Kategorien
Aktuell Musik Reportagen Zeitgeschichten

Barrieren überwinden: The Scorpions in Leningrad 1988

In den späten Achtzigern fegte ein Sturm durch Europa, der alte Gewissheiten über den Haufen warf und Systeme zerbröckeln ließ. Der Eiserne Vorhang, seit Ende des Zweiten Weltkriegs die beinahe unüberwindliche Barriere im Herzen Europas, rostete rapide und die Löcher in ihm wurden immer größer, bis er schließlich mit dem Berliner Mauerfall endgültig in Fetzen riss. Eine willkommene Folge war die Öffnung des bis dahin beinahe hermetisch abgeschlossenen Osten Europas für westliche Popkultur – und damit für deutsche Bands. Eine Reihe von Zeitgeschichten schildern Aufbrüche in Ost und West, erste zaghafte Reisen westlicher Musiker hinter den Eisernen Vorhang, Andeutungen künftiger Umwälzungen und Revolution, das Keimen von Hoffnungen,, die am Ende auf den Schlachtfeldern der Ukraine einmal mehr – Geschichte wiederholt sich doch, wenn auch in immer etwas anderen Szenarien – im Blut ertrinken. Insgesamt fünf Zeitgeschichten reflektieren eine sehr kurze Periode von gerade einmal fünf Jahren. Den Anfang macht diese hier, die  Schilderung des ersten Besuchs der Scorpions in der Sowjetunion im April 1988. Im September 1988 fuhr ich dann mit den Toten Hosen nach Litauen, wo eine erstarkende Unabhängigkeitsbewegung immer öffentlicher wurde. Im tiefen Winter 1988 traf ich in Moskau Stas Namin, Bon Jovi und andere Akteure, die ein sowjetisches Woodstock auf die Beine stellen wollten. Das fand dann im August 1989 statt, und ist das Thema einer weiteren Zeitgeschichte. Die letzte Zeitgeschichte in dieser Reihe beschreibt die Reise von Kreator in den frühen Neunzigern in ein Moskau, das sich bereits rapide verändert hatte. Die Sowjetunion gab es nicht mehr, Grenzen wurden überall neu gezogen, und Russland verstand sich zunehmend als Verlierer der friedlichen Revolution, die Europas Angesicht von Grund auf verändert hatte. In Moskau wie im Rest Russlands wurden die nationalistischen Töne immer lauter und ein düsterer Revanchismus wurde zur Ideologie zumindest in rechten Kreisen. Mit dieser Zeitgeschichte endet dann der Russland-Zyklus. 

In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts war Westeuropa zusammengewachsen und die Grenzanlagen wurden immer durchlässiger. Man besuchte sich zwanglos, lebte im einen Land und arbeitete im anderen – eine neue, europäische Realität formte sich, die von den Bürgern auch als solche erlebt wurde. Die Spaltung des Kontinents, und damit die Spaltung Deutschlands, in Ost und West allerdings bestanden fort. Die tiefgreifenden Veränderungen und Revolutionen der späten Siebziger und frühen Achtziger fanden im Westen zunächst im Stillen statt und wurden vor allem von neuen Technologien angetrieben. Die Achtziger waren das Jahrzehnt, in dem eine technologische Revolution anfangs kaum merklich Fahrt aufnahm, die am Ende die Musikindustrie in ihren Grundfesten erschüttern sollte. Erschüttert und über den Haufen geworfen wurde auch ein für alle Mal die Art und Weise, in der Musik gehört, erlebt, empfunden und konsumiert wird.

Revolutionen sind weder gut noch böse. Wie auch immer sie enden, ob mit einer Republik, mit einer Demokratie, einem sozialistischen Staat, einer totalitären Diktatur oder einer islamischen Republik – ihr eigentliches Wesen ist die radikale Veränderung, nicht die neue Ordnung danach. Politische Revolutionen müssen nicht unbedingt von unten kommen, begonnen und ausgefochten von Kräften, die in Opposition zur existierenden Ordnung stehen und diese verändern wollen. Revolutionen können auch von oben initiiert werden. Manchmal reicht dazu ein einfacher Verwaltungsakt, die Anweisung, ein Element des Status Quo zu modifizieren. Die Folgen dieses Verwaltungsaktes scheinen absehbar und wohl kalkulierbar. Doch kein Verwaltungsakt kann für sich allein stehen, jeder bewirkt eine Veränderung am Gesamtgefüge, die zwangsläufig weitere Veränderungen nach sich zieht. Und plötzlich kommt eine Lawine ins Rollen, die der ursprüngliche Verwaltungsakt sicherlich nicht auslösen sollte, die aber unaufhaltsam die alte Ordnung zerstört.

Michail Sergejewitsch Gorbatschow wurde im März 1985 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gewählt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Land bereits in einer tiefen ökonomischen Krise. Der 1979 begonnene Krieg in Afghanistan hatte sich zum sowjetischen Vietnam entwickelt, ein Konflikt, der enorme Massen an Kapital und Material verschlang und viele junge Sowjetsoldaten das Leben kostete. Dieser Krieg, das war sowjetischen Militärs und einigen hellsichtigen Mitgliedern des Politbüros bereits 1985 klar, konnte mit konventionellen Mitteln nicht gewonnen werden. Wenn er überhaupt gewonnen werden konnte. Ein Blick in die Geschichte des späten 19. Jahrhunderts hätte den Sowjets eine Warnung sein sollen, als sie sich am 25. Dezember 1979 dazu entschieden, militärisch in den afghanischen Bürgerkrieg einzugreifen. Denn bereits im ersten Anglo-Afghanischen Krieg vom Juli 1839 bis Oktober 1842 hatte das britische Empire eine empfindliche Niederlage gegen afghanische Stammeskrieger einstecken müssen und über 20.000 Mann verloren.

Die Belastungen durch den Krieg, ein erstarrtes und unflexibles Wirtschaftssystem, das nach den planerischen Prinzipien der US-amerikanischen Ingenieure Taylor und Ford organisiert war, veraltete Industrien und ineffiziente Verwaltungsstrukturen hatten die UdSSR in eine politische und ökonomische Krise schlittern lassen, die durch die Kosten des Rüstungswettlaufs mit dem Westen noch dramatisch verschärft wurde.

Gorbatschow wollte sich diesen Problemen mit einem reformerischen politischen und ökonomischen Ansatz stellen. Die Leitlinien, verkündet direkt nach seinem Amtsantritt im April 1985, hießen Umbau des Systems (Perestroika) und Transparenz (Glasnost). Umbau allerdings nicht als Revolution, sondern als Reform, als kontrollierte Veränderung, initiiert durch Verwaltungsvorschriften und gezielte Eingriffe in die Mechanismen von Institutionen. Glasnost bedeutete vor allem, dass Missstände offen kritisiert werden sollten; in der Tradition von Kritik und Selbstkritik sollte die Benennung von Fehlern zu deren Behebung führen. Die Verwaltungsvorschriften waren erlassen, der Plan wurde in die Tat umgesetzt. Welche weitreichenden Folgen vor allem Glasnost haben sollte, war im April 1985 unmöglich vorhersehbar.

