Party auf dem Programm, zu der sich auch Prinzz, die Vertreter des DDR-Metals, angesagt hatten.

Vorhang zu, letztes Zwischenspiel,..

Also, das freut mich ja wirklich. Da sind DDR-Mädchen, die nich auf Bundie-Pässe und Westmark abfahren, sondern sich tatsächlich mal mit unseren eigenen Jungs abgeben. Das is wirklich ungewöhnlich.“

Lutz, Soundengineer der DDR-Band Prinzz, kommt aus dem Staunen nicht mehr raus,

Die Mädchen übrigens waren schon bekannt aus D-Zug-Zeiten und Ülo-Waggons. Losgelöst von Lehrpersonal und Aufsichtspersönchen hatten sie sich zum Festival eingefunden und hingen nun mit den Jungs von Prinzz rum. Bis auf eine, mit der Campino ins Gespräch gekommen war und die dann später, als die Frage nach dem freien Bett aufkam, kameradschaftlich von einem Angehörigen des Ülo-Trosses auf einer unbelegten Matratze untergebracht wurde.

Als DDR-Band hat man es ansonsten tatsächlich schwer, vor allem, wenn man wie Prinzz (Blitzz) Heavy Metal spielt und dann auch noch englische Texte singt.

Es gibt da noch ’n anderes Problem: Bei uns im Osten wollen die Fans nur nachgespielte Sachen von X oder Y aus dem Westen, also internationale ‚Standards. Material von einer DDR-Band? Nee, danke, kein Interesse. Wir spielen aber nur eigenes Material, so dass es ziemlich schwer ist, vom heimischen Publikum überhaupt akzeptiert zu werden.” Inzwischen werden Prinzz in der DDR immer stärker akzeptiert, von den Fans wie von den Medien. Tatsächlich sind sie zur Zeit eine der interessantesten deutschen Metal-Bands (Ost und West) überhaupt, was nicht zuletzt auch ein Verdienst der Sängerin Kerstin ist. Prinzz Gitarrist Flatsch bekam sein Mädchen aus der DDR mit ins Bett, allerdings : „Ich muss wohl irgendwie zu besoffen gewesen sein, gelaufen ist da jedenfalls nix.“

Gelaufen ist übrigens auch bei den Toten Hosen nix, obwohl Kiki und Bollock (Tourneeleiter und Chefroadie) häufiger mal die Anfrage „Ficken???“ starteten…

Dafür floss, trotz Prohibition und dank Schwarzmarkt, der Hochprozentige in Strömen.

Vorhang auf zum Finale

Die Party lief im Studentenheim von Vilnius, genauer gesagt in den Räumlichkeiten, die der Club Lituanika mit Videoanlage, und zwei Fernsehern ausgestattet hatte, über die die Konzerte des Abends noch einmal flimmerten. Zum Inventar gehörte außerdem eine sehr guten Discotheken-Anlage. Das Ganze ähnelte einem typisch westlichen Club, zumal auch das gesamte Equipment aus westlichen bzw. fernöstlichen Markenfabriken stammte.

Kaunas, die zweite Stadt, in der die Toten Hosen auf die Bühne sollten, ist nach Vilnius die bedeutendste Metropole Litauens, war zeitweise Hauptstadt Litauens und ist heute ein wichtiges kulturelles, wirtschaftliches und industrielles Zentrum der Sowjetrepublik. Knapp 100 Kilometer legen zwischen den beiden Metropolen des baltischen Staates. In Kaunas fand eine Nebenveranstaltung der Lituanika ’88 statt, die ebenso ausverkauft war wie das Hauptprogramm in Vilnius.

Entsprechend tot waren nach dieser Party denn auch einige Mitreisende am nächsten Morgen, als es hieß: Der Bus nach Kaunas wartet! Mit beträchtlicher Verspätung ging es auf die Autobahn, nicht allzuweit, denn nach etwa 50 Kilometern strandete der Bus samt Besatzung irgendwo im litauischen Nirgendwo. Motor überhitzt, Kühlwasser weg, das klang nach Kühlerleck. So war es tatsächlich. Die große Zeit der Improvisation begann. Während einige Mitglieder der Reisegruppe ihr Heil im Autostopp suchten, lagerten andere friedlich am Straßenrand. Der Fahrer begab sich derweil samt Kanister in die umliegenden Felder und suchte eine Wasserquelle.