Dass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurden (zuvor traten Uriah Heep 1987 zehnmal in Moskau auf).

Scorpions, Crew und Journalisten vor der Konzerthalle (und der Autor im Vordergrund)

Leise dümpelte der Panzerkreuzer Aurora vor sich hin, mit dem Ufer der Newa fest verbunden durch einen stählernen Laufsteg. Aus seinen Kanonen hatten meuternde russische Matrosen in der Nacht vom 25. Oktober 1917 mit Platzpatronen das Signal zum Sturm auf den Winterpalast des Zaren gegeben, der Startschuss für die Russische Revolution, die das Ende des Zarenreiches einläutete und mit der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken enden sollte. Die UdSSR schien an jenem kalten Apriltag 1988 noch unerschütterlich, an dem sich eine Gruppe junger Männer mit langen Haaren, gekleidet in nietenbeschlagene Lederjacken und hautenge schwarze Lederhosen, an den Füßen silberbeschlagene Cowboystiefel, die Augen verborgen hinter dunklen Sonnenbrillen, vor dem Laufsteg drängelte und Einlass suchte in das zum Revolutionsmuseum umfunktionierte Kanonenboot. Westliche Dekadenz in Reinkultur, so mag diese Gruppe ungläubig schauenden Leningradern erschienen sein. In ihrem Gefolge fand sich ein Tross von Fotografen, Journalisten, Freunden und Betreuern, alle vom Erscheinungsbild her unverkennbar westlich und in deutscher und englischer Sprache wild durcheinander palavernd.

In einigen Metern Entfernung von der auffälligen Reisegruppe lungerten einige russische Teenager herum, die sie aufmerksam beäugten. Einer hielt das sowjetische Äquivalent eines Ghettoblasters im Arm. Er lächelte zu den Westbesuchern hinüber und drückte auf den Startknopf des Kassettenspielers. Aus den Lautsprechern dröhnte leicht verzerrt einer der damals größten Hits der Scorpions, die Ballade „Still Loving You“. Die Jugendlichen winkten schüchtern zu der Gruppe an der Aurora hinüber, in denen sie zu Recht die Scorpions erkannt hatten. Dass sie auch auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs schon bekannte Größen waren, hatten die Musiker in den Tagen seit ihrer Anreise zu ihrer eigenen Überraschung lernen können. Der Eiserne Vorhang schien zwar politisch noch unüberwindlich, war aber nicht so hermetisch von westlicher Popkultur abgeschirmt, wie es von außerhalb erscheinen mochte.

Klaus Meine kommentierte damals mit Blick auf die Gruppe von Teenagern: „Das begann schon am Moskauer Flughafen. Obwohl wir dort nur zwischengelandet waren und die Aufenthaltszeit bis zum Weiterflug nach Leningrad (das heutige St. Petersburg) nur kurz bemessen war, tauchte dort eine Menge Jugendlicher mit tragbaren Kassetten-Rekordern auf, die sie uns entgegenhielten und aus deren Lautsprechern unsere Songs schepperten.

Insgesamt zehn Konzerte sollten die Scorpions in diesem kalten April in der Zarenstadt am Finnischen Meerbusen spielen. An allen Tagen war die Leningrader Sporthalle, ein imposanter Rundbau, der der Dortmunder Westfalenhalle 1 ähnelte, aber noch etwas größer war als das westfälische Juwel, restlos gefüllt. Der Ausflug in die Sowjetunion ergab wirtschaftlich wenig Sinn und war eher Ausdruck einer Lebensphilosophie, die dem Handeln der Band seit frühen Tagen zugrunde lag. Rudolf Schenker beschrieb diese damals so: „Wir wollen Neuland erkunden, want to break barriers (wollen Schranken niederreißen).

Diese Neugier auf die Welt war es, die die Band von Anfang an vorwärts trieb. Eine Neugier, die sie empfänglich machte für andere Kulturen und Lebens- und Denkweisen und die zudem die Sinne für Entwicklungen schärfte, die unter scheinbar ruhigen Oberflächen stattfanden. Was sie in Leningrad vorfanden, war eine Sowjetunion, in der ein erbitterter interner Konflikt zDass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurdenwischen Reformern und Konservativen tobte. Auf der einen Seite fand sich der Zirkel um Gorbatschow, auf der anderen deren reaktionäre Gegenspieler um Jegor Kusmitsch Ligatschow, den Gorbatschow selbst ins Politbüro der KPdSU geholt hatte und der lange Zeit als der zweite Mann nach dem Generalsekretär galt. Dass sich ein Umbruch anbahnte in der Sowjetunion – und damit in ganz Osteuropa – erkannte Klaus Meine bereits in Leningrad: „Wir spielen hier als erste westdeutsche Rockband. Wir zahlen alles aus eigener Tasche, eine Investition, die sich aber trotzdem lohnt. Wir brechen das Eis und öffnen hoffentlich Türen für andere deutsche und westliche Bands.“ Er zögerte einen Moment und fügte dann hinzu: „Solange sich die politische Lage nicht wieder verschlechtert.“ Die angesprochene Verschlechterung lag 1988 durchaus noch im Bereich des Möglichen, die Machtkämpfe innerhalb der KPdSU hatten auch direkten Einfluss auf die Konzertplanung der Scorpions gehabt.

Ursprünglich hatte die Band zunächst fünf Konzerte in Moskau und dann fünf weitere in Leningrad spielen sollen, doch dann machten die Moskauer Behörden wegen der bevorstehenden Maifeierlichkeiten Sicherheitsbedenken geltend und sagten die Termine in der Hauptstadt kurzerhand ab. Für Klaus Meine damals zwar ärgerlich, aber:

„Hier in Leningrad ist alles so interessant und beeindruckend, dass es uns am Ende doch weniger ausmacht als gedacht. Im Gegenteil, wir kommen kaum dazu, all die Eindrücke zu verarbeiten, die in diesen Tagen auf uns einstürzen und die uns regelrecht überwältigen.“

Zu diesen Eindrücken gehörten auch die Gruppen von Fans, die sich vor dem Hotel Pulkowskaja, damals die erste Adresse in der Stadt an der Newa und mit westlichem Komfort ausgestattet, drängten. Viele waren eigens für das Konzert aus anderen Teilen der UdSSR angereist, einer hatte Eis, Schnee und bitterer Kälte getrotzt, um aus dem fernen Sibirien per Anhalter nach Leningrad zu gelangen, um seine Lieblingsgruppe einmal live erleben zu können. Als die Scorpions von seiner Geschichte erfuhren, luden sie ihn zu einem Treffen ein und arrangierten für ihn außerdem freien Eintritt für die Konzerte.

In diesen zehn Tagen verschanzten sich die Musiker nicht in der Enklave mit westlichen Annehmlichkeiten, die das Pulkowskaja bot, sondern drängten hinaus in die Stadt, um sie zu sehen, riechen, fühlen und erleben. In einer Nacht landeten sie in einem der halblegalen, stickigen und verrauchten Untergrund-Clubs Leningrads, wo eine örtliche Rockband aufspielte. KDass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurdenDass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurdenurzentschlossen sprangen sie auf die Bühne und das zunächst verdutzte, dann begeisterte Publikum erlebte eine ausgedehnte Jamsession mit Musikern beider Bands. Später erinnerte sich Gitarrist Matthias Jabs mit Schaudern an das Equipment der Russen: „Die Verstärker lieferten eine Art Apfelsinenkisten-Sound, die Gitarren waren ‚Marke Eigenbau‘ und der Club war kaum mehr als ein mittelprächtiger Übungsraum. Der Sound war schrecklich, aber es hat dennoch mächtig Spaß gemacht. Bei der Gelegenheit ist mir erstmals so richtig klar geworden, unter welch miserablen Bedingungen russische Musiker arbeiten müssen.

Rockmusik, das machte nicht nur dieser nächtliche Ausflug in den subkulturellen Untergrund Leningrads klar, hatte sich in der Sowjetunion längst etabliert. Singles und Langspielplatten wurden seit Jahren aus dem Westen kontinuierlich ins Land geschmuggelt oder ganz einfach dreist und ohne Rücksicht auf irgendwelche westlichen Copyrights von der staatlichen Plattenfirma Melodija kopiert und in beachtlichen Stückzahlen an die sowjetische Jugend verkauft. Rockmusik kam auch über den Äther: Amerikanische Propagandasender wie Radio Free Europe/Radio Liberty oder Voice of America strahlten sie gezielt in den damaligen Ostblock aus. Rockbands gab es in jeder größeren Stadt und sie hatten durchaus ihr Publikum. Einige wie die Schwermetaller Kruiz oder Shah machten Ende der Achtziger des vergangenen Jahrhunderts bereits im Westen von sich reden.

Als Vorband hatte das staatliche Veranstaltungs- und Konzertbüro Goskonzert die Moskauer Band Gorki Park engagiert, eine melodiöse Hardrockband, die sich nicht nur musikalisch, sondern auch modisch stark an amerikanische Vorbilder anlehnte. Gorki Park symbolisierten in mancher Hinsicht den Wandel, der sich innerhalb der Sowjetunion vollzog. In den Straßen der kalifornischen Hair Metal-Metropolen oder Londons wären die Musiker mit ihren Ledermonturen, den hautengen Röhrenjeans und den langen Haaren kaum aufgefallen, in der sowjetischen Metropole am Finnischen Meerbusen sah die Sache 1988 noch etwas anders aus.

Gorki Park-Gitarrist Alexey Belov hatte sich bereits einen Namen erspielt, lange bevor Michail Gorbatschow die Wende einleitete. Mit diversen Formationen hatte er Platten veröffentlicht, von denen in der UdSSR mehrere Millionen Exemplare verkauft worden waren. An den Umsätzen, die die staatliche Plattenfirma Melodija mit diesen Alben erzielte, waren die Musiker allerdings nicht beteiligt, wie Belov in Leningrad leicht angesäuert beklagte: „Bezahlt wurden wir einmalig pro aufgenommene Minute Musik. Wenn also die Gesamtzeit einer LP hundert Minuten betrug, dann erhielt ich – vorausgesetzt, die Gitarre war die ganzen hundert Minuten lang zu hören – exakt hundert Rubel. Das war‘s, keine Kopeke mehr oder weniger, ganz egal, wie viele Platten anschließend verkauft wurden. Deswegen habe ich mir, sobald sich das politische Klima zu verändern begann, Musiker gesucht, um eine Band nach westlichem Muster zu formen, mit der ich professionell arbeiten kann.

Die Musiker fand er schnell in der Moskauer Szene. Wichtiger noch, er fand mit Stas Namin einen Manager, der nicht nur selbst Musiker war, sondern zudem West-Erfahrung hatte und der eine entscheidende Rolle bei der Organisation des Moscow Music Peace-Festivals ein Jahr später spielen sollte.

Stas Namin war einer der wenigen ganz großen sowjetischen Popstars der frühen Achtziger, deren Platten auch außerhalb des Ostblocks erfolgreich waren und es in amerikanische und australische Hitparaden schafften. Als Gorbatschow damit begann, seine Ideen von Glasnost und Perestroika in die Praxis umzusetzen, erkannte Stas Namin schnell, welche Möglichkeiten ihm die Liberalisierung des sowjetischen Kulturbetriebs eröffneten. Als erster Sowjetbürger gründete er eine private Management- und Produktionsfirma, die auf westliches Know-How zurückgreifen konnte. In seinem Moskauer Gorki Park-Musikcenter stellte er Übungsräume bereit und baute ein semiprofessionelles Tonstudio auf. Dazu kamen eine professionelle Managementfirma, eine eigene Tontechnik, ein Restaurant und eine Freiluftarena im Gorki Park, direkt am Ufer der Moskva. Stas Namin hatte Gorki Park auch die Konzerte im Vorprogramm der Scorpions vermittelt und war mit der Band an die Newa gereist. Für die Scorpions sollte sich dieser erste Kontakt mit Stas Namin noch als sehr wichtig erweisen.

Ohne die bemerkenswerte Fähigkeit der Scorpions, schnell Freundschaften zu schließen und nützliche Kontakte zu pflegen, wären diese Konzerte in der UdSSR im Frühjahr 1988 kaum möglich gewesen, was auch Klaus Meine betont: „In die UdSSR sind wir über den Umweg Ungarn gekommen. Dort hatten wir mit dem Konzertveranstalter Laszlo Hegedus zusammengearbeitet, der wiederum hatte Beziehungen in die Sowjetunion, die er für uns hat spielen lassen.“

In Leningrad spielten die Scorpions vor einem bunt gemischten Publikum, in dem sich Heavy Metal- und Rockfans ebenso fanden wie biedere Familien, die der Hauch des Exotischen angelockt hatte, und viele Soldaten und Milizionäre in Uniform. So gemischt das Publikum auch war, die Resonanz war überwältigend und festigte den Status der Band in der Sowjetunion.