Irgendwann ging’s tatsächlich weiter. In der Sporthalle Kaunas eingetroffen gab’s ein bemerkenswertes Bild zu sehen: Die Lichttraverse war auf die Bühne gekracht. Was nicht weiter verwunderte, wenn man genauer hinsah, Die Befestigungen waren offensichtlich dem Gewicht der Traverse nicht gewachsen gewesen. Dennoch sollte sie wieder hochgezogen werden – was allerdings auf erbitterten Widerstand aller anwesenden Drummer stieß. Die Traverse nämlich hing genau über dem Stuhl des Schlagzeugers. Die Traverse blieb unten und das Festival nahm seinen Lauf. Die Boom Operators (West Berlin) traten auf und hinterließen einen phantastischen Eindruck. Die Band ist unbedingt sehenswert – wenn man eine interessante Mischung aus New Wave und Rock zu schätzen weiß. Ähnlich gilt für die niederländische Band Kadaverbak, die nach ihnen dran waren. Dann schlug die Stunde für Prinzz. Obwohl Sängerin Kerstin stark erkältet auf die Bühne kletterte, legten die Ostmetaller einen brillanten Gig hin. Musikalisch ist Prinzz irgendwo zwischen Metallica und Alice Cooper (dessen ‚School’s Out’ sie coverten) anzusiedeln. Ihren ganz eigenen Charakter verdankt die Musik der Band aber der außergewöhnlichen Stimme und Bühnenpräsenz von Frontfrau Kerstin Radtke. Zu dem Zeitpunkt hatte die Band sich bereits von Prinzz zu Blitzz umbenannt, trat aber noch unter dem alten Namen auf.

Von Prinzz zu den Toten Hosen. Die hatten zunächst mal die Roadcrew in die Stadt jagen müssen: „Jungs, wir brauchen BIER!“

Die Jungs waren Gottseidank rechtzeitig zum Auftritt wieder zurück — mit Bier.

Auf der Bühne schließlich wieder Hosen in Bestform, eine beeindruckende Liveband, die vor Publikum alle Register zieht und dementsprechend auch an diesem Tag die Halle in einen Hexenkessel verwandelte, nicht zuletzt weil sie mit Campino einen Frontmann mit enormem Charisma ihaben, dem sich live kaum jemand entziehen kann; dem er dann selbst allerdings auch fast zum Opfer fiel, als er sich in die Menge begab. Kiki und Bollock hatten einige Mühe, ihn aus einer Traube von Kids zu befreien und ihn wieder heil auf die Bühne zu bringen – mit nacktem Oberkörper, das T-Shirt war ihm vom Leibe gezogen worden. Nach dem Auftritt ging’s zurück nach Vilnius und noch einmal zur Party, wo es in etwa so abging wie am Vorabend.

Vorhang zu, Saallichter an…

Wo sind denn …???

Bier holen !

Aber der Zug…

Die schaffen das schon noch rechtzeitig…

Sie schafften es rechtzeitig, beladen mit einigen Paletten feinsten Dosenbiers.

Sollten wir nicht ein eigenes Abteil haben?

Ja.“

Wat machen denn dann die ganzen Leute hier drin???

Kein eigenes Abteil. Der Schaffner tat sein bestes, alle halbwegs unterzubringen. Er schaffte es nicht ganz. Die Rückfahrt also in einer gemischten russisch-deutschen Abteilbesetzung, die zum guten Ende zu einigen sehr interessanten Kontakten und Gesprächen führte. Wen kümmerte es da noch, dass von Warschau an das eigene Abteil für die Toten Hosen völlig leer am Zug hing, während wir uns im vollgepackten Liegewagen drängelten, den Schaffner aus seiner Kabine warfen und diese zur Spielhölle umfunktionierten?

Ärgerlich war es allerdings doch etwas, als wir in Ost-Berlin, inzwischen völlig übermüdet und kaputt, endlich von dem eigens für uns angehängten Kurswagen erfuhren…

C 2022 MuzikQuest/ Edgar Klüsener, Erstveröffentlichung in Metal Hammer 10/1988

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