Für die Scorpions war der erste Abstecher in die Sowjetunion keine Konzertreise wie alle anderen. Noch trennte der rostende Eiserne Vorhang zwei grundverschiedene Welten voneinander. Doch 1988 wurden die ersten Risse und Rostlöcher schnell größer und die Grenzen damit zunehmend durchlässiger. „In Leningrad haben wir uns zum ersten Mal als deutsche Band gefühlt“, reflektiert Klaus Meine. „Bis dahin waren wir vor allem eine internationale Band, die zufällig aus Deutschland kam. Aber Leningrad ließ sich nicht mit London, Rio oder Los Angeles vergleichen. In Leningrad, wie überall in Osteuropa, hatten Deutsche nur wenige Jahrzehnte zuvor fürchterlich gewütet. Und da kamen wir nun als deren Kinder in diese Stadt und wurden gastfreundlich aufgenommen. Uns blieb nur, Demut zu zeigen. Für großspuriges Auftreten oder Rockstar-Gehabe war da schlicht kein Platz. Unsere Väter kamen mit Panzern, wir kamen mit Gitarren.“

C 1988/2020/2021 Edgar Klüsener,

Veröffentlicht unter anderen in Metal Hammer Germany, UK, Spain, Greece, France, Spain and Hungary. Auszüge außerdem im Buch ‚Wind of Change‘ (Hannibal 1993)

 

Kategorien
Aktuell Musik Nachrichten Videotipps

Spaß daheim: Robert Fripp und Toyah Wilcox covern ‚Rock You Like A Hurricane‘ von den Scorpions.

Damit auch im Covid 19-Lockdown daheim keine Langeweile aufkommt, haben Robert Fripp und seine Frau Toyah Wilcox vor einiger Zeit damit begonnen, im heimischen Wohnzimmer vor laufender Kamera Coverversionen bekannter Rock- und Popsongs vor laufender Kamera zu spielen. Robert Fripp, cool wie immer, spielt die Gitarre, Toyah Wilcox tanzt, verkleidet sich, singt und mimt. Die beiden haben sichtlich jede Menge Spaß dabei und mit ihnen hunderttausende von Youtube-Surfern, die regelmäßig bei den Sunday Lunch- Konzerten vorbeischauen. Nun haben sich die beiden, unterstützt von Sidney Jake an der zweiten Gitarre, des Scorpions-Klassikers ‚Rock You Like A Hurricane‘ angenommen. Toyah Wilcox im hautengen Catwoman- Kostüm faucht – nicht im Original – ‚Fripp’s ma Bitch‘ und schwingt die Lederpeitsche, was Robert Fripp mit leicht besorgtem Gesichtsausdruck zur Kenntnis nimmt, aber trotzdem ungerührt  weiter die Bratakkorde runter schrammt.

Im Rahmen der Sunday Lunch-Wohnzimmer Sessions habe die beiden zuvor schon Songs wie ‚Born To Be Wild‘, ‚Heroes‘, Purple Haze‘ (mit Toyah an der Gitarre) oder ‚Smells Like Teen Spirit‘ performt.

Kategorien
Aktuell Musik Nachrichten Rezensionen

Der Wind der Veränderung bläst immer weiter

Am 27. November veröffentlichen die Scorpions eine Sonderausgabe von „Wind Of Change“. Der Song hat mittlerweile 30 Jahre auf dem Buckel und ist spätestens seit dem Mauerfall zur Hymne der friedlichen Revolution geworden, die in den Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts Europa von Grund auf umgekrempelt hat. Die Box enthält eine CD, eine Vinylversion, die Partitur und, das eigentliche Schmuckstück, ein hochwertig aufgemachtes 84-seitiges Buch mit festem Einband. Das Buch, geschrieben von MuzikQuest-Chef Edgar Klüsener und illustriert mit exklusiven Fotos aus dem Archiv von Didi Zill und Klaus Meine, erzählt weit mehr als ‚nur‘ die Geschichte des Songs. Es nimmt den Leser mit auf eine Reise durch das Europa der Nachkriegsjahrzehnte, dessen zwei Hälften, gespalten durch den beinahe undurchdringlichen Eisernen Vorhang, sich in scheinbar unversöhnlicher Systemfeindschaft bis an die Zähne bewaffnet gegenüberstanden. Die Geschichte des Songs wird so auch zur Geschichte des Kontinents, erzählt vom Wind der Veränderung, der sich vom lauen Lüftchen zum Orkan steigerte und am Ende die bestehende Ordnung hinweg blies. Wie der Song erzählt auch das Buch von der Hoffnung, die Europa Ende der Achtziger und in den frühen Neunzigern erfüllte. Doch auch seitdem bläst der Wind der Veränderung ständig weiter, hat die Hoffnungen verweht, neue geschürt und stürmt nun durch eine Welt, die sich weiter radikal verändert. Tatsächlich, so das Fazit des Buches, ist ‚Wind Of Change‘ daher immer noch so aktuell wie in jenem Sommer des Jahres 1989, in dem Klaus Meine den Text zu dem Lied aufschrieb.

Die Scorpions, auch das macht das Buch klar, waren damals wie kaum eine andere Rockband dazu prädestiniert, einen Song wie ‚Wind of Change‘ glaubhaft zu schreiben. Ihre Karriere begann, als die Erinnerung an deutsche Massenmorde und Kriegsverbrechen in Europa noch ebenso taufrisch waren wie das Entsetzen vor dem kaltblütigen Blutdurst der selbsternannten Herrenmenschen. Wer damals als Deutscher Grenzen überqueren wollte, egal ob nach Holland, Frankreich oder Polen, musste das in Demut tun. Die Scorpions verstanden das wohl. Sie repräsentierten ein neues Deutschland, das die Schuld der Väter nicht verneinte und sich um Verständigung bemühte. Das wurde gerade auch in der Sowjetunion angenommen, dem Land das neben Polen mit Abstand am schrecklichsten unter den Naziverbrechen gelitten hatte.

Das Buch zeigt die Zusammenhänge auf und so wird es nachvollziehbar, warum ‚ausgerechnet‘ eine deutsche Hardrockband die Hymne der friedlichen Revolution geschrieben hat, die am Ende auch zum Fall jener Mauer führte, die Deutschland geteilt hatte.

Für die exzellente englische Übersetzung zeichnet Stefan Glietsch verantwortlich.

Kategorien
Musik Reportagen

MOSCOW MUSIC PEACE FESTIVAL 1989: Friede, Freude, Dope und Perestroika

Es sah gar nicht gut aus für Doc McGhee. Er hatte sich erwischen lassen, mit reichlich Koks in der Tasche. Schlimmer noch, er war außerdem als Großimporteur südamerikanischer Cannabis Sativa-Ernten aufgeflogen. Weswegen ihm 1988 in North Carolina der Prozess gemacht wurde. Normalerweise sprechen amerikanische Richter harsche Urteile gegen Importeure illegaler Substanzen aus. Doc McGhee war allerdings nicht irgendein hergelaufener Allerwelts-Dealer, sondern in den Achtziger Jahren einer der einflussreichsten Musikmanager der Welt. Zu seinem Stall gehörten die Glamrocker Mötley Crüe ebenso wie Bon Jovi oder die Scorpions..Weswegen die Geschichte dann auch etwas anders verlief als erwartet.

Die einstige First Lady Nancy Reagan (photo: official White House press photo)

Amerikas damalige First Lady, Nancy Reagan, Schirmherrin einer Anti-Drogen-Kampagne, mischte sich ein. Als sie von Doc McGhees Problemen mit der Justiz hörte und realisierte, dass der mit Bon Jovi, Mötley Crüe, den Scorpions und Skid Row einige der seinerzeit heißesten und erfolgreichsten Rockbands unter Vertrag hatte, schaltete sie schnell. Wer, so die Überlegung, könnte besser zu Überbringern der Anti-Drogen-Botschaft geeignet sein als Rockmusiker mit ausreichender eigener Drogenerfahrung? Also nahm sie Kontakt zu ihm auf und unterbreitete ihm ein Angebot, das er in seiner Rechtslage nur schwer ablehnen konnte. Für Doc McGhee war das die ‚Du kommst aus dem Gefängnis‘- Karte, und entsprechend schnell und entschlossen griff er nach dem Strohhalm, der ihm da so unversehens von der First Lady hingehalten wurde. So endete Doc nicht auf dem Etagenbett in einer amerikanischen Gefängniszelle, sondern im Sommer 1989 im Moskauer Olympiastadion, mitten im Herzen des untergehenden Sowjetreiches, zu einem Zeitpunkt, als dort Glasnost und Perestroika in der Luft lagen.

Irgendwie passte nichts so richtig zusammen in diesem Sommer 1989, und so bizarr wie die Vorgeschichte war in Teilen auch das Festival, das unter dem Namen Moscow Music Peace Festival in die Rock-Annalen eingehen sollte als einer der Momente in denen hart rockendes Entertainment und Weltgeschichte sich als eher widerwillige Gefährten in einem gemeinsamen Bett wiederfanden. Rockmusiker, die ihre gelegentlich lebensbedrohliche Vorliebe für berauschende Substanzen nie verhehlt hatten, sollten plötzlich für Abstinenz werben und vor den Gefahren von Alkohol- und Drogenmissbrauch warnen, überlebensgroße Egos sich einem guten Zweck unterordnen und der Kalte Krieg mit einem Friede-Freude-Eierkuchen-Fest zu Grabe gerockt werden.

Gorki Park Center Winter 1988

Doch zunächst einmal ein Sprung zurück in den Winter 1988, in das Moskauer Gorki Park Center im Herzen der Riesenstadt, zu dem Zeitpunkt noch Hauptstadt der seitdem untergegangenen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, was sich bequem zu Sowjetunion, SU oder UdSSR abkürzen ließ. Oder auch, etwas theatralischer, zu Empire of Evil (Das Reich des Bösen), eine Sprachregelung, die besonders amerikanische Präsidenten zu bevorzugen schienen. Im November 1988 war Moskau außerdem saukalt. Im Gorki Park Center liefen die Heizungen bereits auf Höchsttouren, als sich vom Flughafen Scheremetjewo aus eine Autokolonne auf den Weg machte, für die die Polizei die gesamte 35 km lange Strecke vom Flughafen zum Gorki Park Center abgeriegelt hatte.Von mehreren Polizeifahrzeugen eskortiert konnte die Kavalkade so trotz vereister und verschneiter Straßen zügig durchbrettern. In den Limousinen saßen Bon Jovi, Bandmanager Doc McGhee, mitgereiste Journalisten sowie Offizielle des sowjetischen Friedenskomitees. Letzteres war seit der Gründung im August 1948 eine nominell unabhängige Organisation, stand allerdings der Partei sehr nahe und wurde vor allem zu Zeiten des Kalten Krieges häufig verdächtigt, kaum mehr als eine Tarnorganisation des allgegenwärtigen sowjetischen Geheimdienstes KGB zu sein. Seit 1949 war das Friedenskomitee reguläres Mitglied im World Peace Council. Erst Mitte der Achtziger Jahre löste sich das Friedenskomitee langsam von der Partei und urteilte zunehmend kritischer auch über Aspekte sowjetischer Außenpolitik und staatliche Rüstungsprogramme. Das Komitee war spezialisiert auf die Organisation und Durchführung aller möglichen und unmöglichen Aktionen, die der Propagierung und der Sicherung des Friedens dienen sollten. Es lud Delegationen ausländischer Friedensgruppen ins Land, führte Tagungen und Kongresse durch, warb für Frieden und Abrüstung ebenso wie für Völkerverständigung und unterstützte offen und versteckt die Aktivitäten des Centers. Außerdem war es nun involviert in einen sowjetisch-amerikanischen Deal ganz besonderer Art. Ebenso wie Stas Namin, dem der Besuch der Amerikaner vor allem galt.

Schon vor Glasnost und Perestroika war Stas Namin ein äußerst erfolgreicher sowjetischer Popstar gewesen, dessen Platten sich auch außerhalb der UdSSR gut verkauften und die selbst in den USA und in Australien in den Hitparaden landeten. Als Gorbatschow die große Wende einleitete, die schließlich zum Abgang der Sowjetunion von der Bühne der Weltgeschichte führen sollte, war Stas Namin unter den ersten Sowjetbürgern, die die sich neu bietenden Gelegenheiten beim Schopfe ergriffen. Er gründete eine private Management- und Produktionsfirma, die auf westlichem Niveau agierte. Er baute eine Konzertarena auf und Tonstudios, schuf professionelle Übungsräume für Moskauer Bands, investierte in neue Medien und andere Bereiche der Unterhaltungsbranche. Heute ist das Stas Namin Center eines der größten und bedeutendsten Kulturunternehmen Europas. Aber schon im Herbst 1988 kam an Stas Namin kaum noch jemand vorbei, der in Moskau im Pop- und Rockgeschäft etwas auf die Beine stellen wollte. Diesen Mann also hatte sich Doc McGhee als Partner für die Großveranstaltung im Moskauer Olympiastadion ausgeguckt, die im Sommer 1989 über die Bühne gehen sollte. Das Konzept war einfach und stammte im Prinzip von Nancy Reagan. Die Präsidentenfrau war 

Auch selbst ein erfolgreicher Musiker: Stas Namin

engagiert in der Bekämpfung des Drogenmissbrauchs unter Amerikas Jugend und hatte schnell realisiert, dass diese Jugend einfach dreist weghörte, wenn Außenstehende und Angehörige der Elterngeneration oder gar Regierungsoffizielle die direkte Ansprache suchten und vor den Gefahren von Drogenmissbrauch warnen wollten. Da er nun schon einmal in der Sache drinsteckte und ohne längere Zwischenstation im Knast aus dieser auch nicht wieder herauskommen konnte, wollte er zumindest für sich, seine Firma und seine Bands das Bestmögliche herausschlagen. Und das war sicherlich nicht das ein oder andere Anti-Drogenkonzert in irgendwelchen Kleinstädten in Amerikas Mittelwesten oder ein paar Benefiz-CDs für die eigens gegründete „Make A Difference Foundation“. Nein, ganz groß sollte die Sache werden, möglichst weltgeschichtlich. Da traf es sich gut, dass in der Sowjetunion ein gewisser Mikhail Gorbatschow gerade eine Revolution von oben gestartet hatte und mit Perestroika und Glasnost das Riesenreich von Grund auf umbauen wollte. Zum Umbau gehörte eine bis dahin undenkbare Öffnung zum Westen hin, und damit auch offenere Türen für Rock’n’Roller. Türen, die die Scorpions, seit kurzem ebenfalls bei McGhee unter Vertrag, im Jahre 1988 mit zehn ausverkauften Konzerten in St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß, bereits ein großes Stück weiter aufgestoßen hatten. Kontakte in die UdSSR gab es also schon in ausreichendem Maß. Dank der Vorarbeit der Scorpions vor allem auch zu Stas Namin. Warum also nicht mal das ganz große Rad drehen und das erste große Rockfestival auf sowjetischem Boden veranstalten, dachte sich Doc McGhee, am besten 20 Jahre nach Woodstock und genau zu einem Zeitpunkt, an dem die Sowjetunion sich ihr Scheitern eingestand und nach neuen Orientierungspunkten und Horizonten suchte. Zumal die Sowjetunion schon seit längerem selbst auch ein massives Drogenproblem am Hals hatte. Soweit die kurz geraffte Vorgeschichte, die in einer eiskalten Nacht im Gorky Park-Center ihren weiteren Verlauf nahm und schließlich in einer Wodka- und Krimsekt- befeuerten Party endete, an der auch Miss Siberia, Miss Georgia und andere sowjetische Schönheitsköniginnen – alle bei Stas Namin unter Vertrag – ihren regen Anteil hatten.

Moskau 1989: Randale im Olympiastadion

Wollte eine Extrawurst und wäre beinahe vorzeitig abgereist

Im August 1989 hatte die Vorhut des real existierenden Kapitalismus endgültig stabile Brückenköpfe in der Hauptstadt des sowjetischen Riesenreiches etablieren können. Der erste McDonalds-Frikadellenbrater hatte eröffnet und war einen kurzen Sommer lang die größte Attraktion Moskaus, und Coca Cola stand bereit, den Kommunismus endgültig in brauner Brause zu ersäufen. Die Vorboten des Kapitalismus wurden wie VIPs behandelt, zumindest wenn sie rockten und rollten. Nirgendwo wurde das offensichtlicher als an jenem heißen Augusttag 1989, an dem auf dem Moskauer Flughafen der Magic Bus landete, die Maschine, in der die Hauptakteure des zweitägigen Moscow Music Peace-Festivals gepfercht worden waren. Direkt auf dem Rollfeld hatten sich – undenkbar noch ein oder zwei Jahre zuvor in der Sowjetunion – Kamerateams und Journalisten versammelt, um sie alle zu begrüßen, die Ozzy Osbournes, Mötley Crües, Cinderellas, Skid Rows und Scorpions. Die entstiegen dem Flieger aufgeregt, aber auch teilweise verbittert, denn der Flug war trocken gewesen. Scorpions-Basser Francis Buchholz kommentierte die Stimmungslage einiger seiner Kollegen nach diesem Flug mit leichter Häme:
„An Bord herrschte striktes Alkoholverboot. Für den einen oder anderen Kollegen ein harter Schlag.“

Erst während des Fluges hatten, so schien es, die Musiker erstmalig realisiert, dass der Auftritt auf einem Anti-Drogen-Festival und die offizielle Unterstützung der Botschaft tatsächlich auch Konsequenzen für den persönlichen Rauschmittelkonsum nach sich zog. Als daher Jon Bon Jovi später im provisorisch am Ufer der Moskwa aufgebauten Hardrock-Café auf seine bescheidene Bitte „Kann ich bitte ein Bier haben“ nur ein harsches Njet zur Antwort erhielt, zuckte er nur noch resigniert mit der Schulter. Es sollte allerdings nicht lange dauern, bis alle Musiker, die es darauf anlegten, herausfanden, dass in Moskau, damals wie heute, die nächste Flasche Wodka nie weit weg war.

Das größte Rockereignis seit Woodstock 1969 konnte, genau zwanzig Jahre später, seinen Lauf nehmen. Anders als Woodstock, das vor allem durch Chaos, Improvisation, Missmanagement und massiven Drogenkonsum geprägt war, war allerdings das Moscow Music Peace-Festival von A-Z perfekt durchorganisiert. Nichts, aber wirklich gar nichts, war dem Zufall überlassen, weder dem sowjetischen noch dem westlichen. Nur gegen den Drogenkonsum auf dem Festivalgelände war auch in Moskau, allen Einlasskontrollen zum Trotz, kaum was zu machen.

Während die Bands und ihr Tross zunächst einmal in ihren Hotels verschwanden, herrschte im Lenin-Stadion Hochbetrieb. Das gigantische Rund, gebaut als zentrale Wettkampfstätte für die Olympischen Sommerspiele 1980, war der vorgesehene Austragungsort für das Festival. Doc McGhee hätte das Festival gern mitten auf dem Roten Platz, direkt vor den Mauern des Kreml, über die Bühne gehen lassen, aber so weit reichte die neue Freizügigkeit unter Gorbatschow denn doch noch nicht. So war das Olympiastadion dann nicht die zweitbeste, sondern die einzige brauchbare Lösung. Die Olympiade von 1980 hatte der Westen seinerzeit wegen des Einmarsches sowjetischer Truppen in Afghanistan kurz vor deren Start beinahe geschlossen boykottiert. In den Jahren seit dem Einmarsch hatte sich das Afghanistan-Abenteuer als das sowjetische Vietnam entpuppt. Auch hier eine Parallele zu Woodstock. 1969 vermittelte das Festival nicht nur für einen Moment die trügerische Illusion grenzenloser Freiheit, es gab auch für einen ebenso kurzen Moment einer ganzen Generation eine Stimme, die scheinbar geeint im Aufruhr gegen die Gesellschaft der Eltern stand und sich vor allem vehement gegen den Krieg wandte, den ihr Land im fernen Vietnam führte und der einen von Tag zu Tag höheren Blutzoll forderte. So wie damals Amerika in Vietnam in einen militärischen Sumpf geraten war, aus dem es sich nur noch unter hohen Verlusten wieder lösen konnte, so hatte sich auch Afghanistan für die UdSSR in einen Morast verwandelte, der Abertausende junger Sowjetbürger das Leben kosten sollte.

Weil nichts dem Zufall überlassen werden sollte und sowjetische Technik außerhalb der Nuklear- und Weltraumbereiche alles andere als High-Tech erschien, wurde die gesamte Licht- und Beschallungstechnik kurzerhand aus dem Westen nach Moskau verfrachtet. Insgesamt 55 Sattelschlepper waren nötig, um Bühne, PA und all die andere notwendige Technologie nach Moskau zu transportieren. Nicht nur die Technik allerdings, auch die Security kam aus dem Westen. Verantwortlich für alle Sicherheitsbelange innerhalb des Geländes war die britische Firma Showsec, gegründet von dem vormaligen Mitglied britischer Spezialeinheiten 

Dr. Mick Upton: Wie sich die Zeiten ändern. Heute ist Mich Upton, Gründer von Showsec, ein weltweit anerkannter Sicherheitsexperte und Regierungsberater

Mick Upton und heute einer der globalen Marktführer. Selbst die örtliche Milizen, die im und rund um den Bühnenbereich stationiert waren, unterstanden den Showsec-Spezialisten, letztere allesamt ehemalige Elitesoldaten. Das Catering war ebenfalls komplett einer westlichen Firma übertragen worden, die zudem das Gros der Nahrungsmittel der Einfachheit halber gleich mit gebracht hatte. Für die lokale Wirtschaft war das Festival daher kaum ein Gewinn, was hängenblieb, waren kaum mehr als ein paar Brotkrumen. Nur die Dealer profitierten wahrscheinlich prächtig. Weil die Sowjetarmee immer noch tief in dem afghanischen Sumpf steckte, aus dem Gorbatschow sie mit allen Mitteln herausholen wollte, selbst wenn der Preis das bittere Eingeständnis der Niederlage war, war die Versorgungslage Moskaus mit afghanischem Haschisch und Opiaten in diesem Sommer 1989 noch hervorragend. Und Bedarf gab es reichlich.

Die Rahmenbedingungen für das Moscow Music Peace Festival waren somit hervorragend, die Organisation des Ereignisses beinahe perfekt. Die Bands konnten sich somit ganz auf die immense Aufmerksamkeit konzentrieren, die ihnen in- und ausländische Medien schenkten. Dass das Moscow Music Peace Festival tatsächlich ein globales Ereignis war, wurde schnell klar. Fernsehcrews von der Tagesschau bis zu ABC-News waren vor Ort, alle großen Nachrichtenagenturen hatten ihre Moskauer Korrespondenten auf das Thema angesetzt, und die alten und neuen sowjetischen Medien waren ebenfalls massiv präsent. Schon bevor der erste Soundcheck die noch leeren Ränge des Olympiastadions zum Zittern brachte, hatten die Musiker einen Marathon von Interviews, Pressekonferenzen und Kameraterminen hinter sich gebracht und sich selbst von ungewohnt-verblüffenden Fragen nicht aus der Fassung bringen lassen. Auch Ozzy behielt die Ruhe, als ein russischer Journalist ihn löcherte: „Ozzy, haben Sie ihren Gitarristen mit nach Moskau gebracht?“ Die ebenso kurze wie trockene Antwort: „Nee, ich trete grundsätzlich ohne Gitarristen auf.“

Am ersten Tag füllte sich das Stadion schon Stunden vor dem offiziellen Start schnell. Westlichen Augen bot sich ein ungewohntes Bild. Das Innenoval der Arena war von einer Barrikade auf voller Länge vom Haupteingang bis zum Bühnenrand in zwei gleiche Hälften geteilt. Die Barrikade allerdings bestand nicht etwa aus toten Materialien wie Holz oder Metal sondern aus durchaus lebendigen Milizionären, die in Doppelreihe standen, die Gesichter der Menge zugewandt. Wer von einer Hälfte des Stadions in die andere wechseln wollte, musste eine entsprechende Berechtigung vorweisen. Nur wer die hatte, durfte durchschlüpfen. Ähnlich sah es vor der Bühne aus. Die übliche Absperrung vor der Bühne gab es zwar auch, nur wurde die ebenfalls von Milizionären gebildet, diese allerdings besonders kräftig gebaut und mit furchterregend wirkenden Muskelbergen bepackt. Dass die Bühnenordner außerdem kräftig zulangen konnten, sollten sie dann schon in den ersten Konzertminuten auf gelegentlich abstoßende Weise unter Beweis stellen.

Die offizielle Eröffnung des Festivals geschah mit all dem Bombast, der dem Ereignis gerecht wurde. Auf der Bühne drängeln sich die Offiziellen um die Mikrofone. Unter ihnen Moskaus Oberbürgermeister, der amerikanische Botschafter und andere Würdenträger. Auch die riesige olmpische Fackel, die hoch über dem Stadion ind den wolkenlos blauen Himmel ragte, kam noch einmal zu Ehren und wurde wieder entfacht. Kurze Reden wurden gehalten, Händeschütteln, Schulterklopfen, und immer wieder die Blicke auf die Menschenmassen vor der Bühne und das Schielen auf die Kameras. Und dann ging’s endlich los. Den Auftakt machten drei sowjetische Bands, Nuance, Brigada S. Und schließlich Gorky Park. Die ersten beiden passten nicht so recht ins musikalische Konzept des Festivals, ihr eher avantgardistisch geprägter und jazzangehauchter Rock fiel zudem noch dem hundsmiserablen Sound zum Opfer. Unter dem hatten anschließend Gorky Park ebenfalls zu leiden. Derweil kam es vor der Bühne immer wieder zu fiesen Prügeleien zwischen Gruppen aus dem Publikum, darunter etliche dienstfreie Soldaten, und den sowjetischen Sicherheitskräften vor der Bühne. Schließlich eskalierte die Situation so weit, dass Mick Upton die Einsatzleiter der sowjetischen Sicherheitskräfte zum Gespräch bat und ihnen unmissverständlich zu verstehen gab, dass die Ordner sich zurückhalten mussten. Jene, die besonders aggressiv aufgetreten waren, wurden außerdem aus dem Stadion abgezogen.

Die Kulisse war atemberaubend.

Gorky Park hatten ein Heimspiel. Wenn auch kein wirklich gelungenes. Zwar ging das Publikum deutlich besser mit als bei den beiden vorhergegangenen Bands und fand auch offensichtlich Gefallen an den eingängigen melodischen Hardrock-Kompositionen der Moskauer, doch eine gewisse Zurückhaltung war ebenfalls spürbar. Die lag, so Gorky Park-Gitarrist Alex Belov später, vor allem darin begründet, dass manche Landsleute es der Band ausgesprochen übel nahmen, dass sie auf englische statt russische Texte setzte. Kein Problem waren die englischen Texte für die nachfolgenden Bands Mötley Crüe, Cinderella, Skid Row, Ozzy Osbourne, Scorpions und am Ende Bon Jovi. Im weiteren Verlauf des ersten Festival-Tages besserte sich nicht nur der Sound, auch die Reaktionen der Menschenmassen im Stadion wurden enthusiastischer, es kam langsam Stimmung auf.

Die amerikanischen Bands mussten allerdings auch feststellen, dass sie in der Sowjetunion weit weniger bekannt waren als im Rest der Welt. Viele von denen, die zu Mötley Crüe oder Skid Row vor der Bühne abrockten, hatten vorher noch nie von der Band gehört. Langsam wurde das Festival seinem Anspruch gerecht: Love, Peace, Sonnenschein und Völkerverständigung im Gitarrengewitter. Zumal die anfänglichen Prügeleien vor der Bühne nach dem energischen Eingreifen des Showsec-Bosses auch abgeklungen waren. Hinter der Bühne allerdings sah die Sache anders aus. Da rangelten die Musiker vor allem um die Auftrittsreihenfolge. Ozzy wollte unbedingt als letzter auf die Bühne und legte filmreife Tantrums hin. Mötley Crüe fühlten sich von Bon Jovi, und mehr noch von dessen Manager DocMcGhee – der nebenbei auch ihr eigener war – von vorn bis hinten verarscht weil Bon Jovi ganz klar bevorzugt wurden. Weswegen Tommy Lee denn auch hinter der Bühne mal laut, mal leise vor sich hinwütete. Wodka floss mittlerweile reichlich. Auch die Scorpions waren sauer. Sie waren die einzigen, die zuvor schon in der Sowjetunion gespielt hatten – zehn Shows in Leningrad (heute St. Petersburg) im Jahr davor – und daher zu Recht von sich behaupten konnten, dass sie bereits einen großen Namen und eine beträchtliche Zahl von Fans im Lande hatten. Trotzdem gebärdeten sich Ozzy und Bon Jovi auch ihnen gegenüber, als seien sie die naturgegebenen Headliner des Festivals und niemand sonst. Ozzy zumindest mit einer gewissen Berechtigung, seit Black Sabbath-Zeiten war auch er eine bekannte Größe in der UdSSR 

Der Autor vor Ort (photo: Sylvie Simmons)

Auch die Scorpions reagierten zunehmend irritiert auf das Gezetere und Gezerre hinter der Bühne. Ihr Auftritt am ersten Abend des Festivals bewies nicht nur einmal mehr ihre Qualitäten als eine der besten Livebands des Planeten, sondern auch, dass sie in diesem Sommer 1989 in der Tat die Band mit der größten Fangemeinde in der Sowjetunion waren. Sie hätten also allen Grund gehabt, mit sich und der Moskauer Festivalwelt zufrieden zu sein. Dennoch erschienen sie am zweiten Tag genervt. Kurz vor ihrem Auftritt erklärte Rudolf Schenker dann die Gründe für den Unmut der Hannoveraner: „Wir sind ziemlich sauer. Diese ganzen Profilneurosen, die hinter der Bühne hochgekommen sind, sind uns gewaltig auf die Nerven gefallen. Wir waren klar die beste Band des Abends, haben mit Abstand die meisten Fans in der Sowjetunion, trotzdem spiele sich andere als die großen Stars auf. Wir haben eine ziemliche Wut im Bauch, und die werden wir heute auf der Bühne voll rauslassen.“ So geschah es, die Scorpions spielten sich in einen wahren Rausch, und der Funke sprang sofort auf das Publikum über. Zwischen Band und Publikum knisterte es, die elektrisierende Hochspannung zwischen beiden war beinahe körperlich fühlbar.

Zum großen Finale kamen noch einmal alle Musiker auf die Bühne, und mit dem Yoko Ono/ John Lennon-Klassiker „Give Peace A Chance“ beendeten die miteinander zerstrittenen Helden zweier Tage in seltener Eintracht ein Festival, das auf eine seltsame Art Geschichte geschrieben hat. Ein aufgeflogener Drogendeal in den USA, ein Rockmanager, eine Präsidentengattin, Schwer- und Glam-Metal Rocker, eine Antidrogenbotschaft, das zwanzigjährige Woodstock-Jubiläum, Egomanen, Love, Peace und Wodka, ein zerbröselndes Weltreich, das Ende des Kommunismus und des Kalten Krieges, kommerzielles MTV Bezahlfernsehen – das alles und noch einiges mehr waren die Zutaten, aus denen in Moskau ein Ereignis zusammengebraut worden war, das zu einem nahezu perfekten geschichtlichen Zeitpunkt über die Bühne ging und so in die Rockgeschichte im Allgemeinen und in die russische Populärkultur-Geschichte im Besonderen eingegangen ist.

Edgar Klüsener

Nachtrag: Los Angeles, Juni 1990, etwas weniger als ein Jahr nach dem Moscow Music Peace Festival. Im Studio von Keith Olsen spielt mir Klaus Meine einen Song vor, den die Band gerade eingespielt hat. „Was hältst du davon?“, fragt er. „Die Idee zu dem Song ist mir in der UdSSR gekommen, als ich in einer Sommernacht im Gorki Park-Center saß und auf die Moskwa blickte. Ursprünglich war das gar nicht für das Album gedacht. Ich hatte das Stück nur so für mich aufgeschrieben. Das Lied ist meine persönliche Aufarbeitung dessen, was in den letzten Jahren in der Welt passiert ist. Der Titel ist „Wind of Change“. Diesen Wind der Veränderung, der wie ein Orkan durch Ost und West getobt hat, haben wir ja in Moskau und Leningrad am eigenen Leibe spüren können.“ Ein Jahr später wurde der Song veröffentlicht und zur Hymne einer Zeit der massiven Umwälzungen, die die Nachkriegsordnung in kürzester Zeit völlig umkrempelten.

 

 

Die mobile Version verlassen

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen