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Barrieren überwinden: The Scorpions in Leningrad 1988

In den späten Achtzigern fegte ein Sturm durch Europa, der alte Gewissheiten über den Haufen warf und Systeme zerbröckeln ließ. Der Eiserne Vorhang, seit Ende des Zweiten Weltkriegs die beinahe unüberwindliche Barriere im Herzen Europas, rostete rapide und die Löcher in ihm wurden immer größer, bis er schließlich mit dem Berliner Mauerfall endgültig in Fetzen riss. Eine willkommene Folge war die Öffnung des bis dahin beinahe hermetisch abgeschlossenen Osten Europas für westliche Popkultur – und damit für deutsche Bands. Eine Reihe von Zeitgeschichten schildern Aufbrüche in Ost und West, erste zaghafte Reisen westlicher Musiker hinter den Eisernen Vorhang, Andeutungen künftiger Umwälzungen und Revolution, das Keimen von Hoffnungen,, die am Ende auf den Schlachtfeldern der Ukraine einmal mehr – Geschichte wiederholt sich doch, wenn auch in immer etwas anderen Szenarien – im Blut ertrinken. Insgesamt fünf Zeitgeschichten reflektieren eine sehr kurze Periode von gerade einmal fünf Jahren. Den Anfang macht diese hier, die  Schilderung des ersten Besuchs der Scorpions in der Sowjetunion im April 1988. Im September 1988 fuhr ich dann mit den Toten Hosen nach Litauen, wo eine erstarkende Unabhängigkeitsbewegung immer öffentlicher wurde. Im tiefen Winter 1988 traf ich in Moskau Stas Namin, Bon Jovi und andere Akteure, die ein sowjetisches Woodstock auf die Beine stellen wollten. Das fand dann im August 1989 statt, und ist das Thema einer weiteren Zeitgeschichte. Die letzte Zeitgeschichte in dieser Reihe beschreibt die Reise von Kreator in den frühen Neunzigern in ein Moskau, das sich bereits rapide verändert hatte. Die Sowjetunion gab es nicht mehr, Grenzen wurden überall neu gezogen, und Russland verstand sich zunehmend als Verlierer der friedlichen Revolution, die Europas Angesicht von Grund auf verändert hatte. In Moskau wie im Rest Russlands wurden die nationalistischen Töne immer lauter und ein düsterer Revanchismus wurde zur Ideologie zumindest in rechten Kreisen. Mit dieser Zeitgeschichte endet dann der Russland-Zyklus. 

In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts war Westeuropa zusammengewachsen und die Grenzanlagen wurden immer durchlässiger. Man besuchte sich zwanglos, lebte im einen Land und arbeitete im anderen – eine neue, europäische Realität formte sich, die von den Bürgern auch als solche erlebt wurde. Die Spaltung des Kontinents, und damit die Spaltung Deutschlands, in Ost und West allerdings bestanden fort. Die tiefgreifenden Veränderungen und Revolutionen der späten Siebziger und frühen Achtziger fanden im Westen zunächst im Stillen statt und wurden vor allem von neuen Technologien angetrieben. Die Achtziger waren das Jahrzehnt, in dem eine technologische Revolution anfangs kaum merklich Fahrt aufnahm, die am Ende die Musikindustrie in ihren Grundfesten erschüttern sollte. Erschüttert und über den Haufen geworfen wurde auch ein für alle Mal die Art und Weise, in der Musik gehört, erlebt, empfunden und konsumiert wird.

Revolutionen sind weder gut noch böse. Wie auch immer sie enden, ob mit einer Republik, mit einer Demokratie, einem sozialistischen Staat, einer totalitären Diktatur oder einer islamischen Republik – ihr eigentliches Wesen ist die radikale Veränderung, nicht die neue Ordnung danach. Politische Revolutionen müssen nicht unbedingt von unten kommen, begonnen und ausgefochten von Kräften, die in Opposition zur existierenden Ordnung stehen und diese verändern wollen. Revolutionen können auch von oben initiiert werden. Manchmal reicht dazu ein einfacher Verwaltungsakt, die Anweisung, ein Element des Status Quo zu modifizieren. Die Folgen dieses Verwaltungsaktes scheinen absehbar und wohl kalkulierbar. Doch kein Verwaltungsakt kann für sich allein stehen, jeder bewirkt eine Veränderung am Gesamtgefüge, die zwangsläufig weitere Veränderungen nach sich zieht. Und plötzlich kommt eine Lawine ins Rollen, die der ursprüngliche Verwaltungsakt sicherlich nicht auslösen sollte, die aber unaufhaltsam die alte Ordnung zerstört.

Michail Sergejewitsch Gorbatschow wurde im März 1985 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gewählt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Land bereits in einer tiefen ökonomischen Krise. Der 1979 begonnene Krieg in Afghanistan hatte sich zum sowjetischen Vietnam entwickelt, ein Konflikt, der enorme Massen an Kapital und Material verschlang und viele junge Sowjetsoldaten das Leben kostete. Dieser Krieg, das war sowjetischen Militärs und einigen hellsichtigen Mitgliedern des Politbüros bereits 1985 klar, konnte mit konventionellen Mitteln nicht gewonnen werden. Wenn er überhaupt gewonnen werden konnte. Ein Blick in die Geschichte des späten 19. Jahrhunderts hätte den Sowjets eine Warnung sein sollen, als sie sich am 25. Dezember 1979 dazu entschieden, militärisch in den afghanischen Bürgerkrieg einzugreifen. Denn bereits im ersten Anglo-Afghanischen Krieg vom Juli 1839 bis Oktober 1842 hatte das britische Empire eine empfindliche Niederlage gegen afghanische Stammeskrieger einstecken müssen und über 20.000 Mann verloren.

Die Belastungen durch den Krieg, ein erstarrtes und unflexibles Wirtschaftssystem, das nach den planerischen Prinzipien der US-amerikanischen Ingenieure Taylor und Ford organisiert war, veraltete Industrien und ineffiziente Verwaltungsstrukturen hatten die UdSSR in eine politische und ökonomische Krise schlittern lassen, die durch die Kosten des Rüstungswettlaufs mit dem Westen noch dramatisch verschärft wurde.

Gorbatschow wollte sich diesen Problemen mit einem reformerischen politischen und ökonomischen Ansatz stellen. Die Leitlinien, verkündet direkt nach seinem Amtsantritt im April 1985, hießen Umbau des Systems (Perestroika) und Transparenz (Glasnost). Umbau allerdings nicht als Revolution, sondern als Reform, als kontrollierte Veränderung, initiiert durch Verwaltungsvorschriften und gezielte Eingriffe in die Mechanismen von Institutionen. Glasnost bedeutete vor allem, dass Missstände offen kritisiert werden sollten; in der Tradition von Kritik und Selbstkritik sollte die Benennung von Fehlern zu deren Behebung führen. Die Verwaltungsvorschriften waren erlassen, der Plan wurde in die Tat umgesetzt. Welche weitreichenden Folgen vor allem Glasnost haben sollte, war im April 1985 unmöglich vorhersehbar.

Dass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurden (zuvor traten Uriah Heep 1987 zehnmal in Moskau auf).

Scorpions, Crew und Journalisten vor der Konzerthalle (und der Autor im Vordergrund)

Leise dümpelte der Panzerkreuzer Aurora vor sich hin, mit dem Ufer der Newa fest verbunden durch einen stählernen Laufsteg. Aus seinen Kanonen hatten meuternde russische Matrosen in der Nacht vom 25. Oktober 1917 mit Platzpatronen das Signal zum Sturm auf den Winterpalast des Zaren gegeben, der Startschuss für die Russische Revolution, die das Ende des Zarenreiches einläutete und mit der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken enden sollte. Die UdSSR schien an jenem kalten Apriltag 1988 noch unerschütterlich, an dem sich eine Gruppe junger Männer mit langen Haaren, gekleidet in nietenbeschlagene Lederjacken und hautenge schwarze Lederhosen, an den Füßen silberbeschlagene Cowboystiefel, die Augen verborgen hinter dunklen Sonnenbrillen, vor dem Laufsteg drängelte und Einlass suchte in das zum Revolutionsmuseum umfunktionierte Kanonenboot. Westliche Dekadenz in Reinkultur, so mag diese Gruppe ungläubig schauenden Leningradern erschienen sein. In ihrem Gefolge fand sich ein Tross von Fotografen, Journalisten, Freunden und Betreuern, alle vom Erscheinungsbild her unverkennbar westlich und in deutscher und englischer Sprache wild durcheinander palavernd.

In einigen Metern Entfernung von der auffälligen Reisegruppe lungerten einige russische Teenager herum, die sie aufmerksam beäugten. Einer hielt das sowjetische Äquivalent eines Ghettoblasters im Arm. Er lächelte zu den Westbesuchern hinüber und drückte auf den Startknopf des Kassettenspielers. Aus den Lautsprechern dröhnte leicht verzerrt einer der damals größten Hits der Scorpions, die Ballade „Still Loving You“. Die Jugendlichen winkten schüchtern zu der Gruppe an der Aurora hinüber, in denen sie zu Recht die Scorpions erkannt hatten. Dass sie auch auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs schon bekannte Größen waren, hatten die Musiker in den Tagen seit ihrer Anreise zu ihrer eigenen Überraschung lernen können. Der Eiserne Vorhang schien zwar politisch noch unüberwindlich, war aber nicht so hermetisch von westlicher Popkultur abgeschirmt, wie es von außerhalb erscheinen mochte.

Klaus Meine kommentierte damals mit Blick auf die Gruppe von Teenagern: „Das begann schon am Moskauer Flughafen. Obwohl wir dort nur zwischengelandet waren und die Aufenthaltszeit bis zum Weiterflug nach Leningrad (das heutige St. Petersburg) nur kurz bemessen war, tauchte dort eine Menge Jugendlicher mit tragbaren Kassetten-Rekordern auf, die sie uns entgegenhielten und aus deren Lautsprechern unsere Songs schepperten.

Insgesamt zehn Konzerte sollten die Scorpions in diesem kalten April in der Zarenstadt am Finnischen Meerbusen spielen. An allen Tagen war die Leningrader Sporthalle, ein imposanter Rundbau, der der Dortmunder Westfalenhalle 1 ähnelte, aber noch etwas größer war als das westfälische Juwel, restlos gefüllt. Der Ausflug in die Sowjetunion ergab wirtschaftlich wenig Sinn und war eher Ausdruck einer Lebensphilosophie, die dem Handeln der Band seit frühen Tagen zugrunde lag. Rudolf Schenker beschrieb diese damals so: „Wir wollen Neuland erkunden, want to break barriers (wollen Schranken niederreißen).

Diese Neugier auf die Welt war es, die die Band von Anfang an vorwärts trieb. Eine Neugier, die sie empfänglich machte für andere Kulturen und Lebens- und Denkweisen und die zudem die Sinne für Entwicklungen schärfte, die unter scheinbar ruhigen Oberflächen stattfanden. Was sie in Leningrad vorfanden, war eine Sowjetunion, in der ein erbitterter interner Konflikt zDass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurdenwischen Reformern und Konservativen tobte. Auf der einen Seite fand sich der Zirkel um Gorbatschow, auf der anderen deren reaktionäre Gegenspieler um Jegor Kusmitsch Ligatschow, den Gorbatschow selbst ins Politbüro der KPdSU geholt hatte und der lange Zeit als der zweite Mann nach dem Generalsekretär galt. Dass sich ein Umbruch anbahnte in der Sowjetunion – und damit in ganz Osteuropa – erkannte Klaus Meine bereits in Leningrad: „Wir spielen hier als erste westdeutsche Rockband. Wir zahlen alles aus eigener Tasche, eine Investition, die sich aber trotzdem lohnt. Wir brechen das Eis und öffnen hoffentlich Türen für andere deutsche und westliche Bands.“ Er zögerte einen Moment und fügte dann hinzu: „Solange sich die politische Lage nicht wieder verschlechtert.“ Die angesprochene Verschlechterung lag 1988 durchaus noch im Bereich des Möglichen, die Machtkämpfe innerhalb der KPdSU hatten auch direkten Einfluss auf die Konzertplanung der Scorpions gehabt.

Ursprünglich hatte die Band zunächst fünf Konzerte in Moskau und dann fünf weitere in Leningrad spielen sollen, doch dann machten die Moskauer Behörden wegen der bevorstehenden Maifeierlichkeiten Sicherheitsbedenken geltend und sagten die Termine in der Hauptstadt kurzerhand ab. Für Klaus Meine damals zwar ärgerlich, aber:

„Hier in Leningrad ist alles so interessant und beeindruckend, dass es uns am Ende doch weniger ausmacht als gedacht. Im Gegenteil, wir kommen kaum dazu, all die Eindrücke zu verarbeiten, die in diesen Tagen auf uns einstürzen und die uns regelrecht überwältigen.“

Zu diesen Eindrücken gehörten auch die Gruppen von Fans, die sich vor dem Hotel Pulkowskaja, damals die erste Adresse in der Stadt an der Newa und mit westlichem Komfort ausgestattet, drängten. Viele waren eigens für das Konzert aus anderen Teilen der UdSSR angereist, einer hatte Eis, Schnee und bitterer Kälte getrotzt, um aus dem fernen Sibirien per Anhalter nach Leningrad zu gelangen, um seine Lieblingsgruppe einmal live erleben zu können. Als die Scorpions von seiner Geschichte erfuhren, luden sie ihn zu einem Treffen ein und arrangierten für ihn außerdem freien Eintritt für die Konzerte.

In diesen zehn Tagen verschanzten sich die Musiker nicht in der Enklave mit westlichen Annehmlichkeiten, die das Pulkowskaja bot, sondern drängten hinaus in die Stadt, um sie zu sehen, riechen, fühlen und erleben. In einer Nacht landeten sie in einem der halblegalen, stickigen und verrauchten Untergrund-Clubs Leningrads, wo eine örtliche Rockband aufspielte. KDass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurdenDass der „Wind Of Change“ in der Sowjetunion an Stärke zunahm, ahnten die Scorpions bereits, als sie drei Jahre nach Gorbatschows Erklärung im April 1988 als erste westliche Heavy Rock-Band zu zehn Konzerten nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eingeladen wurdenurzentschlossen sprangen sie auf die Bühne und das zunächst verdutzte, dann begeisterte Publikum erlebte eine ausgedehnte Jamsession mit Musikern beider Bands. Später erinnerte sich Gitarrist Matthias Jabs mit Schaudern an das Equipment der Russen: „Die Verstärker lieferten eine Art Apfelsinenkisten-Sound, die Gitarren waren ‚Marke Eigenbau‘ und der Club war kaum mehr als ein mittelprächtiger Übungsraum. Der Sound war schrecklich, aber es hat dennoch mächtig Spaß gemacht. Bei der Gelegenheit ist mir erstmals so richtig klar geworden, unter welch miserablen Bedingungen russische Musiker arbeiten müssen.

Rockmusik, das machte nicht nur dieser nächtliche Ausflug in den subkulturellen Untergrund Leningrads klar, hatte sich in der Sowjetunion längst etabliert. Singles und Langspielplatten wurden seit Jahren aus dem Westen kontinuierlich ins Land geschmuggelt oder ganz einfach dreist und ohne Rücksicht auf irgendwelche westlichen Copyrights von der staatlichen Plattenfirma Melodija kopiert und in beachtlichen Stückzahlen an die sowjetische Jugend verkauft. Rockmusik kam auch über den Äther: Amerikanische Propagandasender wie Radio Free Europe/Radio Liberty oder Voice of America strahlten sie gezielt in den damaligen Ostblock aus. Rockbands gab es in jeder größeren Stadt und sie hatten durchaus ihr Publikum. Einige wie die Schwermetaller Kruiz oder Shah machten Ende der Achtziger des vergangenen Jahrhunderts bereits im Westen von sich reden.

Als Vorband hatte das staatliche Veranstaltungs- und Konzertbüro Goskonzert die Moskauer Band Gorki Park engagiert, eine melodiöse Hardrockband, die sich nicht nur musikalisch, sondern auch modisch stark an amerikanische Vorbilder anlehnte. Gorki Park symbolisierten in mancher Hinsicht den Wandel, der sich innerhalb der Sowjetunion vollzog. In den Straßen der kalifornischen Hair Metal-Metropolen oder Londons wären die Musiker mit ihren Ledermonturen, den hautengen Röhrenjeans und den langen Haaren kaum aufgefallen, in der sowjetischen Metropole am Finnischen Meerbusen sah die Sache 1988 noch etwas anders aus.

Gorki Park-Gitarrist Alexey Belov hatte sich bereits einen Namen erspielt, lange bevor Michail Gorbatschow die Wende einleitete. Mit diversen Formationen hatte er Platten veröffentlicht, von denen in der UdSSR mehrere Millionen Exemplare verkauft worden waren. An den Umsätzen, die die staatliche Plattenfirma Melodija mit diesen Alben erzielte, waren die Musiker allerdings nicht beteiligt, wie Belov in Leningrad leicht angesäuert beklagte: „Bezahlt wurden wir einmalig pro aufgenommene Minute Musik. Wenn also die Gesamtzeit einer LP hundert Minuten betrug, dann erhielt ich – vorausgesetzt, die Gitarre war die ganzen hundert Minuten lang zu hören – exakt hundert Rubel. Das war‘s, keine Kopeke mehr oder weniger, ganz egal, wie viele Platten anschließend verkauft wurden. Deswegen habe ich mir, sobald sich das politische Klima zu verändern begann, Musiker gesucht, um eine Band nach westlichem Muster zu formen, mit der ich professionell arbeiten kann.

Die Musiker fand er schnell in der Moskauer Szene. Wichtiger noch, er fand mit Stas Namin einen Manager, der nicht nur selbst Musiker war, sondern zudem West-Erfahrung hatte und der eine entscheidende Rolle bei der Organisation des Moscow Music Peace-Festivals ein Jahr später spielen sollte.

Stas Namin war einer der wenigen ganz großen sowjetischen Popstars der frühen Achtziger, deren Platten auch außerhalb des Ostblocks erfolgreich waren und es in amerikanische und australische Hitparaden schafften. Als Gorbatschow damit begann, seine Ideen von Glasnost und Perestroika in die Praxis umzusetzen, erkannte Stas Namin schnell, welche Möglichkeiten ihm die Liberalisierung des sowjetischen Kulturbetriebs eröffneten. Als erster Sowjetbürger gründete er eine private Management- und Produktionsfirma, die auf westliches Know-How zurückgreifen konnte. In seinem Moskauer Gorki Park-Musikcenter stellte er Übungsräume bereit und baute ein semiprofessionelles Tonstudio auf. Dazu kamen eine professionelle Managementfirma, eine eigene Tontechnik, ein Restaurant und eine Freiluftarena im Gorki Park, direkt am Ufer der Moskva. Stas Namin hatte Gorki Park auch die Konzerte im Vorprogramm der Scorpions vermittelt und war mit der Band an die Newa gereist. Für die Scorpions sollte sich dieser erste Kontakt mit Stas Namin noch als sehr wichtig erweisen.

Ohne die bemerkenswerte Fähigkeit der Scorpions, schnell Freundschaften zu schließen und nützliche Kontakte zu pflegen, wären diese Konzerte in der UdSSR im Frühjahr 1988 kaum möglich gewesen, was auch Klaus Meine betont: „In die UdSSR sind wir über den Umweg Ungarn gekommen. Dort hatten wir mit dem Konzertveranstalter Laszlo Hegedus zusammengearbeitet, der wiederum hatte Beziehungen in die Sowjetunion, die er für uns hat spielen lassen.“

In Leningrad spielten die Scorpions vor einem bunt gemischten Publikum, in dem sich Heavy Metal- und Rockfans ebenso fanden wie biedere Familien, die der Hauch des Exotischen angelockt hatte, und viele Soldaten und Milizionäre in Uniform. So gemischt das Publikum auch war, die Resonanz war überwältigend und festigte den Status der Band in der Sowjetunion.

Für die Scorpions war der erste Abstecher in die Sowjetunion keine Konzertreise wie alle anderen. Noch trennte der rostende Eiserne Vorhang zwei grundverschiedene Welten voneinander. Doch 1988 wurden die ersten Risse und Rostlöcher schnell größer und die Grenzen damit zunehmend durchlässiger. „In Leningrad haben wir uns zum ersten Mal als deutsche Band gefühlt“, reflektiert Klaus Meine. „Bis dahin waren wir vor allem eine internationale Band, die zufällig aus Deutschland kam. Aber Leningrad ließ sich nicht mit London, Rio oder Los Angeles vergleichen. In Leningrad, wie überall in Osteuropa, hatten Deutsche nur wenige Jahrzehnte zuvor fürchterlich gewütet. Und da kamen wir nun als deren Kinder in diese Stadt und wurden gastfreundlich aufgenommen. Uns blieb nur, Demut zu zeigen. Für großspuriges Auftreten oder Rockstar-Gehabe war da schlicht kein Platz. Unsere Väter kamen mit Panzern, wir kamen mit Gitarren.“

C 1988/2020/2021 Edgar Klüsener,

Veröffentlicht unter anderen in Metal Hammer Germany, UK, Spain, Greece, France, Spain and Hungary. Auszüge außerdem im Buch ‚Wind of Change‘ (Hannibal 1993)

 

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Wodka, Kaviar und Bon Jovi… Moskauer Tage und Nächte…

Diese Zeitgeschichte erzählt von einigen kalten Wintertagen Ende 1988 in der russischen Hauptstadt Moskau. Damals gab es noch die Sowjetunion, Mikhail Gorbatschow war der neue Vorsitzende der KPdSU und hatte gerade sein Programm der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erneuerung gestartet. Glasnost und Perestroika waren die Schlagworte für Konzepte gesellschaftlicher Erneuerung, die nicht nur im Sowjetblock die Menschen elektrisierten. In der Folge zeigte der Eiserne Vorhang, der Europa in der Zeit des Kalten Krieges in zwei hermetisch voneinander abgeschottete Hälften, geteilt hatte, erste Rostlöcher. Durch diese schlüpften auch westliche Rockbands. Im April 1988 war ich mit den Scorpions in Leningrad später im selben Jahr dann mit den Toten Hosen und Ülo in Litauen, damals noch eine Teilrepublik der Sowjetunion. Die Winterreise, der dritte Ausflug in die Sowjetunion im Jahr 1988, von der in der Folge die Rede sein wird, hatte zwei Gründe. Zum einen war ein Treffen mit Stas Namin anberaumt, in dem ausgelotet werden sollte, ob es eine Zukunft für eine russischsprachige Version des Metal Hammer geben könnte. Zum anderen gab es etwas zwischen Stas Namin und dem Bon Jovi-Manager Doc McGhee zu besprechen, das auf ein Großereignis im August 1989 hindeutete. 

Väterchen Frost zeigte sich streng. Minus 15 Grad bescherte er den Moskauern und dazu jede Menge Schnee. Und das bereits Ende November, zu einer Zeit also, in der sich unser heimatliches Klima noch beharrlich weigert, die Temperaturen unter die magische Marke Null sinken zu lassen, uns höchstens einmal in höheren Lagen Schneeregen und morgendliches Glatteis beschert. Was mitteleuropäischen Autofahrern jedoch durchaus schon als Grund reicht, ein bemerkenswertes Chaos auf Straßen und Autobahnen anzurichten.

Ganz anders in Moskau. Die Autofahrer der zehn Millionen Einwohner zählenden Sowjet-Metropole beherrschen ihre Vehikel in jeder Schnee- und Eislage perfekt. Ein Blick auf den Tacho beweist es: Mit 80 Sachen prescht unser Fahrer über eine Fahrbahn, die so spiegelglatt ist, wie sie aussieht, schleudert leicht in den Kurven, hat jedoch den Wagen in jeder Sekunde der Fahrt voll unter Kontrolle. Nicht unter Kontrolle ist dagegen der eigene Herzschlag, der ständig neue Spitzengeschwindigkeiten vorlegt, wenn der Wagen in hohem Tempo auf einen Fußgängerüberweg zubraust, auf dem sich Scharen von Passanten bewegen. Bremsen ? Freilich, aber doch bitteschön erst in letzter Sekunde. Es ist alles eine Frage der Gewöhnung. Die Passanten lassen sich nicht aus der Ruhe bringen, der Chauffeur nicht, nur Metal Hammer Chefredakteur Edgar Klüsener  und Metal Hammer-Herausgeber Jürgen Wigginghaus

Jürgen Wigginghaus 1988

stöhnen immer wieder gepeinigt auf und sind heilfroh, als die Fahrt am ihnen zugedachten Hotel endlich ihr Ende findet. Der Name der Unterkunft ist unaussprechlich, lässt sich aber, so versichert der uns für die Dauer unseres Aufenthaltes zugewiesene Schutzengel Sascha, bequem auf CeDeTe abkürzen. Nun denn, halten wir’s also für derhin damit. Ansonsten ist das Hotel bemerkenswert gigantisch. 22 Stockwerke, mehrere Restaurants und Bars (die um 23.00 Uhr Ortszeit schließen), Swimming Pool (überdacht natürlich) und ein professionelles Tonstudio beherbergt es ebenso wie diverse kleine Läden und Verkaufsstände. Trotzdem ist es keins von den besten der Stadt. Die befanden sich am Tage unserer Ankunft noch fest in den Händen des französischen Ministerpräsidenten Mitterand und seiner Gefolgschaft, den Delegiertinnen des Frauenverbandes der KPdSU und anderer offizieller Würdenträger und Amtsinhaber.

Dass es in der Sowjetunion bereits lange vor dem Fall des Eisernen Vorhangs eine rege Metalszene gab, war damals im Westen weitgehend unbekannt.

Aber zurück zum CeDeTe: Zum Hotel gehört außerdem eine Konzerthalle, in welcher gelegentlich auch Rockbands, darunter, man höre und staune, sogar sowjetische Speed- und Thrash-Kapellen auftreten. In der Hauptsache ist die Örtlichkeit jedoch Kongressen, Meetings und der eher seichten Muse vorbehalten.Das CeDeTe erfüllt offensichtlich alle Ansprüche. Doch nicht seinetwegen sind wir in die Metropole an der Moskwa gereist. Der Grund für den Ausflug in Eis und Schnee ist vielmehr ein Besuch im Moskauer Musik-Center, das erste privatwirtschaftlich organisierte professionelle Musik, Veranstaltungs-, Produktions- und Managementunternehmen in der Geschichte der UdSSR. Glasnost und Perestroika machten’s möglich.

Sascha holt uns eine Stunde nach dem Einchecken wieder vom Hotel ab. Mit einem neuen Wagen und einem anderen Fahrer. Auf geht’s in den Gorki Park, idyllisch und tief verschneit am Ufer der Moskwa sich dahinstreckend. „Knapp drei Kilometer des Parks„, erklärt Ssascha, „sind von der Zivilisation erschlossen, bebaut und vielfältig genutzt. Die restlichen 5O Kilometer überwuchert ein natürlicher Urwald…“ Die Erklärung beeindruckt ebenso wie die geschilderten Dimensionen. Das Musik-Center liegt Gott sei dank im erschlossenen Teil des Parks, ist also mit dem Wagen bequem erreichbar.

Und es hat ein Restaurant. Oder vielmehr eine Cafeteria, in der auch warme Mahlzeiten serviert werden. Es sind nur wenige Leute anwesend, eine kleine Gesellschaft also, die jedoch umso internationaler ist. Doc McGhee ist da, bekannt als Manager von Bon Jovi, den Scorpions, Cinderella und vieler anderer Majorbands. Bob Tulipan ist da, ein freier Promoter mit Offices in London und New York, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die Stars des Bolschoi-Ballets mit denen der Leningrader Konkurrenz vom Kirov-Ballet zusammen auf Tour zu schicken. Außerdem Dmitry V. Shavirin, Redakteur der Tageszeitung Moskovsky Komsomolets sowie der Präsident Dennis Berardi (seinen Vize hat er gleich auch noch mitgebracht) von Kramer-Guitars. Letztere beiden haben im übrigen das Management der Gruppe Gorki Park, wir haben sie Mitte letzten Jahres bereits einmal vorgestellt, übernommen. Und dann sind da noch einige ausgesprochene Schönheiten weiblichen Geschlechtes. Und zwar die letztjährige Miss Moskau, ihre Kollegin Miss Sibiria und, ebenso ansehnlich wie schüchtern, Miss Asia. Mit diesen jungen Damen hat es eine besondere Bewandtnis: Sie alle nämlich werden ebenfalls vom ‚Center‘ gemanaged. Womit sich zeigt, dass dessen Aktionsradius weit über die schnöde Rockmusik hinausreicht…

Amerika entdeckt anscheinend die Sowjetunion. Glasnost und Perestroika machen’s möglich, dass die Rockwelt West enger als bisher mit der Rockwelt Ost zusammenwächst Die Rockwelt West, Sektion West-Germany (Plattenfirmen von WEA bis BMG Ariola), wird übrigens eine Woche nach diesem Treff in der Cafeteria des Musik-Centers erneut geschlossen in Moskau sein. Diesmal um der Livepräsentation von rund 30 sowjetischen Metalbands beizuwohnen. Aber das nur am Rande.

Verlassen wir nun das Musik Center und schlendern wir zurück ins Hotel CeDeTe. Dort läuft gar nichts mehr, die Bar ist ebenso dicht wie die Souvenirshops. Nightlife auf sowjetisch? Nicht die Bohne, als Alternative bleibt nur das Bett. Aus dem es am nächsten Morgen recht zeitig wieder rausgeht. Dmitry Shavirin hat sich angesagt und will sein Interview mit dem Metal Hammer/Crash. Über diese unsere Publikation, in der SU ebenso bekannt wie unerschwinglich (80 Rubel, das entspricht einem legalen Umtauschwert von 240 DM, ist der Schwarzmarktpreis für eine Ausgabe), soll in der Moskowsky Komsomolets (Auflage immerhin gut 1 Million Exemplare täglich) eine große Geschichte erscheinen.

Das Interview

Nach dem Interview dann Sightseeing. Soweit bei dem grautrüben Winterwetter, das draußen das Bild bestimmt, von ‚Sehen‘ überhaupt die Rede sein kann. Es schneit ununterbrochen.

Sascha kommt – mit neuem Auto und neuem Chauffeur…

Sagmal, Sascha, wo bekommst Du eigentlich ständig die Fahrzeuge her?

Ich stehle sie…

Du machst waaaasss?!

Naja, stehlen ist vielleicht das falsche Wort. Ich leihe sie mir halt aus… Vom Peace Committee.

Das ‚Peace Committee‘ ist eine staatliche Organisation, die direkt dem ZK der KPdSU untersteht. Aufgabe des Komitees ist die Organisation und Durchführung aller möglichen und unmöglichen Aktionen, die der Propagierung und der Sicherung des Friedens dienen. Das Komitee lädt Delegationen ausländischer Friedensgruppen ins Land, führt Tagungen und Kongresse durch, wirbt für Frieden und Abrüstung ebenso wie für Völkerverständigung, stellt sich dabei auch schon mal gegen die eigene Regierung und gegen Armee und Partei und unterstützt offen und versteckt die Aktivitäten des Centers. Für seine Zwecke, in diesem Fall Abrüstung, wirbt das Komitee auch schon mal mit ebenso anzüglichen wie griffigen Slogans. Make Love Not War ist so einer, bekannt von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung Ende der Sechziger, und Fuck For Peace ist ein anderer, doch bitteschön jeder beherzigen sollte.

Wenn Sascha nicht gerade Metal Hammer/ Crash-Redakteure, -Herausgeber und ähnliche Leute auf Schritt und Tritt begleitet, dann arbeitet er als Dolmetscher und Betreuer ausländischer Gruppen für das ‚Peace Committee‘. Das wiederum unterhält einen eigenen Wagenpark (samt zugehöriger Chauffeure), aus dem sich Sascha denn auch schamlos, obzwar nicht ganz legal, für unsere Transportzwecke bedient Es folgt ein Abstecher in eins der riesigen Moskauer Kaufhäuser. Deren Ausstattung läßt sich kaum an westlichen Standards messen, zu frisch ist noch Perestroika und zu schlecht noch die Versorgung mit Konsumartikeln, selbst in der Hauptstadt des Eurasischen Riesenreiches. Zumindest offiziell. Auf dem Schwarzmarkt ist die Situation wesentlich besser.

Sascha: „Auf dem schwarzen Markt kann man nahezu alles bekommen. Es gibt eine regelrechte Mafia, die den schwarzen Markt kontrolliert. Vor allem georgische Bauern verdienen sich dumm und dämlich. Sie bringen nur einen Teil ihrer Erzeugnisse in den offiziellen Warenumschlag ein, der Rest versickert auf dem grauen und dem schwarzen Markt. Melonen zum Beispiel, legal in Moskau so gut wie gar nicht zu bekommen, werden auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Preisen gedealt. Bis zu 50 Rubel und mehr zahlt die Moskauer Hausfrau für eine Melone…

Vielmehr: die Hausfrau zahlt nicht, für sie ist die Melone schlicht unerschwinglich. Bezahlbar ist sie eigentlich nur für hohe Staatsbedienstete, für die neue Klasse der privaten Unternehmer und für andere finanziell Privilegierte. Wen wundert es da noch, dass es in den fruchtbaren und klimatisch begünstigten Schwarzmeer-Regionen die meisten sozialistischen Millionäre gibt?!

Wir haben, erstmals in der Geschichte der Sowjetunion, Ankunftszeit und -ort von Bon Jovi über die Tagespresse und übers Moskauer Fernsehen bekanntgemacht. Am Flughafen wird also die Hölle los sein…

Sascha grinst, als er uns dies mitteilt. Wir sind zurück im Center, wo sich die Belegschaft aufmacht, Bon Jovi am Flughafen zu empfangen. Ein Autokonvoi wird zusammengestellt, bestehend aus Wolga – 12 – Zylinder-Limousinen, BMW’s und anderen standesgerechten Fahrzeugen. „Bis vor acht Tagen war Bon Jovi in der UdSSR kaum bekannt, weit weniger jedenfalls als Bands wie die Scorpions oder Metallica. Dann haben wir unsere Medienkampagne gestartet, und jetzt kennt jeder Fan von Sibirien bis Leningrad die Jungs aus New Jersey. Ich schätze, dass am Flughafen trotz des miesen Wetters rund 7.000 Kids auflaufen werden…„, erläutert eine Mitarbeiterin des Centers. Ein Empfang also, wie er in unseren Breiten seit den seligen Zeiten der Beatles oder der Stones kaum noch einer Rockgruppe zuteil geworden ist.

Der Autokonvoi setzt sich in Bewegung, vornweg ein Polizeiauto mit eingeschaltetem Blaulicht. Damit beginnt eine der der beeindruckendsten Fahrten, die alle Beteiligten je miterlebt haben. Als gelte es, einen hochrangigen Staatsmann, von woher auch immer, sicher durch Moskau zu eskortieren, haben Milizen auf einer Länge von gut 30 Kilometern den Weg vom Center zum Flughafen, den der Konvoi nehmen sollte, durchweg für den normalen Feierabendverkehr gesperrt. Die Folge ist ein riesiger Verkehrsstau, den die an solches offenbar gewöhnten Moskauer jedoch geduldig und mit Fassung tragen.

Wie ist sowas möglich?

Auch selbst ein erfolgreicher Musiker: Stas Namin

Stas Namin„, so erklärt Sascha, “ ist ein Mann mit sehr weitreichenden Beziehungen. Die gehen bis in die obersten Spitzen des Politbüros, ermöglichen ihm also so einiges mehr als wahrscheinlich jedem anderen Vertreter der sowjetischen Rockszene…

Die Schätzungen waren nicht überzogen, runde 7.-8.000 Kids bevölkern die Hallen des internationalen Flughafens von Moskau, darunter ein Fernsehteam, sehr viele Fotografen — und erstaunlich wenig Miliz und anderes Ordnungspersonal. Die öffentliche Ordnung ist anscheinend völlig überrascht worden von dem Ansturm.

Bon Jon, Bon Jon…„, skandieren die Fans.

Und dann kommt die Band tatsächlich durch die V.I.P.-Abfertigung, eingekeilt zwischen Betreuern und Security. Nur wenige Anwesende erhaschen einen kurzen Blick auf die Amis, bevor diese dann in einem abgetrennten Bereich des Flughafens verschwinden. Recht verloren wirken die jungen Damen, die den Musikern Blumensträuße als Willkommensgruß überreichen sollten und nun vor dem Eingang zum V.I.P.-Bereich herumlungern.

Wenn schon nicht Bon Jon, dann zumindest Metal Hammer…„, mag sich so mancher Fan gedacht haben, als irgendein Schlaumeier, weiß der Teufel wie, uns als Mitarbeiter eben dieser Zeitschrift identifiziert hat. Plötzlich sind wir umkreist von unzähligen Kids, die Autogramme verlangen, Poster zur Unterschrift präsentieren, alles über Anthrax wissen wollen und über U.DO, und ansonsten den Oliver Klemm vermissen, der beim Gros der deutschsprechenden sowjetischen Metal Hammer offenkundig als der Schreiber bekannt ist. Einer Versetzung des entsprechenden Herrn ins anheimelnde Sibirien stünde damit wohl nichts mehr im Wege. Als Fehler erweist sich dann eine freundlich gemeinte Geste von Jürgen Wigginghaus, der einige Exemplare des Metal Hammer an die Umstehenden verteilen will. Er geht unter in einem Pulk von Fans und wird fast zu Boden gerissen.

Woraufhin er dann dem Fahrer die Tüte mit den restlichen Magazinen in die Hand drückt und ihn bittet, diese im Wagen zu verstauen. Bis zu diesem allerdings kommt der Fahrer nicht, weil er vorher schon auf halber Strecke von zwei Herren in grauen Mänteln beiseite genommen und verhaftet wird. Es kostet Sascha eine Viertelstunde beredter Überzeugungsarbeit, den Chauffeur aus den Klauen des KGB zu befreien.

Wir treffen Bon Jon später im Center…

So die Auskunft eines entnervten Betreuers am Flughafen. Da die staatlichen Ordnungskräfte vom Ansturm der Fans ebenso überrascht wie überfordert scheinen, muss die Band auf Schleichwegen aus dem Flughafengebäude gebracht und zum Hotel verfrachtet werden.

Apropos Bon Jovi: Die sind nicht etwa zum Spielen ins moskowitische Großreich gekommen, sondern nur und ausschließlich zum Zwecke der Promotion. Promotet werden soll ein Festival, das Mitte 1989 in Moskau stattfinden wird, organisiert von der ‚Make A Difference Foundation‘. Das schreit nach einer weiterführenden Erklärung. Hier ist sie:

20 Jahre nach Woodstock…

Die Grundidee ist simpel. Vor Genau 20 Jahren fand im amerikanischen Bundesstaat New York, im Städtchen Woodstock, ein Rockfestival statt, das als eins der bedeutendsten in die Rockgeschichte ebenso eingegangen ist wie in die Geschichte der weltweiten Jugendbewegungen. Love & Peace war das Motto, die politischen Aussagen richteten sich gegen den Vietnamkrieg, gegen Rassismus und gegen die überholten Konventionen der Elterngesellschaft. Ein anderer Aspekt war die hemmungslose Propaganda für ‚bewußtseinserweitemde‘ Drogen. Tune in, tarn on, drop out der Kernslogan, die Aufforderung überkommenen gesellschaftskonformen Konventionen den Rücken zu kehren, auszusteigen und eine neue Welt der Jugend aufzubauen — mit Drogen als unentbehrlichen Hilfsmitteln.

Der Vietnamkrieg ging tatsächlich zuende, die Gesellschaft blieb im Prinzip wie sie war, nur die Drogen erlebten einen wahren Siegeszug, in West und Ost…

Das „Woodstock Jubilee“ Festival soll nicht nur an das Ereignis vor 20 Jahren erinnern, sondern auch neue Zeichen setzen für Völkerverständigung, Frieden und eine Jugendkultur, die nach wie vor lebendig ist, weltweit. Vor allem aber soll den Drogen, die einigen der Woodstock-Teilnehmern zum tödlichen Verhängnis geworden sind, diesmal eine klare und knallharte Absage erteilt werden. Als Teilnehmer werden derzeit gehandelt:

Ozzy Osbourne

The Scorpions, Bon Jovi, Mötley Crüe, Gorki Park und Ozzy Osbourne. Bereits im Frühjahr dieses Jahres wird eine LP erscheinen, auf der die angeführten Bands Songs covern werden von Musikern oder Bands, die an Drogen-Überdosen verstorben sind. Im Gespräch sind Titel von The Who (Gorki Park haben bereits ‚My Generation‘ aufgenommen), Led Zeppelin, The Doors, Janis Joplin, Elvis Presley, Sex Pistols, AC/DC, The Rolling Stones, Thin Lizzy, Free, T. Rex, Canned Heat, Badfinger und The Yardbirds. Das Festival wird übrigens weltweit per Satellit übertragen werden. Ob es auch in Deutschland oder anderen Ländern der EG auf die Bühnen gebracht werden wird, ist zur Zeit noch unklar…

Mit Bon Jovi ist auch ein Kamerateam von MTV, der Band seit etlichen Tagen auf den Fersen, in Moskau eingefallen. Abends drängen sich im Restaurant des Musik-Centers Gäste aus aller Herren Länder, Kamerateams von MTV und dem Sowjetischen Fernsehen, Fotografen, diverse Misses (Sibiria, Asia und so fort) und sowjetische Musiker. Die Party endet jedoch bereits gegen Mitternacht…

Der nächste Tag führt Bon Jovi in den Kreml, in die Redaktion der Komsomoletz Prawda, auf den Roten Platz, wo auch die Landestelle des Mathias Rust gebührend betrachtet wird, und schließlich abends wieder ins Center. „Moskau hat ursprünglich zwei Flughäfen. Den internationalen Airport und den nationalen. Nun hat der Volksmund die Moskwa-Brücke zum Roten Platz zum ‚Rust Airport‘ ernannt. Außerdem haben die Moskauer endlich auch eine Erklärung dafür gefunden, warum der riesige Springbrunnen im berühmten Kaufhaus Gum seit einiger Zeit ständig außer Betrieb und wasserleer ist: Die Obrigkeit befürchtet, dass hier eines Tages unbemerkt ein deutsches U-Boot auftauchen könnte …„.

Der Fahrer lacht sich halbtot, als er diese Anekdote erzählt. Später dann Studiotermin im sowjetischen TiVi. 250 Millionen Zuschauer werden diese Sendung später sehen, eine erschreckende Zahl, selbst für Bon Jovi, obwohl die aus ihrer US-amerikanischen Heimat schon so einiges gewohnt sind. Das Studio ist ausgestattet wie eine gutbürgerliche Wohnung, mit Küche, Wohnzimmer und allem drum und dran. In der Küche wird Borschtsch serviert, das russische Nationalgericht, eine Kohlsuppe mit Fleischeinlage und dicken weißen Fettaugen, die wie Eisinseln auf der Oberfläche schwimmen. Nicht unbedingt jedermanns Geschmack, aber zumindest nahrhaft. Vor den Kameras wenig später Bon Jovi, Doug McGhee, Kramer-komplett, Gorki Park und der Polygram-Präsident, der bei dieser Gelegenheit nicht nur bekanntmacht, dass er Gorki Park gesigned hat und phantastische Zukunftschancen für die Band sieht (warum sonst hätte er die Parks auch signen sollen???), sondern dass er darüberhinaus noch eine Vereinbarung mit Melodija getroffen hat, die Lizensierungen von Ost nach West und umgekehrt endlich möglich macht.

Lieber Herr Bongiovi, haben sie eine Message für unsere Zuschauer???

Na klar, ich bin der festen Überzeugung, dass die Kids überall in der Welt gleich sind. Rock’n’Roll ist ihre Sprache, die von China bis Brasilien überall verstanden wird und die sie einander näherbringt. Als Rockmusiker sind wir gleichzeitig Botschafter des Friedens und der Völkerverständigung.‘‚ Na also. Gorki Park erzählen noch ein bißchen über New York und über ihre Freundschaft mit den Jungs von Bon Jovi, und das war’s dann.

Party

It’s Party-Time.. Jede Menge Mädchen, Musiker und Offizielle bevölkern das Musik-Center. Ein musikalischer Leckerbissen ist angekündigt. Vorerst jedoch wird zunächst einmal ausgiebig dem heiligen Wässerchen (Wodka) zugesprochen, und Sekt und andere Alkoholika fließen in Strömen. Entsprechend entwickelt sich die Stimmung. Ganz Wagemutige haben zudem die Möglichkeit, eine Fahrt im Pferdeschlitten entlang der Moskwa zu unternehmen. Bei Minus 20 Grad Celsius nicht gerade für jedermann die angenehmste Vorstellung. Dann schon lieber der kurze Fußmarsch durch Eis und Schnee hinauf in das kleine Studio, in dem Gorki Park sich live präsentieren.

Seitdem ich die Band das letzte Mal gesehen habe (April 1988 in Leningrad), ist sie noch um einiges besser geworden. Was nicht weiter verwundert, wenn man bedenkt, dass die Jungs sich für einige Monate in den USA aufgehalten haben, in New Jersey, wo selbst sie intensiv an sich, an ihren Englischkenntnissen und an ihrem Material gebastelt haben. Mit einigen kleinen Hilfestellungen von Jon Bon Jovi und Ritchie Sambora übrigens. Aus New York hat Gorki Park einiges an neuem Demo-Material mit an die heimische Moskwa gebracht, darunter auch ihren Beitrag zum ‚Make A Difference‘-Sampler, das Who-Cover ‚My Generation‘, ein Titel, der für die Jugend der UdSSR als Hymne eine Bedeutung erlangen könnte, die er im Westen schon lange verloren hat.

Der Set zeigt, dass Gorki Park nicht umsonst speziell in den USA so hoch gehandelt wird, wie das zur Zeit der Fall ist. Anders als Kruiz oder Master steht Gorki Park für eher kommerziellen Hardrock mit russischen Einflüssen, ist aber zugleich eine Band, die ein ungeheures Feeling für gute Melodien und Riffs hat, technisch nahezu perfekt ist, einen brillanten Sänger hat und doch voller ungezügelter Power steckt. Vor allem ‚Hit Me“, ein Song, der leichte Blues- und Souleinflüsse verarbeitet, hat das Zeug zu einem Riesenhit all over the world.

Die Band kommt an, und entsprechend ist die Stimmung im ebenso kleinen wie überheizten Studio. Eine Steigerung scheint kaum noch möglich zu sein, wird jedoch wahr, als unversehens Jon Bon Jovi, Ritchie Sambora und ihre Bandkollegen ebenfalls auf der kleinen Bühne auftauchen und alle zusammen zu einer phantastischen Session ansetzen. Blues steht auf dem Programm und alte Rockstandards. Was auch immer, es gefällt allen Beteiligten ebenso wie den einfach nur Zuhörenden. Entsprechend aufgedreht rutscht und schlindert, perfekte Gelegenheit, mal eben eine der jungen Damen unterzuhaken, die bunte Gesellschaft schließlich zurück ins Center, quer durch die Arena mit ihrer riesigen Bühne und ihren wie in einem antiken Amphitheater hochgezogenen Sitzreihen, die Platz bieten für ca. 12.000 Zuschauer.

Hier veranstalten wir im Sommer riesige Konzerte für die Moskauer Kids. Nach den Konzerten geht’s dann ab auf Flußschiffe (die Arena liegt direkt am Flußufer), auf denen wir die ganze Nacht durchfeiern können“, beschreibt Stas Namin und fügt hinzu: „Nächsten Sommer mußt Du unbedingt mal zu einem der Festivals kommen.“ Mein Wort drauf!

„Ihr Deutschen habt mir wirklich einige Probleme bereitet.

David Bryan Rashbaum, bei Bon Jovi verantwortlich für schwarze und weiße Tasten, lässt kurz ab von seinem Glas und erklärt weiter:“ Ich habe Klassik studiert, Beethoven genauso gespielt wie Bach und Mozart. Und dann bekomme ich eine deutsche Notation in die Hände und finde da eine Note, von der ich vorher noch nie gehört hatte. Ein ‚H‘ als Notenbezeichnung. Mein Gott, ich hab‘ ’ne ganze Zeit gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass das nichts anderes war als unser gutes altes amerikanisches ‚B‘.

Ritchie Sambora hat andere Probleme mit dem Deutschtum. Ein lautes Schmutz! ertönt wodkagetränkt aus seiner Ecke. Und noch einmal. Und ein weiteres Mal. Sein Lieblingswort ist ganz klar ‚Schmutz‚.

Sag mal, was bedeutet das eigentlich, dieses ‚Schmutz‘?„, fragt dann später nach.

„Ach so, Dreck, Mist und so … naja, es klingt auf jeden Fall gut.“,.

„Schmutz!“

Nebenbei bemerkt: Mischt nie Wodka mit Sekt! Die Wirkung kommt, mit leichter Zeitverzögerung, der einer Atombombe gleich!

Schmutz!

Wir werden im Dezember einige große Konzerte in Moskau spielen. Anschließend geht’s zurück nach New York, wo die Plattenfirma einen Präsentationsgig für uns arrangiert hat, als Vorprogramm eines Major-Actes und vor etlichen tausend Leuten. Das wird am 21. Januar sein…“  Originalton Gorki Park, bevor sich Alex Belov und ein Bandkollege dann mit einer jungen Ballettänzerin aus Leningrad aus dem Staub machen.

Russische Frauen sind extrem anspruchsvoll, die schafft ein Mann alleine nicht. Deshalb teilen wir uns den Spaß meist zu Dritt…“ erklärt ein völlig übernächtigter Gorki Park-Gitarrist am nächsten Morgen. Sexismus und Mysoginie sind auch in Moskau leider Rock’n’Roll-Alltag.

Weiter zur nächsten großangelegten Pressekonferenz.. Diesmal ist die schreibende sowjetische Presse geladen. Kramer-Guitars erläutern noch einmal ausführlich ihre Pläne, in der UdSSR eine Gitarrenfabrik aufzubauen und solchermaßen die Versorgung sowjetischer Musiker mit akzeptablen Gitarren zu akzeptablen Preisen sicherzustellen. Angepeilt ist ein Joint-Venture mit Stas Namins Musik-Center… Zur Erklärung: Derzeit muss ein sowjetischer Gitarrist noch bis zu 20.000 Rubel für eine professionelle E-Gitarre mit westlichem Standard hinblättern. Das entspricht guten 60.000 Mark oder drei bis fünf Jahresgehältern!!! Kein Wunder, dass die Kramer-Pläne in der Szene Begeisterung auslösen.

Immer wieder unterbrochen von kritischen Fragestellern, erklären anschließend Doug McGhee und Mister Polygram noch einmal detailliert, was sie sich so alles für 1989 vorgenommen haben, Jon Bon Jovi gibt letzte Statements und dann ist es auch schon soweit, Bon Jovi und das MTV-Kamerateam brechen auf in Richtung Flughafen und Germany, wo sie einige Tage später zusammen mir Craaft und Lita Ford auf unseren Bühnen agieren werden. Wir bleiben noch bis zum nächsten Morgen, bis es dann auch für uns heißt: „Doswidanja Moskwa.“

Aber wer weiss, vielleicht fliegen wir ja bald mal wieder hin, in die UdSSR. Schließlich gibt’s da bis heute noch keine Musikzeitung…

Nachbemerkung:

Ich flog in der Tat wieder nach Moskau, im August 1989. Und den Metal Hammer gab’s dann kurz darauf tatsächlich auch in russischer Sprache, allerdings unter dem Titel Pop/ Metal Hammer,  ein Joint Venture mit einer sowjetischen Pop-Gazette. Der Deal war sinister, und dass es schon in der UdSSR eine rege Mafia gab, die von den Brüchen und Umbrüchen der Gesellschaft besonders profitierte, sollten wir bald darauf auch lernen.

C 2022 Muzik/Quest, Edgar Klüsener (Erstveröffentlichung in Metal Hammer 12/88)

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Jim Marshall: Ein Trommler, der Gitarristen das Lärmen lehrte

Diese Zeitgeschichte ist ganz dem Großvater des verzerrten Lärms gewidmet. Im Herbst 2004 traf ich Jim Marshall (verstorben im April 2021) in seinem Büro in Milton Keynes. Der geniale Tüftler, dessen Verstärker und Lautsprecher dem Rock’n’Roll seinen dreckigen Klang gaben und geben, ließ sich eigentlich ungern interviewen, und noch weniger mochte er Autogramme geben. Doch in diesem Herbst machte er eine Ausnahme von beidem. Ungefragt bot er vor dem Interview gar sein Autogramm an, wegen dem Doktor vor dem Jim. „Ist schon ein Ding„, erklärte er, „ich bin in meinem Leben nie zur Schule gegangen, und jetzt bin ich trotzdem ein Doktor.“ Der Titel ist ehrenhalber, vom College Of Music einer renommierten amerikanischen Universität verliehen. Nach dem Marshall schrieb er noch OBE und deutete dann extra mit dem Finger drauf: „Einen OBE habe ich jetzt auch, Anfang des Jahres verliehen bekommen. Von der Königin!“ Jim Marshall war also bester Laune und bereit, ein wenig über sich und sein Lebenswerk zu plaudern. Geschichten, die auf diesem Interview basierten, erschienen im November im Spiegel und einen Monat darauf im Rock Hard. Nachfolgend die Version, die das Rock Hard abdruckte.

Milton Keynes ist ein postmodernes Scheusal, ein städtebaulicher Sündenfall der 70er. Glas, Beton, stumpfsinnige rostbraune Fassaden und ausufernde Asphaltbänder prägen das graue, lebensfeindliche Bild der Kunststadt, von Reißbrett-Planern im nahen London lieblos ins Grüne geklotzt. Seelenlose Einkaufszentren, triste Pubs und anonyme Bürogebäude machen das Bild urbanen Schreckens komplett. Wer das graue Betonlabyrinth der Bochumer Uni kennt, der kann sich leicht ein Bild von Milton Keynes machen.

Die Stadt im Südwesten der britischen Insel ist dennoch eine bedeutende Koordinate im Weltatlas des Rock´n´Roll. Denn ausgerechnet hier befindet sich das Marshall-Verstärker-Werk, Produktionsstätte jener Amps, um die Gitarristen in aller Welt einen Kult betreiben, der fast an religiöse Verehrung grenzt. Und innerhalb des Werks hat Jim Marshall sein Büro.

Das Büro ist der einzige Raum im gesamten Werkkomplex, in dem geraucht werden darf. Die Luft ist geschwängert vom Rauch dicker Havannas. Ein alter Plattenspieler steht auf einem Sideboard, ein Verstärker, einige Schallplatten. Und ein Schlagzeug. Auf dem trommelt Jim Marshall  täglich zwei Stunden herum, um in Form zu bleiben. Denn der Mann, dem der Rock´n´Roll seinen Sound verdankt, die lebende Legende, Gottvater aller Rockgitarristen, ist von Hause aus Schlagzeuger. Die Gitarre hat er in seinen 76 Lebensjahren nie in die Hand genommen.

Kaum zu glauben, aber wahr: Ausgerechnet ein Schlagzeuger ist der Schöpfer jenes dreckigen, enorm druckvollen, immer leicht verzerrt klingenden Sounds, der Marshall-Amps so einmalig macht, der Generationen von Gitarristen geprägt und Marshall zu einer Legende hat werden lassen. Eine quicklebendige Legende zudem. Sein Alter sieht man Jim Marshall nicht an, er wirkt mindestens ein Jahrzehnt jünger. Und ist aktiv wie manch 40jährige nicht mehr.

»Ich bin halt ein Workaholic«, sagt er und meint damit: »Ich arbeite immer noch täglich bis zu zehn Stunden, sieben Tage in der Woche. Ich spiele immer noch in einer Band, die auch regelmäßig auftritt. Ich trommle immer noch ein bis zwei Stunden täglich auf meinem Drumkit.«

Nicht, dass er das wirklich nötig hätte. Denn bevor er der Welt seine Amps bescherte, war er ein gefragter Schlagzeuglehrer, aus dessen Schule einige der größten Rockdrummer hervorgingen. Überhaupt: die Lebensgeschichte des Jim Marshall. Filmreif ist ein Attribut, das oft viel zu voreilig vergeben wird. Reicht´s dann in den meisten Fällen doch nur bestenfalls zu einem C-Movie, wäre in seinem Fall mehr als ausreichend Stoff für einen Hollywood-Klassiker vorhanden.

Knochentuberkulose und Gipskorsett

The Sound of Rock’n’Roll: Marshall Amps. Pic by Photo by Clem Onojeghuo on Unsplash

Geboren wurde er am 29. Juli 1923 in Kensington als Sohn von Beatrice und Jim Marshall. Die Kindheit verlief alles andere als glücklich. Jim erkrankte an Knochentuberkulose und musste den größten Teil seiner Kindheit in ein Gipskorsett eingezwängt verbringen. In regelmäßigen Abständen schnitten die Ärzte den Gips auf, um das Wachstum des Jungen nicht zu behindern, und wickelten ihn dann neu ein. An Schulbesuch war unter diesen Umständen nicht zu denken.

»Meine Eltern waren arm«, erinnert er sich zurück. »Ich verbrachte die meiste Zeit im Krankenhaus. Zu der Zeit wurden Kinder im Krankenhaus noch nicht unterrichtet. An Privatunterricht war überhaupt nicht zu denken. Also wuchs ich ohne jede Schulbildung auf. Nur einige Pfadfinder bemühten sich in dieser Zeit, mir etwas beizubringehttps://zerotodrum.com/micky-waller/n.« Allerdings nicht Lesen, Schreiben oder Rechnen, sondern »...sie lehrten mich, wie man Bastkörbe flechtet. Wenn du jemals einen Bastkorb brauchst«, lacht er, »komm zu mir, ich flechte dir einen perfekten!«

Er war bereits 13, als die Krankheit endlich so weit unter Kontrolle war, dass er endgültig ohne Gipskorsett leben konnte. Prompt schickten die Eltern ihn zur Schule.

»Ich kam wegen meines Alters sofort in die Abschlussklasse. Und verstand natürlich, weil mir jede Vorbildung fehlte, kein Wort von dem, was da im Unterricht erzählt und gesprochen wurde. Wenig später bekam mein Vater einen neuen Job in einem anderen Teil von London. Wir mussten also umziehen. Er wollte für mich dort eine neue Schule finden, was für mich aber überhaupt keinen Sinn machte. Also sagte ich zu ihm: „Wofür soll das gut sein? Ich versteh´ in der Schule eh kein Wort. Kann ich mir nicht stattdessen einen Job suchen?„«

Am Ende ließ der Vater sich breitschlagen und verschaffte Jim eine Stellung als Ladenjunge in dem Geschäft, dessen Manager er war.

Aus dieser von Armut und Krankheit geprägten Kindheit läßt sich leicht erklären, warum Jim Marshall heutzutage massiv für Wohlfahrts-Organisationen spendet und sich auch persönlich stark in Charity-Projekte einbringt. Er ist Mitglied bei den Waterrats, einer erlesenen Gruppe von Showbiz-Größen, die bei der Aufnahme von neuen Mitgliedern strengste Auswahlkriterien anlegt. Der Kreis unterstützt diverse Projekte, fördert karitative Organisationen, die in der Kinder- und Jugendarbeit tätig sind, gibt Gelder für Kinder in der Dritten Welt oder greift einem unabhängigen Theaterprojekt unter die Arme.

»Ich gebe jedes Jahr rund eine halbe Million Pfund – circa 420 Millionen € – für unterprivilegierte und behinderte Kinder«, beziffert er die finanzielle Seite seines Engagements.

Erste Steptänze, ein Job als Sänger und ein Schlagzeug

Der Vater war es, der letztlich seinen Einstieg ins Showbusiness forcierte. Er wollte, dass der Sohnemann Steptanz lernte, in der Hoffnung, dass dieser die immer noch fragilen Knöchel in den Fußgelenken stärke. In der Entertainment-Schule war Jim der einzige Junge unter lauter Mädchen. Was zu einem Problem wurde, als die alljährliche Vorstellung für die Eltern bevorstand.

»Der Lehrer sagte zu mir: „Junge, was soll ich bloß mit dir anfangen?“ Dann hatte er eine Idee: „Du machst den Fred Astaire. Du tanzt ein bisschen und singst einige Nummern.“ Und so lief es dann auch.«

Ein Auftritt mit Folgen. Im Publikum saß nämlich der Großvater eines der Mädchen aus Jims Klasse. Er war Chef einer der beliebtesten Londoner Showbands jener Tage. Nach der Veranstaltung ging er auf Jim zu, gratulierte ihm zu seinem Auftritt und zu seiner Stimme und fragte ihn, ob er Lust habe, mal in seinem Orchester zu singen. Jim sagte zu, stand einige Abende später auf der Bühne, sang zum ersten Mal mit Orchester im Rücken, kam an – und hatte damit einen neuen Job.

Im stolzen Alter von 14 wurde Jim Marshall zum Profimusiker, der fünf oder sechs Abende pro Woche auf der Bühne stand und Swing-Standards sang. Nebenbei begann er, Schlagzeug zu lernen, und entwickelte sich in den folgenden Jahren auch noch zu einem gefragten Drummer.

Dann kam der Krieg. Jim wurde eingezogen und Wartungstechniker bei der Royal Air Force. »In dieser Zeit lernte ich eine Menge über Elektronik, ein Wissen, das sich später noch als sehr nützlich erweisen sollte.«

Nach Kriegsende kehrte er zurück ins Zivilleben und nahm seinen Musikerberuf wieder auf. In den frühen 50ern kam dann die nächste entscheidende Wende:

»Duke Ellington hatte eine Nummer mit dem Titel ´Skin Deep´ veröffentlicht. In Großbritannien war ich der erste, der diesen Song spielte. Was dazu führte, dass plötzlich all diese Youngsters ankamen, die von mir lernen wollten, wie man diesen speziellen Drumbeat spielt. Ich ließ mich schließlich breitschlagen, nahm zwei Schüler an und war selbst überrascht, als ich feststellte, dass ich es liebte, anderen etwas beizubringen. Die Schüler standen bei mir Schlange; es wurden so viele, dass ich schließlich beschloss, den Musikerberuf an den Nagel zu hängen und stattdessen nur noch Schlagzeugstunden zu geben

Er unterrichtete prinzipiell nur Einzelschüler, 65 insgesamt, jedem widmete er eine Stunde. Damit war die Woche weitgehend ausgebucht. Während er von dieser Zeit erzählt, leuchten Jim Marshalls Augen, er nippt immer wieder an seinem schottischen Whisky, schmaucht seine Zigarre und verliert sich in den Erinnerungen.

Ritchie Blackmore und Pete Townshend, Dudley Craven und Ken Bran

Unter seinen Schülern waren etliche, die später in großen Bands spielen sollten. Jimi Hendrix´ Drummer Mitch Mitchell zum Beispiel, Little Richards Taktgeber Micky Waller oder Ritchie Blackmores Schlagzeuger Mick Underwood. Diese jungen Drummer waren es auch, die ihn zum ersten Mal auf eine neue Musikform aufmerksam machten, die Mitte der 50er von Amerika nach Europa überschwappte: den Rock´n´Roll. Anfangs hielt Jim Marshall wenig davon.

»Ich hielt Rock´n´Roll für nichts anderes als eine weitere dieser vergänglichen musikalischen Moden. Heute heiß geliebt, morgen schon vergessen.« Nun grinst er breit, macht eine kleine Pause und fügt dann hinzu: »Wie man sich doch täuschen kann!«

Der Unterricht allein befriedigte ihn auf Dauer nicht. Anfang der 60er begann er daher, Baß- und PA-Boxen zu bauen und an andere Musiker zu verkaufen. Jim Marshall hatte eine Marktlücke erkannt:  »In diesen Tagen gab es keine speziellen Lautsprecher-Boxen für Bassgitarristen. Also baute ich welche

Pete Townshend

Wenig später eröffnete er zudem noch einen Schlagzeugladen, hauptsächlich für die eigenen Schüler, doch zu den Kunden gehörten bald auch jede Menge andere Drummer aus London und Umgebung. Viele seiner Schüler spielten inzwischen in eigenen Gruppen und brachten nun immer wieder mal ihre Bandkollegen mit in den Laden. Unter diesen war auch The Who-Gitarrist Pete Townshend. Pete gehörte zu jenen, die Marshall in den Ohren lagen, doch endlich sein Sortiment auch um Gitarren und Verstärker zu erweitern.

»Von beidem hatte ich nicht die geringste Ahnung«, amüsiert sich Marshall noch Jahrzehnte darauf. »Aber die Idee klang gut

1962 lief der Laden bereits so hervorragend, dass Marshall Personal einstellen mußte. Doch er wäre wohl bis heute ein Musikalienhändler unter vielen geblieben, wenn nicht diese Gespräche mit seinen Kunden gewesen wären:

»Ich unterhielt mich häufig mit den Gitarristen, die zu mir in den Laden kamen, vor allem mit Pete Townshend und Ritchie Blackmore. Die klagten immer wieder, dass es einfach für ihre Musik keinen Amp gäbe, der den Sound produzierte, den sie sich vorstellten. Sie wollten nicht den cleanen Fender-Sound oder sowas, sie wollten einen mächtigen, schmutzigen, dynamischen Sound, einen echten Rock´n´Roll-Sound. Sie fragten mich immer wieder, ob ich nicht für sie einen solchen Verstärker bauen könnte. Also dachte ich: Okay, versuchen wir´s mal!«

Jim, der hochtalentierte junge Elektroniker Dudley Craven und Marshalls Mitarbeiter Ken Bran machten sich also daran, den ersten Marshall-Amp zu designen. Im September 1962 stand der Prototyp bereit zum Ausprobieren.

»Wir hatten uns natürlich auch an Fender-Amps orientiert«, erzählt Marshall von der Entstehung des Amps, der den Klang des Rock´n´Roll ein für allemal definieren sollte. »Einfach deswegen, weil Fender meine Lieblings-Amps baute. Aber nicht an deren Hauptmodell, sondern eher am Fender Bassman, weil mir dieser näher an dem Sound zu liegen schien, den wir erreichen wollten. Fender war also sicherlich ein Einfluß für uns. Andererseits: In der Röhrentechnologie gab´s nichts Neues mehr, alles war schon dagewesen.«

Wenig später war dann das erste Modell ladenfertig, ein 4×12. Und die Bestellungen flatterten so zahlreich rein, dass Marshall mit dem Bauen kaum noch nachkam. 1963 war dem Laden bereits eine Werkstatt angegliedert, in der Ken Bran und Dudley Craven einen Amp pro Woche bauten. Viel zu wenig, um den rasant steigenden Bedarf zu decken. 1964 lagerte Marshall die Produktion deshalb in eine neue Fabrik nach Hayes aus. 16 Mitarbeiter bauten dort dann schon 20 Verstärker pro Woche zusammen. Derweil sangen die Gitarristen Loblieder über die Amps. Pete Townshend wollte jedoch einen noch größeren, noch lauteren und noch druckvolleren Verstärker.

»Ich kannte Pete schon seit Jahren, weil ich früher mit seinem Vater, einem sehr guten Alt-Klarinettisten, zusammengespielt hatte. Wir hatten gerade unsere ersten 100-Watt-Amps gebaut und waren wirklich stolz auf sie. Aber Pete wollte noch mehr, einen 8×12. Ich wandte ein, daß seine Roadies Probleme haben würden, so ein Ding zu handhaben, baute ihm aber trotzdem einen. Und natürlich beschwerten sich seine Roadies auch prompt. Einige Wochen später stand Pete deswegen wieder im Laden. „Du hattest recht“, sagte er. „Ich will aber trotzdem die Höhe von 8×12. Wie wär´s, wenn wir die in zwei Cabinets packen?“ Er wollte das Ding schlicht in zwei Hälften schneiden, was unmöglich war. Also überlegten wir gemeinsam hin und her, wie sich das Problem lösen ließe, und kamen schließlich auf die Idee, zwei separate Cabinets zu bauen und diese aufeinander zu stapeln. Damit waren die Marshall-Stacks geboren, eine Idee von Pete Townshend und mir.«

„Jimi Hendrix fand er es witzig, dass es einen zweiten James Marshall gab.“

Jimi Hendrix by Heblo (Pixabay)

1965 spielte so gut wie jede britische Rockband mit Marshall-Verstärkern. Sie nahmen sie mit auf Tour nach Amerika, das europäische Festland, Japan. Überall dort horchten Musiker ebenfalls auf, zeigten sich fasziniert von dem Sound, der schnell zum Synonym für Rock´n´Roll wurde. Aber es war ein anderer James Marshall, der die Amps endgültig zur Legende werden ließ:

James Marshall Hendrix war gerade in London ansässig geworden und hatte bei Eric Clapton zum ersten Mal einen Marshall-Amp gesehen. Der junge Gitarrist war auf Anhieb fasziniert von dem unverfälschten Sound und wollte ebenfalls einen. Außerdem fand er es witzig, dass es einen zweiten James Marshall gab. Den wollte er unbedingt kennenlernen. Jim Marshall erinnert sich an die erste Begegnung:

»Mitch Mitchell hatte früher bei mir im Laden gearbeitet und dann von mir Schlagzeugunterricht bekommen. Eines Tages kam er zu mir und erzählte von diesem jungen amerikanischen Gitarristen, in dessen Band er jetzt spiele. Der sei ganz heiß darauf, mich mal zu treffen. Einmal, weil er es spannend fände, dass wir Namensvettern waren, zum anderen aber auch wegen meiner Amps. Hendrix kam dann in den Laden, und wir unterhielten uns. Er sagte, er wolle unbedingt auch über Marshall-Amps spielen, und behauptete im Brustton der Überzeugung, dass er bald einer der ganz Großen im Rockzirkus sein werde. Mein erster Eindruck war: Schon wieder einer von denen, die versuchen, was umsonst zu bekommen. Aber im nächsten Atemzug sagte er schon, dass er natürlich für alles den vollen Preis bezahlen werde. Jimi Hendrix war ein wirklich netter Kerl, und wir kamen bald sehr gut miteinander aus. Ich habe ihn dann auch zwei- oder dreimal spielen gesehen und war schwer beeindruckt von seiner Musikalität und seiner Technik. Jimi war in den folgenden Jahren unser größter und wichtigster Botschafter.«

Jimi Hendrix war es unbestreitbar, der, mehr als jeder andere, Marshall-Amps zur Standardausstattung für Rock- und Metal-Gitarristen machte.

Heute ist Jim Marshalls Verstärker-Geschäft ein Weltkonzern. In der Fabrik in Milton Keynes werden seine Amps in einer kuriosen, aber effektiven Prozedur, die modernste Fertigungstechniken mit traditioneller Handarbeit verbindet, für Musiker in der ganzen Welt hergestellt. Ein Verfahren, das die gleichbleibend exzellente Qualität der Geräte garantiert. Jim Marshall hat längst seinen eigenen Stern in Hollywoods „Walk Of Fame“, ist im eigenen Lande als Unternehmer wie als Mäzen und als Grundpfeiler der Rock´n´Roll-Welt zigfach ausgezeichnet worden.

76 Jahre ist er jetzt, immer noch hellwach, immer noch mit Leib und Seele der Musik ergeben. Und eben diese innige Liebe zur Musik sei es, sagt er, die das eigentliche Geheimnis des Erfolges seiner Amps ausmache. Denn »…ich bin selbst Musiker. Deshalb habe ich ein Gespür dafür, was andere Musiker wollen, ich verstehe, wovon sie reden, wenn sie einen bestimmten Sound beschreiben. Als Musiker habe ich gleichzeitig auch das Gehör für Sounds. Ich verstehe die technische Seite, kann das Verstehen also in Technik umsetzen. Das Wichtigste aber ist: Wir sind nie hergegangen und haben Geräte nach unseren eigenen Vorstellungen hergestellt, haben den Musikern nie vorgeschrieben, welchen Sound sie unserer Meinung nach haben sollten. Stattdessen haben wir jede Verstärkerreihe immer in enger Zusammenarbeit mit Musikern entwickelt, haben in langen Gesprächen deren Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen herauszufinden versucht. Das ist das eigentliche Erfolgsgeheimnis von Marshall-Amps.«

Solange es Rock´n´Roll gibt, egal unter welchem Deckblatt er gerade firmiert, ob als Metal, Kreuzundquer, Alternative oder was auch immer sonst, solange wird es auch Marshall-Amps geben. Gute Arbeit, Jim!

 

C 2022 MuzikQuest/Edgar Klüsener, first published in Rock Hard 11/2004

 

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Peter Gabriels Neue Welten

Im Herbst 1994 interviewte ich Peter Gabriel in seinen Real World Studios im idyllischen Bath. Während des Interviews erklärte er seine Sicht auf die Zukunft der Musik. In der hatten CDs, DVDs und andere solide Medien keinen Platz mehr. Die Zukunft sei, so seine Überzeugung, der Daten-Highway. Wohlgemerkt, wir schreiben das Jahr 1994, befinden uns also in einer Zeit in der Deutschland – wie der Rest der Welt – noch weitgehend offline existierte. Und wer doch schon im Netz unterwegs war, das gerade erst zum World Wide Web wurde, war zumeist Kunde proprietärer Online-Dienste wie CompuServe, AOL, T-Online oder Web.de. Die Geschwindigkeiten, die mit den damaligen Modems erzielt wurden, reichten nicht, Songs oder gar Videos zu streamen. Von den Kosten ganz zu schweigen. Und dennoch entwickelt Peter Gabriel schon damals ein Szenario, das den heutigen Kunden von Netflix, Spotify und Konsorten nur allzu vertraut sein dürfte. Eine weitere Zeitgeschichte, die übrigens im Dezember 1994 im Ruhrgebiets-Magazin Marabo erschien.

Nicht unbedingt nur wegen seiner Musik, eher auch wegen seiner technischen Neugier und Weitsicht zählt Peter Gabriel zur Speerspitze der internationalen Popmusik. Zur Weihnachtszeit deshalb der Tipp von Erzonkel Gabriel: Keine Tonträger kaufen – bald kommt der Daten-Highway…

Der Meister wirkt abgespannt und übernächtigt. Aber er macht gute Miene zum lästigen Promo-Spiel. Eine Horde europäischer Journalisten ist in die beschauliche Ruhe der Real-World-Studios eingefallen, um Neues in Erfahrung zu bringen über das Live-Album „Secret World“ und die Video-Zusammenarbeit mit dem franko-kanadischen Regisseur Robert Lepage. Viel spannender wird es, als die Rede auf neue Kommunikations-Technologien kommt, mit denen sich der Meister schon länger befasst. Eher beiläufig kommentiert Peter Gabriel eine Entwicklung, die seit geraumer Zeit die Vorständler der großen Plattenfirmen um den wohlverdienten Schlaf bringt: „Die Tage der traditionellen Tonträger sind bereits gezählt„, sagt er. „Und auch die CD-ROM ist kaum mehr als ein zwar interessantes, letztlich aber doch nur kurzes Zwischenstadium in dieser Entwicklung.

Egal, welche verschlungenen Informations-Pfade die technologische Entwicklung fürderhin auch nehmen wird, Peter ist gewappnet. Der frühere Genesis-Säger hat sich längst etabliert als Speerspitze der multimedialen Kreativ-Avantgarde. Im idyllischen Box im Südwesten Englands hat er in einer alten Mühle einen kleinen Konzern aufgebaut, der für die digitale Zukunft bestens gerüstet scheint. Unter den Dächern der Mühle und der dazugehörigen Gesindehäuser findet man ein ultramodernes HiTech-Tonstudio, ein Videostudio sowie die Büros der Gabriel-Firmen Womad und Real World. Vor allem letztere hat in jüngster Vergangenheit Furore gemacht. Hier entstand unter der kreativen Federführung Peter Gabriels eine multimediale CD-ROM, an der sich seither alle anderen Künstler mit ihren Produkten messen lassen müssen. Meistens zu deren Nachteil.

Doch der Meister ist bereits wieder einen Schritt weiter. Zwar wirkt er im Moment ein wenig abgespannt, doch belebt sich seine Stimmung sofort, als er auf künftige technologische Entwicklungen zu sprechen kommt. „Die Zukunft gehört„, begeistert er sich, „Music on demand.“ Und meint damit eine völlig neue Art des Musikkonsums, die sich in den USA bereits langsam durchzusetzen beginnt. Der Musikfreund geht nicht mehr in den nächsten Schallplattenladen, um sich dort die neueste CD seines Lieblingskünstlers zu besorgen, sondern wählt sich vom heimischen PC aus direkt in eins der Datennetze ein. Dort findet er eine reichhaltig sortierte Musikbibliothek. Er geht die Liste der Künstler durch, findet schließlich einen Song, den er immer schon hören wollte und lädt sich diesen dann auf seine Festplatte. „Das ist der Tod der klassischen Tonträger”, betont Peter Gabriel noch einmal.

Er selbst hat längst die Schaufel des Totengräbers in die eigenen Hände genommen. Denn Real World arbeitet bereits an diversen Projekten, die das virtuelle Universum der weltweiten Datennetze mit ihren bislang kaum erforschten Möglichkeiten erkunden sollen. Er ist bereit für die Zukunft und will diese mitgestalten. Ob das für die Tonträgerindustrie in gleichem Maß gilt, muss sich erst noch zeigen.

Erstveröffentlichung: Marabo 12/1994

Beitragsbild/Image: Steven Toole, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

C 2022 MuzikQuest/Edgar Klüsener

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Seltenes Nirvana Interview in voller Länge ( Kurt Cobain, Dave Grohl und Krist Novoselic)

Auf Youtube sind mittlerweile etliche Kopien eines Interviews präsent, das ich am 18. Oktober 1993 mit Nirvana in ihrer Heimatstadt Seattle geführt hatte. Das Interview sollte ursprünglich für das Fachblatt Musik Magazin, das kurzlebige Indie-Magazin C.O.R.E., die Musik Woche, Marabo, die Westfälische Rundschau, und einige andere Publikationen sein. Kurzfristig meldete dann auch noch BRAVO TV Interesse an und heuerte vor Ort einen Kameramann an, der das Interview dann mitschnitt.

Nirvana hatten an diesem Tag bereits eine Reihe von Interviews gegeben, und nicht alle waren gut gelaufen, ich war also auf das Schlimmste vorbereitet. Doch die Band gab sich locker und redselig, auch wenn ein windiger Balkon des Edgewater Hotels nicht unbedingt die beste Interview Location war.

Obwohl bereits mehrere Kopien des Interviews online sind, habe ich es bis heute versäumt, es auch auf meinem eigenen Channel verfügbar zu machen. Zeit also, das versäumte nachzuholen. Hier ist der Link zum Interview:

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Und hier der Link zur vollständigen Transkription.

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PRIMAL SCREAM, Manchester, 9. Juli 2022

Es ist ein perfekter Sommertag für ein perfektes Primal Scream Konzert in einer perfekten Umgebung. Die Castlefield Open Air Arena liegt im ehemaligen Kanalhafenbecken Manchesters, zu Füßen der alten römischen Befestigung Castra Mancunium, der die Stadt ihren Namen verdankt. Hinter der Bühne sind Hausboote angedockt und ein Wirrwarr von Eisenbahn-, Tram- und Autobrücken überzieht das Hafenbecken, während der industriellen Revolution einer der wichtigsten Transportknotenpunkte Englands. Als Walt Disco, die erste von insgesamt drei Vorbands, die Bühne betreten, brennt die Sonne von einem wolkenlos blauen Postkartenhimmel auf eine zu diesem Zeitpunkt bestenfalls halb gefüllte Arena. Die Band aus Glasgow hat unlängst ihr Debütalbum ‚Unlearning‘ veröffentlicht, das von der Kritik weitgehend wohlwollend aufgenommen worden ist. Musikalisch bedienen sich Walt Disco freizügig im Glamrock-Repertoire der Siebziger und Achtziger und reichern die Anleihen mit Goth- und New Wave-Elementen und einer gehörigen Prise Punk an. Das funktioniert überraschend gut. Live spielt die Band bewusst provozierend mit Gender-Klischees, und Sänger James Potter wirbelt im durchsichtigen purpurfarbenen Kleid über die Bühne. Mit hochenergetischen Songs wie ‚Cut Your Hair‘ oder ‚I Had The Perfect Life‘ heizen Walt Disco das Publikum an, das sie am Ende dafür auch kräftig feiert. Den Namen Walt Disco sollte man sich merken.

Eigengewächs aus Manchester – Singer/Songwriter Lone Lady, Pic: Edgar Klüsener/2022

Als nächste spielt LoneLady auf. Hinter dem Namen verbirgt sich die Sängerin, Gitarristin , Songwriterin und Produzentin Julie Campbell aus Manchester. Während ihres Sets füllt sich die Arena weiter. Sie und ihre zwei MitmusikerInnen haben hier ein Heimspiel, und sie machen das Beste daraus. Ihre post-punkigen elektronischen Stücke haben einen industriellen Hauch, der perfekt zur postindustriellen Atmosphäre Castlefields passt. Dennoch, Teile des Publikums nutzen die Gelegenheit, die der Lo-Fi Funk Set des Trios bietet, um sich an den Bier- und Würstchenständen mit Proviant für die anstehende Hauptattraktion zu versorgen.

Bevor es dann endlich Zeit für Primal Scream ist, sind zunächst noch The Mysterines aus dem benachbarten Liverpool an der Reihe. Inzwischen ist die Menge sichtlich angewachsen und freie Plätze sind in der Arena zunehmend schwerer zu finden. Seit sein Debütalbum im März in den Top Ten der Albumcharts gelandet ist, wird das Quartett aus der Klopp- und Beatles-Stadt in britischen Musik-Medien als ganz heißer Tipp gehandelt, und schon der Opener ‚Life‘s A B*tch (But I Like It So Much) macht klar, dass was dran ist am Mysterines-Hype. Als Anheizer sind die vier großartig, ihr grunge-lastiger und manchmal hypnotisch schwerer Rock sowie die großartige Performance von Gitarristin und Sängerin Lita Metcalfe heizen die ohnehin schon fantastische Stimmung in der inzwischen proppenvollen Arena um einige weitere Grade an. Nach dem letzten Akkord der Mysterines zeigt lang anhaltender und teils frenetischer Applaus, dass die Liverpooler auch in Manchester gewonnen haben.

Die mittlerweile 8.000, eine bunte und erwartungsfrohe Mischung der Generationen, sind endgültig bereit für die Hauptattraktion.

Punkt 21 Uhr baut sich zunächst der fünfköpfige Gospel-Chor auf einem Podest im Hintergrund der Bühne auf, vom Band ertönt ‚I Belong to Glasgow‘ von Andy M. Stewart. Dann schreitet Bobby Gillespie gemächlich an den Bühnenrand. Er trägt einen maßgeschneiderten Anzug in den psychedelischen Farben von ‚Screamadelica‘, des Albums, das dem einstmaligen Indieact Primal Scream 1991 den Durchbruch in den Massenmarkt gebracht hatte. Die kurze Tournee, die die Schotten in diesem Jahr spielen, steht ganz im Zeichen des dreißigjährigen Jubiläums von ‚Screamadelica‘.

Bobby Gillespie und der Gospel Chor. Pic: C Edgar Klüsener 2022
Mr Charisma: Bobby Gillespie (Pic: Edgar Klüsener, 2022)

Gillespie wird mit tosendem Beifall und Sprechchören empfangen. Dann geht’s los. „Wir zelebrieren die heilige Dreifaltigkeit des Rock’n’Roll’“ adressiert er die Menge. „Seid ihr bereit?“ Ein ohrenbetäubendes ‚Ja‘ ist die Antwort der versammelten Gemeinde. Ab geht die Post mit dem gospelinspirierten ‚Movin‘ On Up’, dessen Zeilen anfangs zögerlich, dann zunehmend lauter von der Menge mitgesungen werden. Bobby Gillespie tänzelt leichtfüßig über die Bühne – kaum zu glauben, dass der Mann bereits 60 ist –, und seine Gestik erinnert in Momenten an die eines charismatischen Predigers. Nur dass seine Botschaften im Rahmen einer fundamental-christlichen Kongregation sicherlich ebenso fehl am Platze wären wie die kaum verklausulierten Referenzen zu drogeninduzierten psychedelischen Sinneserfahrungen. Stilistisch ließen sich Primal Scream mit dem Release von ‚Screamadelica‘ nicht mehr in eine vordefinierte Ecke drängen. Mit dem Album brachen die Schotten seinerzeit aus dem Hinterstübchen der Indierock-Klischees aus und öffneten sich für Gospel, Acid House, Dance, R&B und die Rave-Subkultur, die im England der späten Achtziger und frühen Neunziger ihre Hochblüte hatte. Dass das heute noch so frisch und unverbraucht klingt wie vor drei Jahrzehnten, belegt nicht nur der sehr hohe Anteil der unter-Dreißigjährigen im Publikum, sondern auch die Ekstase, in die sich die Menge steigert, je länger das Konzert fortdauert. Es folgen ‚Slip Inside This House‘ und ‚Don‘t Fight It, Feel It’. Letzteren Song widmet Gillespie Denise Johnson. Die Sängerin aus Manchester hatte auf dem Screamadelica Album gesungen und ist auf dem Höhepunkt der Pandemie im Alter von 56 Jahren gestorben.

Es folgt ein weiterer magischer Moment. In der Ansage geht Gillespie auf den Krieg in der Ukraine ein, auf die tiefen Risse die die britische Nation spalten, aber auch die Gesellschaften der USA, Frankreichs und anderer Nationen. Die Aufforderung ‚Come Together‘ ist in Brexit- und Johnson Zeiten so zeitgemäß wie wohl selten zuvor in den vergangenen 30 Jahren und wird zur zelebrierten Hymne für zumindest einen ebenso wunderschönen wie flüchtigen Sommerabend, in dem der zerrissenen Welt vor den Toren der Arena mit Eintracht begegnet wird. Zusammenschluss statt Zersplitterung bis zum Ende des Konzerts. Das weitere Programm besteht aus ‚Inner Flight‘, ‚Screamadelica‘, ‚I‘m Coming Down’, ‚Damaged‘, ‚Higher Than The Sun‘ und ‚Shine Like Stars‘.

Primal Scream haben sichtlich Spaß an ihrem Vortrag, und die pure Spielfreude schwappt von der ersten Sekunde an über auf die dichtgedrängte Menge vor der Bühne. Die Band ist eingespielt, die Show, illuminiert mit aufwändigen Lichteffekten und Videoprojektionen, die in vielen subtilen Variationen den psychedelischen Farbenrausch von ‚Screamadelica‘ wiederbeleben und interpretieren, spricht alle Sinne an. Die Musiker beweisen ihre technischen und musikalischen Qualitäten. Vor allem Bassistin Simone Butler wird schon seit Jahren zu den Besten ihres Faches gezählt und Gitarrist Andrew Innes besticht auch in Manchester mit präzisem Riffing und gefühlvollen Soli.

Vor allem aber ist es Frontmann Bobby Gillespie, der die Show trägt. Entertainer, Magier, Mr. Charisma höchstpersönlich. Er zieht das Publikum in seinen Bann und etabliert von der ersten Minute eine intensive Wechselbeziehung zwischen Bühne und Auditorium.

Um 22:15 Uhr beenden Primal Scream den Set und verlassen die Bühne. Weil die Arena sich in einem Wohngebiet befindet, gibt es strikte Vorgaben: Punkt 22:30 sollen die Lichter an und die Verstärker aus sein. Nach zwei Minuten schlurft Bobby Gillespie auf die Bühne zurück.

Vom Band erklingt das Intro zu ‚Loaded‘:

We wanna be free, we wanna be free to do what we wanna do. And we wanna get loaded. And we wanna have a good time. And that’s what we’re gonna do. We’re gonna have a good time. We’re gonna have a party!”

Und eine Party wird es, Curfew hin, Vorschriften her. Auf ‚Loaded‘ folgen ‚Swastika Eyes‘ mit Videoreferenzen zu Trump, Johnson und Putin und schließlich ‚Jailbird‘. Und das ist’s dann endlich und eigentlich immer noch viel zu früh, 10:30 Uhr, Show vorbei. Denkste! An Aufhören denkt hier niemand, stattdessen bittet Gillespie eine lokale Legende auf die Bühne, Gary ‚Mani‘ Mounfield, ehemals Bassist der Stone Roses und, von 1997 bis 2008, Vorgänger von Simone Butler bei Primal Scream. Spätestens jetzt ist es purer Rock’n’Roll, der die wie ein Amphitheater aufgebaute Arena zum Toben brachte. ‚Rocks Off‘, der finale Song ist pures Dynamit und beendet schließlich eine sensationelle Vorstellung von Primal Scream in Manchester.

C 2022 by Edgar Klüsener

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Folklore-Label Kalan Müzik: Hasan Saltiks musikalischer Widerstand

Ein anderer Blick über die Grenzen hinweg, diesmal in die Türkei, wo Hasan Saltik 1991 das spannende Label Kalan Müzik aus der Taufe gehoben hatte. Da hatten in der Türkei gerade mal wieder die Militärs im Namen des Kemalismus die Macht übernommen hatte. Hasan Saltik war Teil des demokratischen Widerstands gegen die Militätdiktatur und machte es sich zur Aufgabe, die Kulturen und Sprachen der unterdrückten Minderheiten in der Türkei zu dokumnetieren und ihnen eine Stimme zu geben. Daran hielt er auch fest, als die Türkei sich wieder zu einer säkulären Demokratie wandelte, die in die EU strebte. Und weiter, als Erdogan dann die Demokratie von innen heraus auszuhöhlen begann und seitdem das Land weiter in Richtung nationalistisch-islamischer Diktatur drängt, die die Türkei zur alten Größe des Osmanischen Reiches zurückführen möchte. Hasan Saltik blieb auch gegen Erdogans Regime im kulturellen Widerstand. Diese Geschichte erschien zuerst am 12. April 2004 in SPIEGEL online.

Seit kurzer Zeit öffnet sich die türkische Gesellschaft für ihre ethnischen Minderheiten. Dass die Kultur der Kurden, Syrianer oder Ladinos jetzt wieder entdeckt wird, ist auch ein Verdienst des ehemaligen Widerständlers Hasan Saltik, der sich mit seiner Plattenfirma Kalan Müzik den musikalischen Artefakten Anatoliens widmet.

Ursprünglich war Hasan Saltik einfach nur auf Protest aus, auf Widerstand mit allen klingenden und singenden Mitteln. Das war in den achtziger Jahren. In der Türkei war da gerade mal wieder das Militär an der Macht, bestrebt, das säkular-nationalistische Erbe Kemal Atatürks gegen die erstarkende islamistische Reformbewegung zu verteidigen. So zumindest damals die Lesart der Generäle. Dass die Junta bei der Gelegenheit auch gleich noch beinahe ungehemmt gegen rebellische Kurden, linke Intellektuelle, aufbegehrende Arbeiter und unbotmäßige Künstler vorgehen konnte, war ein zwar nicht explizit geplanter, aber den Generälen durchaus willkommener Nebenaspekt der Diktatur.

Hasan Saltik war einer der Unbotmäßigen. Er leistete Widerstand auf seine Art und veröffentlichte linke Protestmusik. Zunächst ausschließlich türkische, dann auch kurdische und armenische. Die Veröffentlichungen seines Istanbuler Underground-Labels waren schon bald nicht nur landesweit quer durch alle Bevölkerungsschichten gefragte Äußerungen des musikalischen Widerstandes, sie begründeten auch eine Firma, die mittlerweile weltweit Kultstatus hat: Kalan Müzik.

Kalan Album: The Colours of Anatolia

Hasan Saltik erinnert sich beinahe wehmütig zurück an diese Tage:

„Wir waren immer sehr schnell. Die Zeitspanne, die die Behörden benötigten, um eine Platte zu verbieten, reichte in den meisten Fällen, um die komplette Auflage zu verkaufen, bevor die Verfügung bei uns ankam. Die Leute wussten von der bevorstehenden Veröffentlichung, warteten oft schon seit Wochen gespannt darauf, und wenn sie dann kam, stürmten sie die Läden.“

Resultat: Auflage verkauft, Hasan zufrieden. Platte rechtskräftig verboten und Weitervertrieb unterbunden, Militär zufrieden. Ärgerlich war das Spielchen natürlich trotzdem für Saltik, der in manchen Monaten mehr Tage vor Gericht als in seinem Büro verbringen musste.

Als das Militär schließlich in die Kasernen zurückkehrte und die Türkei sich erneut zu einer Demokratie wandeln ließ, gründete Saltik 1991 als Nachfolgerin des Underground-Labels die Plattenfirma Kalan Müzik und erweiterte seine Produktpalette. Schon zu Zeiten der Junta hatte er neben linker türkischer Protestmusik auch Platten in kurdischer Sprache herausgebracht – ein klarer Verstoß gegen das Jahrzehnte lang gesetzlich verankerte Grundprinzip des türkischen Nationalstaates, das die Existenz von nicht-türkischen Minderheiten in Anatolien schlicht leugnete, und deshalb auch deren Sprachen und Kulturen nicht anerkannte. Minderheiten, die sich erdreisteten auf ihrer eigenen Sprache und Kultur zu bestehen, wurden im besten Falle ignoriert, in gravierenden Fällen – wie dem der Kurden – aber auch mit allen Mitteln verfolgt.

Hasan Saltik konzentrierte sich nun zunehmend auf die Musik dieser Minderheiten – und fand sich damit prompt erneut in Opposition zum mittlerweile wieder demokratischen türkischen Staat wieder, der nur sehr zögerlich bereit war – und es immer noch ist – seine ethnischen Minderheiten als eben solche zu akzeptieren.

Auf der Suche nach den fast schon verlorenen musikalischen und kulturellen Schätzen Anatoliens leisten Saltik und seine Mitarbeiter seitdem dennoch Erstaunliches.

Wer wie Hasan Saltik weniger an Scherben und Ruinen als vielmehr an lebendiger Überlieferung verschollener Kulturen interessiert ist, muss mühselig kreuz und quer durchs Land ziehen und in die hintersten Bergdörfer einfallen. Kulturelle Archäologie könnte man das nennen, und in der Tat beobachten Universitäten in mehreren europäischen Ländern und in der Türkei sehr gespannt, was das Kalan-Label so alles zu Tage fördert. Fündig wird Saltik immer wieder, obwohl es den Minderheiten in der Türkei über Jahrzehnte hinweg nicht nur verboten war, ihre Sprache zu sprechen, sondern auch Aufzeichnungen ihrer eigenen Sprache oder Musik zu besitzen.

Die Fundstücke werden aufwändig verpackt und dann auf einen Markt geschickt, der längst weltumspannend ist. Zu CDs wie dem Doppelalbum „Süryaniler“ liefert Kalan bis zu hundertfünfzig Seiten umfassende Büchlein mit. „Süryaniler“ ist eine Sammlung von religiösen und folkloristischen Liedern der Syrianer, die auch heute noch in der an Irak und Syrien angrenzenden Bergregion der Türkei leben und dort immer wieder unter der Verfolgung durch ihre kurdischen Nachbarn leiden müssen. In mehreren Sprachen informiert das Booklet über die Geschichte der Syrianer oder Syrischen Christen – die Syrische ist eine der ältesten christlichen Kirchen -, ihre Kultur und ihre Lieder. Akribisch analysiert der Text Einflüsse in die Musik und geht dabei weit in der Zeit zurück.

Akribisch baut das Kalan-Label sein musikhistorisches Archiv weiter und weiter aus. Manches Liedgut schien schon unrettbar verloren, wie die Musik der Ladinos, der sephardischen Juden, die 1492 aus Spanien vertrieben worden waren und im Osmanischen Reich eine neue Heimat gefunden hatten. Ihre Sprache ist ein seltsam antiquiert klingendes Spanisch, wie es um die Zeit von Cervantes auf der iberischen Halbinsel gesprochen wurde, ihre Musik eine an- und aufrührende Melange aus klassischer iberischer Folklore, arabischen, türkischen und griechischen Elementen und einer Traurigkeit, die an den Fado Portugals erinnert. Auch „Yahudice“, das Ladino-Album, kommt mit dem Kalan-typischen sorgsam zusammengestellten Begleitbuch.

Mittlerweile wandelt sich das politische Klima in der Türkei erneut. Das Land nimmt Abschied vom rigorosen Nationalismus der Vergangenheit und wendet sich mit neu erwachtem Interesse der lange unterdrückten Vielfalt innerhalb der eigenen Grenzen zu. Das ist nicht zuletzt ein Verdienst von Kalan Müzik. Saltik:

„In den letzten Jahren unterstützen uns nicht nur die türkischen Massenmedien, auch Politiker und Angehörige der etablierten Gesellschaft orientieren sich neu und entdecken Anatoliens Geschichte und seine Kulturen wieder.“

In dem Maße, in dem die türkische Gesellschaft sich öffnete, wandelte sich auch der Anspruch der Plattenfirma an sich selbst. Aus der linken Untergrundklitsche wurde das etablierte Plattenlabel, das mit schöner Regelmäßigkeit musikhistorische Kleinodien ausbuddelt und zum Bewahrer der anatolischen Kulturen geworden ist. Dass diese sich nun selbst wieder entdecken, erfüllt Saltik mit besonderer Freude:

„Die ethnischen Kulturen Anatoliens mögen lange Zeit unterdrückt gewesen oder gar vom Aussterben bedroht gewesen sein, doch nun sind sie wieder sehr lebendig. Es sind vor allem junge Menschen, die neugierig auf die eigenen Wurzeln geworden sind und von sich aus die eigene Geschichte und Kultur weiter erforschen.“

So wie Kardes Türküler, eine Gruppe hoch begabter junger Musiker, die die verschiedenen Volksmusiken Anatoliens neu entdeckt und auf ihre Weise arrangiert und interpretiert. Ihnen kommt es vornehmlich darauf an, die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, zu zeigen, dass die verschiedenen Kulturen sehr viel mehr miteinander verbindet als nur der gemeinsame Lebensraum. Eher nebenbei ist die Gruppe dabei zu einem der großen Kassenmagneten Kalans geworden. Auch im Ausland.

 

Überhaupt finden die Produktionen aus dem Hause Kalan längst auch grenzüberschreitend Beachtung. Was Saltik zwar freut, ihn aber auch gelegentlich verärgert. Insbesondere immer dann, wenn seine Produktionen von westlichen Kritikern oder Händlern der Sparte „World Music“ zugeschlagen werden. Der Terminus sei Ausdruck herablassender angelsächsischer Arroganz, schimpft er dann, und bezeuge einen latenten Rassismus, der die anglo-amerikanische Popkultur gegen den Rest der Welt stelle und geflissentlich ignoriere, dass der Rest der Welt schon Kultur gehabt habe, als in Nordeuropa noch die Erdhöhle als Eigenheim diente.

Dabei outet sich Saltik bei Gelegenheit gern als waschechter Rockfan, der seit frühester Jugend auf Led Zeppelin und Pink Floyd steht. Dass Kalan Müzik trotzdem keine anatolischen Rockgruppen im aktuellen Programm hat, hat daher auch weniger mit seinen musikalischen Vorlieben als vielmehr mit seiner Einschätzung zeitgemäßer türkischer Rockmusik zu tun: „Ich habe einige Male versucht, türkische Rockgruppen zu fördern. Doch türkische Musiker sind einfach noch nicht so weit. Die überwiegende Mehrheit kopiert einfach blind englische oder amerikanische Gruppen, es fehlt die Eigenständigkeit.“

Zufrieden ist Hasan Saltik mit dem Erreichten noch lange nicht. „Die kulturelle und geschichtliche Vielfalt und Bedeutung Anatoliens ist immens, aber in Europa und Amerika kaum bekannt. Wir wollen dem Rest der Welt ein wenig davon vermitteln, was Anatolien und den Mittleren Osten kulturell ausmacht.“ Das klingt, als sei von Kalan Müzik noch viel zu erwarten.

Hasan Saltik starb am 2. Juni 2021. Mit ihm hat die Türkei einen herausragenden Kurator ihrer viefältigen – und oft unterdrückten – linguistischen, religiösen, ethnischen und kulturellen Traditionen verloren. Das Label Kalan Müzik setzt die Arbeit in seinem Sinn weiter fort.

Eine Kalan- Veröffentlichung aus dem Jahre 2020:

 

C 2004/2022 Edgar Klüsener, Erstveröffentlichung in SPIEGEL Online, 12.04.2004

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Rockmusik in Israel: Auf der Suche nach einer neuen Identität

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hatte ich den Journalismus für einige Jahre beinahe völlig  an den Nagel gehängt und stattdessen an der University of Manchester ein BA(Hons)-Studium in Contemporary Middle Eastern Studies begonnen. Beim BA sollte es nicht bleiben, es folgte der MA und schließlich der PhD. Das Interesse an populärer Musik hatte ich natürlich nicht verloren (was eh unmöglich ist, wenn man in einer Stadt wie Manchester lebt), aber das Studium schärfte den Blick für popkulturelle Entwicklungen in Regionen am Rande oder außerhalb der Grenzen westlicher kultureller, ökonomischer und kultureller Dominanz. Genauer angeschaut hatte ich mir damals Entwicklungen in Iran, der Türkei und Israel. Die erste Zeitgeschichte hat Rockmusik in Israel zum Thema. 

Maor Appelbaum ist der Sänger, Hauptkomponist und Bassist einer Rockband. Die Band heißt Sleepless, und sie ist aus Israel. Das erkläre einiges, meint Maor Appelbaum, vor allem die Intensität und Aggressivität von Sleepless. Denn Israel sei ein schnelles Land, ein Land, in dem musikalische Stile und Trends sich in rasantem Tempo verändern. Ein Land unter Druck, in dem keine Zeit sei für Beschaulichkeit und für Langeweile. In dem Interview mit einem amerikanischen Fanzine führt er weiter aus:

„Leben in Israel ist ein Leben im Hier und Jetzt, wir können nichts auf morgen verschieben. Dieses Land ist großartig für aggressive Musik, weil es unter ständigem Druck ist, umgeben von Feinden. Und manchmal sind wir selbst unsere größten Feinde.“

 

Maor Appelbaum

Rockmusik ist seit den späten Sechzigern die dominante Musikform Israels. International erfolgreicher mag schräger Pop á la Dana International sein, oder auch israelischer Goa Trance, aber Rock, und seit kurzem HipHop, sind die Musikformen, die den israelischen Alltag prägen. Was überrascht und die zionistischen Väter des Staates wahrscheinlich in ihren Gräbern rotieren lässt. Denn die hatten eine andere Musikkultur im Sinne gehabt, eine, die nicht an englischen und amerikanischen Klängen ausgerichtet, sondern ganz eindeutig und unverkennbar jüdisch, zionistisch, israelisch sein sollte. Das Problem, dass die Gründungsväter hatten, war ein Identitätsproblem. Die Bevölkerung des künftigen Staates Israel war schon vor der Staatsgründung extrem heterogen. Die Sephardim, europäische Juden, hatten mit den Ashkenazim, den ‚orientalischen‘ Juden, die aus dem Iran, aus Marokko, Tunesien und anderen Gegenden des Nahen und Mittleren Ostens nach Palästina strömten, nur wenige historische, kulturelle und sprachliche Gemeinsamkeiten. Eine umfassende kulturelle, nationale und politische Identität musste buchstäblich erfunden werden.

Rockmusik eingemeindet

Die Zionisten versuchten genau das. Sie propagierten Hebräisch als die offizielle Landessprache, und sie machten sich daran, eine Folklore-Tradition zu begründen, die unter dem Namen „Lieder des Landes Israel“ (Shirey Eretz Yisrael) bekannt werden sollte. Das Ziel war es, die Fragmente unterschiedlichster Kulturen durch eine israelische Kultur zu ersetzen, die durch eine gemeinsame Sprache, Literatur und Volksmusik definiert werden konnte. Seinen Höhepunkt erlebte dieses Unterfangen in den Dreißigern und Vierzigern des vorigen Jahrhunderts, den entscheidenden beiden Jahrzehnten vor der Staatsgründung. Die Ideologie der ‚Nation im Werden‘ schuf den Mythos einer Pionier-Jugend, die das Land der Vorväter zurückforderte. Viele der Lieder beschrieben daher in romantischer Verklärung die neuen, geheimnisvollen und mythischen Landschaften, in denen die Neueinwanderer nun lebten.

Hand in Hand mit der Schaffung einer neuen, israelischen Identität ging die bewusste Ablehnung westlicher Kultur als fremdartig und potenziell feindlich. Als dann in den späten Fünfzigern des vergangenen Jahrhunderts der Rock’n’Roll aus Amerika nach Israel überschwappte, standen die Zionisten vor einem erheblichen Problem. Rock’n’Roll war westlich, amerikanisch, global und extrem populär auch unter Israels Jugend – das genaue Gegenteil also von der eingeborenen Kultur, der israelischen Identität, die die Gründungsväter zu etablieren hofften. Das Dilemma wurde gelöst, indem Rock’n’Roll schlicht eingemeindet wurde. Rock mit hebräischen Texten musste es sein, mit Inhalten, die Bezug hatten zur israelischen, jüdischen, zionistischen Realität des Landes. Der Ansatz ist auch von anderen Ländern her bekannt, die um ihre kulturelle Identität bangten. Frankreich kämpft noch immer gegen die Windmühlen anglo-amerikanischen Popimperialismus und quotiert seine Radioprogramme entsprechend. In Israel war die Sache auch deshalb brisant, weil die ersten, die zum Rock’n’Roll konvertierten, Kids vom Rande der Gesellschaft waren, Jugendliche aus den Siedlungen und Vorstädten der Mizrahim, die sich in der von den europäischen Juden dominierten Gesellschaft zurückgesetzt fühlten. Aus ihrer Mitte kamen Bands wie Ha-shmeni ve-haraz-im oder The Goldfingers, zu deren Konzerten beachtlichen Zuschauermengen, oft zwei- oder dreitausend Fans, strömten. Diese Beatgruppen folgten weitgehend den englischen und amerikanischen Vorbildern und sangen auch in englischer Sprache. Die Etablierung von Randkulturen im neuen Staate Israel war genau das, was die zionistischen Gründungsväter möglichst vermeiden wollten. Die Folge war eine ausgedehnte Kampagne gegen die als vulgär und zwielichtig bezeichneten Elemente, deren Bindung zum nationalen Kollektiv in Frage gestellt wurde.


Israelischer Neonazi-Rock

Anders sah die Sache ein wenig später aus, als israelische Musiker begannen, Rockmusik mit hebräischen Texten zu schreiben. Musiker wie Arik Einstein, Shmulik Kraus, Shalom Hanoch oder die Band Kaveret israelisierten Rock in den Siebzigern und verankerten ihn im Mainstream des israelischen Musiklebens, aus dem er seitdem nicht mehr wegzudenken ist. Aber auch heute noch existieren verschiedene Rockkulturen mehr zwie- als einträchtig nebeneinander. Vor allem die russischen Einwanderer haben sich eine ganz eigene Rockkultur geschaffen, die eher an russischen Heavy Metal-Bands orientiert ist und sich deutlich vom Mainstream abgrenzt. Russische Einwanderer sind es auch, die Israel das nur vordergründige Paradoxon einer antisemitischen Neonazi-Rockszene beschert haben, ein Phänomen, das mittlerweile auch die Knesset (das israelische Parlament) beschäftigt hat. Seit 1975 hat Israel weit über eine Million Einwanderer aus den Staaten der früheren Sowjetunion aufgenommen, die meisten davon Juden. Doch unter ihnen eben auch 200 – 300.000 ökonomische Migranten, so die Schätzungen des Innenministeriums, die sich lediglich als Juden ausgegeben haben, und von denen eine Minderheit, obwohl Bürger Israels, antisemitisches Gedankengut offen äußert. Die musikalischen Vorbilder für die israeli-russischen Neonazis sind vor allem russische Rechtsaußen-Bands wie die dem neofaschistischen Politiker Schirinowski nahe stehenden Metal Korrosija, aber auch britische Blood & Honor-Kapellen wie Skrewdriver und neuerdings deutsche Nazikapellen.


Auf dem Weg zur Nahost-Normalität – Orphaned Land

By © Markus Felix (talk to me) – Own work, CC BY-SA 3.0, 

„Israel ist ein Land der Extreme“, sagt Kobi Farhi. Kobi ist Sänger einer Band namens Orphaned Land. Orphaned Land ist eine sehr bekannte Rockgruppe in Israel und allmählich auch in Europa, vor allem in Deutschland.

„Israel ist ein Schmelztopf der Kulturen. Diese unterschiedlichsten Kulturen, die den Staat Israel bilden, hatten in der Vergangenheit oft kaum etwas gemein. Keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Kultur. Eine echte multikulturelle Gesellschaft, so extrem wie vielleicht nirgendwo sonst in der Welt. Diese Vielseitigkeit ist spannend und kann sehr fruchtbar sein, wenn man sich ihr öffnet.“

Seine Band versucht diese Öffnung, will bewusst raus aus den Randgruppen-Nischen ebenso wie aus der Mainstream-Zwangsjacke. Sie bezieht nahöstliche Elemente in ihre Musik ein, singt in Arabisch, Hebräisch, Latein oder Englisch, mischt griechische Musik mit europäischem Heavy Metal, arabischen Melodien oder westlicher Klassik. Orphaned Land ist musikalisch ziemlich einzigartig. Außerdem überschreitet die Gruppe Grenzen, die gerade in diesen Tagen eigentlich unüberwindbar scheinen. Und das gelingt zu einem erstaunlichen Grad. Orphaned Land dürfte die einzige israelische Rockband sein, die auch eine breite Fanbasis in den arabischen Ländern hat. Zu einem Konzert, das die Band in der Türkei gab und das für das israelische Fernsehen dokumentiert wurde, kamen nicht nur Fans aus der Türkei selbst, sondern auch aus den arabischen Ländern, vor allem aus Syrien.

Überraschend? Nicht wirklich, findet Kobi. Denn Orphaned Land sei mehr als nur eine israelische Rockband. Orphaned Land, erläutert er, „…reflektiert eine übergeordnete kulturelle Identität, eine Nahost-Identität, in der sich arabische Jugendliche ebenso wiedererkennen wie junge Israelis. Der Nahe Osten ist, seit jeher ein gewaltiger Schmelztigel und Israel das Heilige Land für die drei großen monotheistischen Weltreligionen. Die Band selbst zeigt den Facettenreichtum Israels, der Region. Unsere Musiker stammen aus dem Irak, aus dem Jemen, aus Kenya…“.

Orphaned Land propagiert eine übergreifende moderne Nahost-Rock-Kultur, die Israels mühsam entstandenen kulturellen Identitäten ebenso reflektiert wie die der arabischen Nachbarn von Syrien bis Ägypten. Augenfällig wurde der besondere Stellenwert der Band im Nahen Osten während der jüngsten Auseinandersetzung zwischen Hisbollah und Israel, als sich aus den bombardierten Städten Libanons junge Orphaned Land-Fans im Bandforum meldeten und sich mit israelischen, türkischen und westlichen Besuchern über den Wahnsinn dieses Konflikts austauschten.

Inzwischen ist die Band Vorreiter geworden in einer vorerst noch zaghaften inner-israelischen Debatte um den eigenen Standort in einer Region, die endgültig auch zur kulturellen Heimat wird.

© 2006 / 2022 Edgar Klüsener/MuzikQuest
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Foo Fighters, King’s College, 3. Juni 1995: Das europäische Debüt

Titelbild: By Jo – originally posted to Flickr as Foo Fighters Live 21, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3911891

Gerüchte hatte es bereits seit längerem gegeben, dass Dave Grohl eine neue Band gegründet hatte. Seit kurzem stand auch der Name fest: Foo Fighters. Am 3. Juni 1995 dann spielte die Band ihr europäisches Debütkonzert im Londoner King’s College vor einem neugierigen und erwartungsfrohen Publikum. Ich war damals Chefredakteur einer kurzlebigen Musikzeitschrift namens CORE und von der Plattenfirma mit einer Reihe anderer Musikjournalisten zum Konzert eingeflogen worden. Das vorweggenommene Fazit des Konzertberichts: Von dieser Band wird man noch einiges hören. Wie wahr……

Das Auditorium im Londoner King’s College ist nur per Fahrstuhl zu erreichen. Durch ein kleines Labyrinth von Gängen führt der Weg in den zweigeschossigen Saal, an dessen Stirnwand eine kleine Bühne aufgebaut ist, vollgepackt mit Verstärkern, einem Schlagzeug, Mikrofonen und Monitorboxen. Der Bühne genau gegenüber windet sich eine Treppe hinauf zur Balustrade, in deren hinteren Bereichen zwei Bars, auf jeder Raumseite eine, aufgebaut sind. Warmes Bier gibt’s da, aber auch besser gekühltes nichtalkoholisches Gesöff. Zu Studentenpreisen, versteht sich, schließlich befinden wir uns in einem College, irgendwo in London. Durch die breiten Fensterfronten fällt der Blick auf die Themse, deren Wasser von behäbigen Frachtkähnen durchpflügt wird. Rund 800 junge Männer und Frauen füllen den Raum auf beiden Ebenen aus und harren der Dinge, die der Abend noch bringen soll. Die Foo Fighters stehen auf dem Programm, eine Band aus den USA. Mehr weiß kaum jemand. Die Band hat noch keine Platte veröffentlicht, ihre Songs sind noch nicht im Radio gespielt worden, Videos gibt’s eben sowenig. Trotzdem ist die gespannte Erwartung fast körperlich fühlbar. Denn die Foo Fighters, und das weiß jeder, der an diesem Frühjahresabend den Weg ins College-Auditorium gefunden hat, mögen zwar totale Newcomer sein, hinter dem Namen jedoch verbirgt sich ein Drittel von Nirvana. Foo Fighters ist die Band von Dave Grohl, dem Schlagzeuger jener Band aus Seattle, die erst die Charts im Handstreich genommen hatte und dann zur traurigen Legende wurde, weil Sänger und Gitarrist Kurt Cobain sich mit einem gezielten Schuss das Hirn aus dem Schädel geblasen hatte.

Photo aus einem Video-Interview entnommen, das ich mit Nirvana 1994 in Seattle geführt hatte.

Das heißt, eigentlich sind bei den Foo Fighters zwei Viertel von Nirvana präsent. Denn auch Pat Smear, jener Gitarrist, den das Trio für seine letzte Welttournee in die Band geholt hatte, ist mit von der Partie. Doch im Vordergrund steht eindeutig Dave Grohl. Das Licht geht aus, die Spannung steigt noch einmal erheblich. Vier Musiker betreten die Bühne von der Seite her, greifen ihre Instrumente oder nehmen hinter diesen Platz. Und die erste große Überraschung ist fällig. Denn der, der sich hinter dem Schlagzeug niederlässt, ist NICHT Dave Grohl. Der steht vielmehr in der Mitte am Bühnenrand, fasst mit einer Hand das Mikrofon, während die andere lässig den Hals einer elektrischen Gitarre hält. Der Schlagzeuger hat sich zum Gitarristen gewandelt. Na, wenn das mal gut geht! Rechts neben ihm hat sich mit der zweiten Gitarre Pat Smear aufgebaut, am linken Bühnenrand tänzelt nervös Basser Nate Mendel auf und ab. Und hinter seinem Ensemble aus Trommeln und Becken reckt sich ein letztes Mal vor dem ersten Einsatz ein gewisser William Goldsmith.
,,Hi, wir sind die Foo Fighters“, stellt Dave Grohl sich und seine Mitstreiter kurz vor und drischt dann auch schon auf seine Gitarre ein. ,This Is A Call‘ heißt der erste Song, der gleich für drei weitere Überraschungen gut ist. Die erste: Dave Grohl geht mit den sechs Saiten ebenso gut, wenn nicht gar besser um wie in früheren Tagen mit den Trommelstücken. Die zweite: er singt selbst. Und zwar verdammt gut. Drittens: die Musik erinnert stark an Nirvana. Was einige Fragen aufwirft. Zum Beispiel die: Könnte es sein, dass Dave Grohl weit maßgeblicher am Songwriting seiner ex-Band beteiligt gewesen sein, als es nach außen hin den Anschein hatte? Die folgenden Titel ,I’ll Stick Around‘ und ,Big Me‘ verstärken diesen Verdacht nur. Ebenso andere Tracks, die die Band an diesem Abend runterzockt, Songs wie ,Watershed‘, Exhausted‘ oder ,Alone And Easy Target‘. Die Antwort darauf wird Dave Grohl hoffentlich irgendwann selbst geben. Zurzeit allerdings verweigert er sich noch standhaft allen Versuchen, mit ihm ins Gespräch zu kommen. ,,Keine Interviews“, lautet die kategorische Absage auf alle entsprechenden Anfragen. Die Begründung liefert er gleich nach:

,,Foo Fighters ist eine brandneue Band. Über uns gibt’s derzeit noch nichts zu sagen. Worüber sollen wir also in Interviews mit den Journalisten reden?“

Und meint damit wohl:

,,Egal, mit wem ich im Moment auch sprechen würde, das Gespräch würde mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit schon nach wenigen Minuten auf Kurt Cobain und Nirvana kommen. Beides aber hat mit dem, was ich jetzt mache, herzlich wenig zu tun.“

Hinzu kommt noch, dass er schon in früheren Tagen Interviews in der Regel herzlich wenig abgewinnen konnte. Das Reden hatte er nahezu immer Kurt Cobain und Krist Novoselic überlassen, sich selbst auf wenige kurze Statements beschränkt. Eins davon, vielleicht das wichtigste, war:

,,Ich mag diesen übersteigerten Medienrummel nicht. Die Medien tendieren dazu, Personen zu Karikaturen zu verzerren und schaffen so ein Bild von Musikern, das am Ende kaum noch etwas mit den Menschen und noch weniger mit deren Musik zu tun hat.“

Auf der Bühne stellt Dave Grohl unter Beweis, dass er das Zeug zu einem herausragenden Frontmann hat. Er sucht und findet den direkten Draht zum Publikum, ist ständig in Bewegung, malträtiert die Gitarre, stöhnt und schreit ins Mikro. Doch wie gut der Mann als Sänger tatsächlich ist, zeigt sich erst bei jenen Songs, die von seltsam melancholischen Harmonien geprägt sind. Er interpretiert sie auf eine Art, die direkt unter die Haut geht. Der Mann hat Charisma, keine Frage. Und die Band steht ihm in nichts nach, zieht in jeder Phase voll mit, ist tight und kommt auf den Punkt. Die Foo Fighters strahlen eine eigentümliche Mischung aus ungestümer Energie, Aggressivität und Melancholie aus, bestechen jedoch vor allem durch ihre ungebärdige Spielfreude und eine mitreißende Performance, an der nichts gekünstelt oder gar einstudiert wirkt. Insgesamt zwölf Lieder spielt die Band, Lieder, die eine breite stilistische Palette abdecken. Die Bandbreite reicht von rohem Neopunk über schräge und leicht psychedelisch anmutende Klangcollagen bis hin zu eindringlichen kleinen Songs, die vage in einer amerikanischen Folkrock-Tradition stehen, wie sie von Musikern wie Neil Young geprägt wurde.

Das Ende des Konzertes kommt viel zu früh. Als das Saallicht angeht, bleibt als stärkster Eindruck, dass hier eine Band aufgespielt hat, die einen eindeutig eigenen und unverwechselbaren Charakter hat. Und die Erkenntnis, dass Dave Grohl in der Vergangenheit wohl schwer unterschätzt worden ist. Denn der Mann ist nicht nur ein guter Drummer, sondern mehr noch ein überzeugender Gitarrist, Sänger und Performer. Außerdem, die vielleicht größte Überraschung, ein enorm talentierter und versierter Songschreiber. Was nahezu zwangsläufig die Frage nach seinem tatsächlichen Einfluss auf die Musik von Nirvana aufwirft. Eins ist an diesem Abend auf jeden Fall klargeworden: Von den Foo Fighters werden wir noch einiges zu hören bekommen. An dieser Band wird wohl kaum ein Weg vorbeiführen.

C 1995/2002 Edgar Klüsener

Die komplette Setlist 3. Juni 1995, King’s College, London.

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Aktuell Musik Rezensionen Zeitgeschichten

Freiheit wird zur Einsamkeit: Weißer Schnee, Schwarze Nacht

Diese kleine Auseinandersetzung mit dem Text des Liedes ‚Weißer Schnee, Schwarze Nacht‘ der Band Ihre Kinder erschien in dem 2011 von Erik Waechtler und Simon Burke herausgegebenen Band ‚Lyrix: Lies Mein Lied – 33 1/3 Wahrheiten über deutschsprachige Songtexte‘. Im Westen Deutschlands waren Ihre Kinder die Pioniere deutschsprachiger Rockmusik, die unter anderen Udo Lindenberg dazu inspirierten, es ebenfalls mal mit der bis dahin arg diskreditierten Muttersprache zu versuchen. 

Der silberne Löffel kocht für sie ab; der Gürtel schnürt ihr die Vene ab; sie drückt die Nadel tief in ihr Blut; dann schießt sie ab und versinkt in der Glut“.

Mit dieser trockenen, teilnahmslosen Beschreibung des kurzen Wegs zum flüchtigen Frieden mit der Welt hatte die Gruppe Ihre Kinder 1972 einen Song in deutscher Sprache über Drogenkonsum geschrieben. Die Nürnberger waren die erste westdeutsche Rockband, die konsequent auf deutsche Texte setzte. Sie schrieben poetische Lieder, eine Art psychedelischer deutscher Beatlyrik, konnten aber auch sehr eindeutig und präzise sein, wenn sie politische Themen aufgriffen. Musikalisch deckten sie eine enorme Bandbreite ab, das Spektrum reichte von akustischem Folk über satten Blues und orientalisch angehauchten Psycho-Pop bis hin zu hammerhartem Rock. Deutsch war da als Rockidiom noch weitestgehend diskreditiert, die Sprache seicht-rosafarbener Schlagerromantik. Englisch hingegen war cool, die Sprache neuer Freiheiten und Träume. Deutsch war nicht nur vorbelastet, es schien nach 1945 auch extrem provinziell. Und so radebrechten in deutschen Jugendzentren und Vorortkneipen hunderte von hoffnungsvollen Nachwuchsrockern englische Lyrics, die weder sie noch ihr Publikum so recht verstanden. Dass die westdeutsche Musikindustrie ähnlich fühlte und dachte, dass ihr allein schon bei der Vorstellung grauste, Rockmusik könne auch mit deutschen Texten funktionieren, belegt die Geschichte der Nürnberger.

Das erste Album der Band wurde von deutschen Plattenfirmen zunächst mal als viel zu unkommerziell abgelehnt. Rockmusik, das war die vorherrschende Meinung in der Tonträgerbranche, konnten Engländer und Amerikaner viel besser. Und dann noch deutsche Texte? Wozu gab’s schließlich englisch?

Am Ende bewies dann doch eine Plattenfirma Mut: Philips brachte das Album heraus, allerdings so halbherzig, dass es beinahe sang- und klanglos unterging. Immerhin, Hermann Zentgraf, der zuständige A&R-Mann bei Philips brachte die Gruppe anschließend bei dem Münchener Independent-Label Kuckuck unter und ebnete ihr damit den weiteren Weg im Wirtschaftswunderland.

Ihr drittes Album trug als Titel schlicht die Seriennummer, war in ein Jeanscover verpackt und die Originalausgabe erzielt heute unter Sammlern Höchstpreise. Es war zugleich das stärkste Album der aus heutiger Sicht Bestbesetzung der Band. Bei Ihre Kinder herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Nur Gitarrist, Sänger und Komponist Ernst Schultz, der Schlagzeuger Muck Groh und der Sänger Sonny Hennig konnten als Kernbesetzung gelten. Das Jeansalbum bescherte dem Kuckuck-Label seinen ersten Hit und war zugleich das wütendste und bissigste Album der Nürnberger. Auf ihm findet sich auch die Ballade „Weißer Schnee, schwarze Nacht“.

Ihr viertes Album „Werdohl“, benannt nach einer grauen Industriestadt in den idyllischen Tälern des Sauerlandes, sollte auch schon das letzte sein.

Nach „Werdohl“ wurde es ruhig um Ihre Kinder. Aber ihr Vorbild hatte bereits Schule gemacht. Udo Lindenberg, der sich ausdrücklich auf die Nürnberger als Vorbilder beruft, war der erste, der Rock mit deutschen Texten endgültig etablierte, viele weitere sollten folgen.

„Weißer Schnee, schwarze Nacht“ war ein Novum: ein deutscher Rocksong über Drogengebrauch, der weder sensationslüstern überzeichnend war noch Drogen als Mittel zur Bewusstseinserweiterung und als bewussten Protest gegen die als kalt und autoritär empfundenen Strukturen des frühen Nachkriegsdeutschland verherrlichte. Ebensowenig bediente der Song die längst auch in Deutschlands Gegen- und Jugendkultur verbreiteten und anerkannten stereotypischen Klischees des „Sex&Drugs&Rock’n’Roll“-Lebensstiles.

Ihre Kinder

Die sechziger und frühen siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren im Westen Deutschlands das Jahrzehnt, in dem politisches Engagement sinnlich wurde, in dem der Aufstand gegen die Welt der Väter und deren düsteres Erbe auch ein Aufstand gegen eine Realität wurde, die als kalt, bedrückend und erschreckend eindimensional empfunden wurde. Die Auseinandersetzung fand in den Straßen ebenso statt wie in den Köpfen, und sie wurde mit vollem Körpereinsatz geführt; Sinnlichkeit und Erotik wurden ebenso zu Waffen der Auseinandersetzung wie Haschisch, LSD und Heroin.

„Turn on, tune in, drop out“ (Schalte ein, stimme dich ein, steig aus), hatte der amerikanische Psychologie-Professor und LSD-Prophet Timothy Leary Mitte der sechziger postuliert und LSD zur Allzweckwaffe in der Befreiung des Bewusstseins erklärt. Die amerikanische Hippiebewegung hatte den Slogan mit wachsender Begeisterung aufgenommen. Die Vermengung aus entstehender globaler Popkultur anglo-amerikanischer Prägung mit wachsendem politischen Unwohlsein einer ganzen Generation war explosiv. Eine ganze Generation wechselte, so schien es, auf die Überholspur. Live fast, die young (Lebe schnell, stirb jung) war ein anderer Slogan, den vor allem Rockmusiker ernst zu nehmen schienen.

Ian Dury fasste das Credo schließlich kurz und knapp zusammen:Sex and drugs and rock and roll ; Is all my brain and body need ; Sex and drugs and rock and roll ; Are very good indeed“ (Sex und Drogen und Rock’n’Roll ; Ist alles was mein Gehirn und mein Körper brauchen ; Sex und Drogen und Rock’n’Roll ; sind in der Tat sehr gut)“.

Sex, Drogen, Rock’n’Roll – das stand für ein Leben im Ausnahmezustand, für grenzenlose Freiheit, neue Erfahrungen, für Lust und Exzess. Ein Leben am Abgrund, in den man durchaus stürzen konnte – was den Spaß am Risiko eher noch erhöhte.

Ihre Kinder waren eine Rockband, und damit waren Drogen beinahe zwangsläufig Teil auch ihres Lebensumfeldes. Sie wussten genau, worüber sie schrieben. Der Song richtete sich an ein Publikum, das ebenfalls verstand.

Die eingangs beschriebene Prozedur ist jedem Junkie bestens vertraut und schnell in Fleisch und Blut übergegangen. Das Abkochen des Heroins, häufig vermischt mit ein bisschen Zitronensäure, im Löffel, das Aufziehen der wässrigen Lösung in die Spritze, das Abschnüren der Blutzufuhr knapp über dem Ellenbogen mit einem Ledergürtel, das Suchen nach einem Stück heiler, noch nicht verhärteter Vene, der Einstich, der Abdruck, der kurze, heiße Kick wenn die Droge an den Rezeptoren andockt, und dann die wohlige Taubheit gegenüber der Welt, das Abschalten für einige Momente.

1968 waren Junkies immer noch ein relativ seltenes Phänomen in Westdeutschland, zumeist nur in den ganz großen Städten zu finden. Die veröffentlichte Meinung reagierte ebenso sensationsgeil wie hysterisch auf die langsam aber stetig steigende Zahl von Heroinsüchtigen; absurde Horrorstories dominierten die Schlagzeilen, sachliche Berichterstattung fand kaum statt. Stattdessen wurden von Haschisch über LSD bis zu Heroin alle Drogen über einen Kamm geschoren und gleichermaßen verteufelt. In „Weißer Schnee, schwarze Nacht“ ist davon nichts zu finden. Nüchterne Vertrautheit mit dem Subjekt zieht sich durch den ganzen Text. In den ersten Zeilen des Liedes wird zunächst die Szene gesetzt:

Die Wände sind grau und das Zimmer ist kahl; Der Boden ist feucht und das Licht eine Qual, ein Mädchen braucht keine Liebe mehr, ohne Schnee ist ihr Leben leer.

Ein Mädchen hat sich für den Schnee, damals ein weit geläufigeres Synonym für Heroin als heute, entschieden, und Schnee ist längst der Mittelpunkt ihres Lebens. Die Kargheit des Raumes, der Mangel selbst an einfachem Komfort versinnbildlicht die Tragweite der Entscheidung. Und eine solche, eine freiwillig getroffene, war es irgendwann mal. Nun ist der Schnee alles, was sie noch hat. Die Freiheit, die die sie gesucht haben mag, den Ausweg aus einem Leben, das wenig versprechend erschien, der Durst nach Abenteuer – all das spielt keine Rolle mehr. Sie mag es nicht wahrhaben wollen, immer noch an ein Spiel glauben, aber alles was zählt, ist am Ende nur noch der Schnee. Er gibt ihr alles. Doch sie zahlt einen Preis dafür. Und der Preis wird benannt:

Freiheit wird zur Einsamkeit; Sie glaubt nicht was kommt und sie glaubt nicht was war; Sie stirbt ihr Leben, bevor sie es überhaupt sah“.

Warum wird das namenlose Mädchen zum Junkie? Warum der Griff zur Droge? Der Text stellt diese Frage nicht, beantwortet sie aber. Die Suche nach Freiheit ist ein Grund. Die Lust aufs Experiment, auf die spielerische Erforschung der Grenzen dieser Freiheit ein anderer. „Das ist Leben für sie,“ heißt es, und weiter: „Doch sie glaubt an ein Spiel.“ Keine Rede von den sozialen Gründen, die in die Drogenabhängigkeit führen können, von der Armut und Ausweglosigkeit, die das Leben sozialer Randgruppen in modernen Großstädten bestimmt, für die die Droge ein Teil des beklemmenden Alltags im Abseits ist. Stattdessen der Verweis auf den anfangs spielerischen Umgang mit dem Schnee, auf die angenommene Funktion der Droge als Mittel und Weg zu Freiheit und Ekstase. Und die bittere Schlussfolgerung, dass was als unbefangenes Spiel mit dem Feuer begann, am Ende in schwarzer Nacht endete. Spätestens hier wird der Text zur Parabel auf die drogenbefeuerte Protest-, Pop-, Hippie- und Rock’n’Roll-Kultur der Sechziger und frühen Siebziger Jahre.

„Weißer Schnee, Schwarze Nacht“ ist von daher auch ein Abgesang auf die Träume und Ideale einer Jugendbewegung, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ihre Unschuld und Naivität endgültig verloren hatte. Die Erkenntnis, dass tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen nicht auf die Schnelle zu haben sind und dass das Erschließen neuer Bewusstseinszustände und alternativer Realitäten auch als ganz banale Flucht in eine eher noch düsterere Wirklichkeit münden kann, mochte sich zwar 1972 längst noch nicht in nennenswerter Weise durchgesetzt haben, Ihre Kinder gaben sich aber schon da skeptisch. Die Freiheit, eine sehr egozentrische Auffassung von Freiheit, die die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse, Sehnsüchte und Wünsche über alles stellt, wird da zur Einsamkeit der Einzelkämpfer, der Verlorenen. Die enttäuschten Träume und Ideale münden in eine desillusionierte Resignation, in der kein Platz mehr ist für Glaube, Begeisterung oder Hoffnung. Die Party mag noch weiter gehen, am Ende aber winkt ein prächtiger Kater.

„Weißer Schnee, schwarze Nacht“ ist ein merkwürdiger Song. Er propagiert nicht, noch verurteilt er; der so typisch deutsche erhobene Zeigefinger bleibt in entspannter Ruhestellung. Er beschreibt eine freie Wahl und ihre Folgen, die Ernüchterung, die noch jedem Rausch folgt. Zugleich hinterfragt er, ohne zu werten, ideologische und kulturelle Ideen-Konstrukte, die Drogen als Mittel zur Selbstbefreiung, zur Förderung oder gar Entfesselung der Kreativität anpreisen.

Als die Band das Lied 1972 erstmals veröffentlichte, schien die kleine Akustik-Ballade mit ihren nüchternen Beschreibungen und dem melancholischen Unterton seltsam zeitfern, zollte so gar nicht dem Zeitgeist Tribut. Gerade diese skeptische Distanz jedoch ist es, die „Weißer Schnee, Schwarze Nacht“ auch 39 Jahre später in einer in vielerlei Beziehungen radikal veränderten Welt noch anrührend und authentisch klingen lässt.

 

 

Erstabdruck: 2011, Copyright 2011/2022 Edgar Klüsener

Klüsener, E. (2011). Freiheit wird zur Einsamkeit. In E. Waechtler & S. Bunke, eds. Lyrix: lies mein Lied: 33 1/3 Wahrheiten über deutschsprachige Songtexte. Freiburg: Orange Press, pp. 91–96.

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Aktuell Reportagen Zeitgeschichten

Metallica: Geschichten, die die Straße schreibt

Eine kleine Sammlung von Tourgeschichten aus den früheren Jahren Metallicas, die mir Lars Ulrich irgendwann 1989 erzählt hatte. Im Mittelpunkt stand fast immer Bassist Cliff Burton, der 1986 bei einem tragischen Busunfall in Schweden ums Leben gekommen war. Nicht gerade Spinal Tap, aber nah genug dran und in der Rückschau interessant zu lesen. Die Tourstories erschienen erstmals in der deutschen Ausgabe des Metal Hammer im Herbst 1989 und dann auch in den jeweiligen Landessprachen im Metal Hammer UK, Frankreich, Griechenland, Spanien, Ungarn und im holländischen Ardschok/Metal Hammer. In der historischen Rückschau ist vor allem die Episode in Corpus Christi interessant, die Metallica im Zentrum einer ‚Moral Panic‘ zeigt, der zeitgleich auch eine Reihe anderer Künstler in den USA zum Opfer fielen. 

Ein Mega-Act auf Tour? Kein Problem, alles bestens durchorganisiert. Eine ganze Heerschar professioneller Mitarbeiter kümmert sich um jedes Detail, und sei es auch noch so winzig, arrangiert Transport, Hotels, Interviews, die Gigs, die Promotion, stets bemüht, jedes Risiko, dass etwas schiefgehen könnte, von vornherein auszuschalten. Eine Welttour durchzuführen, erfodert absolute Generalstabsarbeit, auch bei Metallica, dem Underground schon längst entwachsener Superact der späten 80er. Mit Rock´n Roll im eigentlichen Sinn hat eine solch perfekt vorbereitete Worldtour kaum noch etwas zu tun, da gleicht die Geschichte schon eher einer minutiös geplanten Geschäftsreise für Topmanager eines Weltkonzerns. Italien? Okay, wir spielen die und die Dates, da und dort laufen Interviews, und den Rest der Zeit habt ihr frei zwecks Erforschung von Land und Leuten— oder Venedigs weltberühmten Kanälen. Was soll denn da noch großartig schiefgehen? Spinal Tap gehört längst der Vergangenheit an, von „Ride The Lightning“ trennt „And Justice for All“ Welten.

Aber Metallica war nicht immer der Topact unserer Tage, auch Lars Ulrich und Kollegen mussten wie jede neue Rockband  durch die harte Schule der Straße. Und aus jener Zeit gibt´s einiges zu erzählen, Geschichten, die purer Rock ’n’ Roll sind, Geschichten, wie sie so nur die Straße schreiben kann. Die Palette reicht von Katastrophen bis hin zu kaum glaublichen Ereignissen, die, jedes für sich, durchaus Stoff für abendfüllende tragischkomische Filme bieten könnten. Die ganz große Katastrophe, die Metallica „on the road“ ereilte, jener Unfall in Skandinavien, der Cliff Burton das Leben kostete, an dieser Stelle wieder aufzuwärmen, wäre mehr als geschmacklos, obgleich sie sehr wohl DAS entscheidende Eckdatum in der Karriere Metallicas darstellt. Beschränken wir uns also lieber auf andere kleine und große Desaster, denen immer gemeinsam ist, dass ihnen auch ein Hauch von Komik innewohnt, und begeben uns direkt an die Grenze zwischen den USA und Kanada.

Vergessen im Niemandsland…

Pic: Wikipedia Commons

Ein Reisebus nähert sich der amerikanisch-kanadischen Grenze, fährt langsam an den Kontrollpunkt heran und stoppt schließlich. Drinnen ein Haufen langhaariger Jungs, Instrumentenkoffer, jede Menge Bierdosen – offensichtlich eine von diesen Rockbands auf Tour, eine Rockband allerdings, deren Namen den Grenzpolizisten beider Nationen zu jener Zeit noch herzlich wenig sagen dürfte. „Wohin des Weges, warum und wozu? Und irgendwas zu verzollen dabei? Drogen, Waffen? Und die Pässe bitte.“

Die Abfertigung nimmt einige Zeit in Anspruch. Niemand achtet sonderlich auf den jungen Mann, der aus dem Bus aussteigt und sich anschickt, sich etwas die Beine zu vertreten. Schnell gelangt er aus dem Blickfeld der Zöllner wie der eigenen Reisegesellschaft. Schließlich ist die Abfertigung beendet, die Musiker und ihr Tross versammeln sich wieder im Inneren des Nightliners und die Grenzbeamten kehren zurück in die warmen Wachstuben, zurück zu ihren Spielkarten oder was immer sonst sie zu ihrem Zeitvertreib zu unternehmen pflegten. Der Fahrer lässt den schweren Diesel an, langsam setzt sich der Bus in Bewegung, die Fahrt geht weiter, hin zum nächsten Konzert, weit hinein ins Landesinnere. Drei Stunden ohne Pause, immer weiter, vier Stunden und dann:  „Wo zum Teufel ist eigentlich Cliff???“ 

Cliff???!!!“ 

Hey Mann, der ist gar nicht im Bus!!!“ “Oh Shit! Wann ist der denn ausgestiegen, wir haben doch zwischendurch nirgendwo Halt gemacht. Habt Ihr schon mal auf dem Klo nachgesehen?“
Nee, da isser auch nich!“ „Scheiße! Wir müssen ihn an der Grenze vergessen haben!!!“

Und tatsächlich, während der Rest der Band munter in Richtung Konzert weiterreiste, war Cliff Burton an der Grenze zurückgeblieben, zum Erstaunen der Grenzer, die sich plötzlich mit einem einsam und verlassen wirkenden jungen Mann konfrontiert sahen, der da unversehens aus den Büschen auftauchte und verwundert nachfragte, wo denn seine Kollegen abgeblieben seien.
Lars Ulrich erinnert sich später noch gern an diese Tourepisode, vergisst aber nicht hinzuzufügen: „Dass sowas überhaupt passieren konnte, war ganz klar auch auf ein schlechtes Tourmanagement zurückzuführen. Zu Zeiten der „RTL“-Tour haben wir noch mit ausgesprochenen Amateuren zusammenarbeiten müssen. Heute könnte sowas schlicht nicht mehr vorkommen.“

No Remorse in Corpus Christi…

Okay Mann, wir wollen Dein gottverdammtes Geld, alles, verstehst Du ?!” Erschrocken und verwirrt musterte der Mann die beiden jungen Kerle, beide sicherlich nicht älter als 17 oder 18, die da so unversehens vor ihm aufgetaucht waren. „Mein Geld, no way, Mann. Sucht Euch doch ´n anderen, den ihr ausnehmen könnt.“ Nervös und offensichtlich bis zum äußersten angespannt stand das Duo vor ihm, tänzelte unruhig von einem Bein auf das andere. Dann begann einer der Jungs zu singen, mit monotoner Stimme, eine abgehackte Melodie und immer wieder die eine Zeile. No remorse… konnte der Mann so gerade verstehen, und immer wieder No remorse…

Plötzlich brach der Gesang ab und der Junge zog eine Pistole aus der Jackentasche, ein hässliches Ding und extrem gefährlich wirkend. „so Du willst nicht? Dann weißt Du, was Dich erwartet.“ Und er begann den kompletten Text des Metallica-Songs „No Remorse“ zu rezitieren. Schlagartig kam dem Mann das ganze lebensgefährliche Ausmaß seiner Situation zu Bewusstsein. Diese Kids, auch das erkannte er, waren heillos verrückt, total durchgeknallt, reden oder gar argumentieren konnte man mit denen sicherlich nicht mehr. Angst um sein Leben stieg in ihm auf, tiefe und unüberwindbare Furcht. „No Remorse, Mann“ schrie der Junge und legte die entsicherte Pistole auf ihn an.
Der Mann ließ sich in den Straßendreck fallen, brach zusammen, rutschte auf den Knien umher und flehte um sein Leben. „Nehmt alles, was ich habe, aber lasst mich am Leben ..“
No Remorse, keine Gnade, auch nicht für Dich!“, war die Antwort und mit einer ruckartigen Bewegung hob der Junge die Pistole an, zielte direkt in das Gesicht des Mannes und drückte ab… 
Nur wenig später wurden die beiden gefasst und vor ein Gericht in Corpus Christi gestellt. Während der eine zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, stand für den Todesschützen der Ausgang des Prozesses von vornherein fest. Als das Todesurteil schließlich verkündet wurde, stand er langsam auf, drehte sich zum Publikum hin, musterte für einen langen Augenblick die Anwesenden, darunter viele Journalisten aus allen Teilen Texas´, und begann dann zu singen „No Remorse..“

 

Der Fall machte Schlagzeilen in ganz Texas.

Eine kleine Weile später am Airport von Corpus Christi, Texas. Die Maschine mit Metallica an Bord war gerade gelandet und die Band drängte sich durch in Richtung Ankunftshalle. Alle waren in bester Stimmung, die „RDL“-Tour hatte sich bisher als voller Erfolg erwiesen, der Stern der Band war unaufhaltsam im Steigen begriffen, auch in den USA. Trotzdem war der Medienaufmarsch im Flughafen mehr als erstaunlich, einen solchen Empfang hatte die Band noch nirgendwo sonst erlebt. Fernsehkameras surrten und schoben sich neugierig an die einzelnen Musiker heran, ein wahres Blitzlichtgewitter brach über sie und ihren Tross herein und von allen Seiten wurden sie mit Fragen bombardiert.

Was zur Hölle ist hier los?????“

Lars Ulrich Jahre später dazu: “Wir hatten ja überhaupt keine Ahnung von dem , was kurz zuvor in Corpus Christi geschehen war. Der ganze Medienrummel hat uns förmlich überrollt.“
Während Metallica noch rätselten, was eigentlich los war, waren sie bereits zu DER Newsstory des Tages geworden. „Metallica are in town!“ verkündete das Fernsehen, das Radio und die Tagespresse. Ein Sturm der Empörung fegte durch Corpus Christi. „Diese Verbrecher, die unschuldige Kinder dazu verführen, Menschen umzubringen, sollten sofort der Stadt verweisen werden“, war noch die harmloseste Forderung der kochenden Volksseele. Andere forderten gar die Köpfe der Musiker, die erst durch einen Anruf vom Management überhaupt erfuhren, was hinter dem Rummel steckte.

James, als Autor der Lyrics von „No Remorse“ musste in einem langen Fernsehinterview Stellung beziehen zu den Lyrics und zu den Vorwürfen, dass erst der Song überhaupt den Teenager dazu gebracht habe, mit der Waffe in der Hand loszuziehen und Unschuldige umzubringen. Metallica waren auf einmal Monster, deren Konzert in Corpus Christi wegen der verderblichen Wirkung auf die Kids der Stadt mit allen Mitteln verhindert werden musste. Es kam zu Protestaktionen vor der Halle, Aufmärschen aufgebrachter Bürger vor dem Hotel und Drohbriefen und –anrufen. Der Fall machte Schlagzeilen in den gesamten Vereinigten Staaten. Das Konzert fand trotzdem statt…

Der Tag, an dem der Blizzard kam…

pic: Edgar Klüsener 1998

Buffalo im Staate New York, nahe an der kanadischen Grenze. Wir schreiben den Januar 1985. Ein verheerender Schneesturm fegt über Land und Stadt, unterbricht Strom- und Telefonleitungen, bedeckt Straßen meterhoch mit Schnee, knickt Bäume wie Streichhölzer und schneidet Buffalo von der Außenwelt ab. In den Straßen der Stadt nicht das geringste Anzeichen von Leben, nichts und niemand rührt sich. Vor einem der besten Hotels des Ortes stehst, halb eingeschneit, ein komfortabler Reisebus. Im Inneren des Hotels die Band und die mitgereiste Crew.

„Wann gibt´s denn hier verdammt noch mal was zu essen??? Hey, Ober, ist nicht bald Lunchtime?!“

„Es tut mir sehr leid, Sir, aber die Küche ist geschlossen, es gibt nichts!!!“

„Oh Shit, aber wir hängen doch mindestens einen Tag hier fest, bevor wir weiterfahren können. Sollen wir etwa die ganze Zeit hungern??? Ihr habt doch mit Sicherheit irgendwo Nahrungsmittel für das Personal gebunkert oder etwa nicht?“

„Haben wir schon, aber da kommt gerade mal das Personal mit zurecht. Sorry, Sir…“

Die Situation beginnt allmählich leicht tragische Aspekte zu bekommen. Da sitzt der gesamte Metallica-Tourtross in einem Hotel fest, zusammen mit einigen Bediensteten des Hauses, und es sind kaum Nahrungsmittel vorhanden. Die Stadt ist vollständig von der Außenwelt abgeschlossen, die Dauer des Zwangsaufenthaltes somit noch mehr als ungewiss, Nachschub ist nicht zu erwarten und die Hotelangestellten sind vorerst nicht bereit, ihre Vorräte zu teilen. Auch der Wink mit der Dollarnote hilft nicht viel weiter. Und draußen ist immer noch alles grau in grau, fegt der Sturm durch die Straßen und wirbelt dichte Wolken pulvrigen Schnees vor sich her. Gottseidank funktioniert wenigstens die Heizung noch. Die erste Nacht bricht herein und das Verhältnis zwischen Hotelbediensteten und hungernden Zwangsgästen wird zunehmend gespannter.

„Nun gut, wenigstens haben wir Zigaretten und Alkohol im Bus, damit werden wir den Magen schon für ne Zeit ruhig halten können.“
Also wird ein Roadie hinaus in das Unwetter geschickt, mit dem Auftrag, Alkoholika und Rauchwaren aller Art aus dem Bus zu holen. So kann, während draußen die Straßen in geisterhaft schmutzig-graues Licht getaucht werden, in der Geborgenheit des Hotels zumindest ein kleines Besäufnis gestartet werden, misstrauisch beäugt von einem Kellner des Room-Service, der schließlich selbst auch Durst bekommt und zudem noch feststellen muss, dass ihm die Zigaretten ausgegangen sind. Beides, Alkohol und Zigaretten, ist im Hotel nicht zu bekommen, die Bar ist unwiderruflich abgeschlossen, der Schlüssel unterwegs mit dem Barmann, dem das Unwetter alle Zugangswege zur Stadt und zum Hotel gnadenlos versperrt hat. Jetzt ein Bier…

„Entschuldigung Sir, könnte ich vielleicht einen Schluck abhaben.. und vielleicht auch noch ne Zigarette???“

Die Chance wird sofort erkannt und konsequent genutzt.

„Aber klar doch, Mann, allerdings hätten wir da ne kleine Vorbedingung. Du schleppst was zu essen ran. Alles klar?!“

Der Deal funktioniert zur beiderseitigen Zufriedenheit, zumal sich ihm auch andere durstige Angestellte bald anschließen. Zurück zur Tauschwirtschaft heißt die Devise, Bier gegen Brot und Tabak gegen Tortellini. Insgesamt drei Tage lang währt die Isolation in Buffalo, bis endlich die ersten Schneepflüge von außen den Kontakt zur Welt wieder herstellen, bis wieder Strom da ist und neue Lebensmittel geliefert werden können. Und bis es weitergehen kann zum nächsten Konzert.

Alle reden vom Wetter… wir auch!

Wir befinden uns auf der „Master Of Puppets“-Tour, irgendwo in Amerika. Rund zweitausend Fans tummeln sich vor der städtischen Halle, in der in dieser Nacht Metallica aufspielen sollen. Innen ist die große Bühne bereits aufgebaut worden, Helfer stehen gelangweilt herum und harren der Dinge, die schon längst hätten geschehen sollen. Schließlich fährt der Bus vor, sucht seinen Weg zum abgesperrten Backstage-Areal und parkt genau vor dem Bühneneingang. Heraus springen Metallica, sehen aufmerksam in die Runde und fragen dann erstaunt den örtlichen Promoter, der sie draußen empfängt: „Wo ist denn der Truck mit dem Equipment?“

„Tja, das fragen wir uns auch. Ich dachte, Ihr wüsstet das.“

„No way, man, keine Ahnung, ham die sich denn noch nicht gemeldet? Die hätten doch schon vor gut fünf Stunden hier sein sollen.“

„Nee, kein Anruf, nix. Aber kommt erstmal rein, Jungs.“

Die Halle macht einen imposanten Eindruck. Ein großer Innenraum, leer, eine riesige Bühne, leer… Und draußen vor der Halle beginnen die Kids zu skandieren. „Metallica, Metallica…“

Der Bus ist entdeckt worden, die Ankunft der Band eine rasend schnell verbreitete Nachricht. Alles drängt nun zum Ticket-Schalter. Die Band ist da, es wird also bald losgehen. doch der Schalter bleibt geschlossen.

„Hey, wir haben Nachrichten vom Truck. Die sind in einem Unwetter steckengeblieben, hundert Meilen von hier. Die können frühestens in fünf Stunden hier sein.“

„Schick sie weiter zum nächsten Auftrittsort!“

„WE WANT METALLICA…“ Die Kids werden allmählich unruhig.

„Hört mal Jungs, wollt Ihr nicht doch noch spielen? Ein oder zwei kleine Verstärker und ´n lüttes Drumkit können wir schon noch besorgen!“

Ein Blick von der Bühne in den riesigen Innenraum, auf die leeren Ränge, eine erste Vorstellung von der Akustik in der Halle, von Echo, Hall und Soundbrei.

„Vergiss es, Mann, so geht das nicht! Wir holen das Konzert späger irgendwann mal nach.”

„WE WANT METALLICA…“ Zweitausend Kids vor der Halle… Die Tickets behielten ihre Gültigkeit bis zum nächsten Metallica-Gig in dieser Stadt, Wochen später.

Hasch und Machinenpistolen, ein deutsches Trauma…

„Niemand verlässt den Bus, bleiben Sie bitte auf ihren Plätzen!“

Schauplatz: deutsch-niederländische Grenze. Die „Ride The Lightening“-Tour führt Metallica hinein ins Staatsgebiet der damaligen BRD. Schwerbewaffnete Bundesgrenzschutzbeamte mit umgehängten Maschinenpistolen und begleitet von Schäferhunden, letztere abgerichtet auf das Erschnüffeln von Betäubungsmitteln aller Art, entern den Nightliner. Während die Hunde ihre Nasen in alles und jeden hineinstecken, kontrollieren die Grenzer Pässe und Gepäck. Im oberen Stockwerk des Busses liegt derweil Cliff Burton im Halbschlaf und wundert sich über die merkwürdige Geräuschkulisse, die von unten herauf dringt. Schließlich wird es ihm zu bunt, bei diesem Lärm kann wirklich niemand mehr in Ruhe schlafen. Also erhebt er sich von seiner Liege und wirft einen Blick hinunter, genau auf einen Drogenhund, der sich auf die Treppe zu seinem Domizil zubewegt.

„Ach du große Scheiße!“

Cliff hat einen kleinen Klumpen Haschisch dabei, besten schwarzen Afghanen, ein bis zwei Gramm oder so. „Was tun??? Runterschlucken??? Iss wohl das beste…“
Als der Hund, gefolgt vom Lauf einer Maschinenpistole und dem dazugehörigen Grenzschützer bei Cliff anlangt, kaut dieser immer noch an dem trockenen Bissen und schluckt krampfhaft die letzten Brösel hinunter.

„Ihren Pass bitte.“

Der Hund schnuppert misstrauisch an Cliff herum, ist sich jedoch über den wahrgenommenen Geruch offensichtlich selbst nicht sicher und verliert schließlich das Interesse.

„Vielen Dank, gute Weiterfahrt..“

Langsam setzt der Bus sich wieder in Bewegung, an Bord ein Cliff Burton, dem es nach einiger Zeit immer komischer wird. Etliche 90 Minuten später ist der gute Mann so stoned wie nur selten zuvor in seinem Leben, als der schwarze Afghan seine Wirkung voll entfaltet. Der nächste Tag ist ein freier, und Cliff ist immer noch breit bis zum Anschlag. die Band findet´s lustig, albert herum mit Cliff, nimmt ihn hoch und amüsiert sich königlich über den verwirrten, zugeknallten Kollegen. Was soll´s schon, an diesem Tag ist eh kein Konzert. Das Konzert ist am nächsten Tag… Cliff ist immer noch stoned von seiner unfreiwilligen Cannabis-Mahlzeit. Die Band findet´s nicht mehr ganz so komisch, zumal Cliff abends auf der Bühne leichte Probleme hat, mit sich, der Musik und seiner Umwelt klarzukommen, geschweige denn, sich auf den Beinen zu halten. Erst am dritten Tag wurde Cliff allmählich wieder nüchtern und die Tour konnte problemlos weitergehen. Problemlos? Nun, irgendwas ging bei Metallica fast immer schief,aber das sind schon wieder ganz andere Geschichten, die wir vielleicht irgendwann später einmal erzählen werden…

Erstveröffentlichung / first published: Metal Hammer Germany 1989

C 1989/2022 Edgar Klüsener

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Aktuell Mittlerer Osten Musik Nachrichten Videotipps Zeitgeschichten

Frieden ist mehr als nur ein Wort: Music Against War

Kann Musik die Welt retten? Kann ein simples Lied den Unterschied machen zwischen Krieg und Frieden? Welche Rolle kann Musik spielen in einem Europa, das nach historisch beinahe beispiellosen 77 Friedensjahren plötzlich entsetzt feststellen muss, dass die Bestie Krieg auch in seinen Grenzen jederzeit wieder die blutigen Fänge zeigen kann. Noch ist er auf die vom britischen Historiker Timothy Snyder so treffend benannten ‚Bloodlands‘ konzentriert, die blutgetränkten Felder und Städte der Ukraine, die im vergangenen Jahrhundert bereits zweimal von deutschen und russischen Heeren gebrandschatzt, verwüstet und ausgeblutet worden sind. Doch wie jeder Krieg, hat auch dieser seine eigenen Gesetze, und wie noch jeder europäische Krieg der Vergangenheit, wird dieser ebenfalls das Antlitz des Kontinents dauerhaft verändern. Entziehen können wird sich ihm und seinen Folgen auf Dauer niemand. Hier nicht, in unseren Nachbarländern nicht, nirgendwo in Europa und darüber hinaus.

Was also kann Musik hier ausrichten? Kann sie die Herzen und Seelen ansprechen, in einer Welt am Rande eines weiteren Abgrundes? Kann sie die Geschicke der Menschen ändern oder zumindest erleichtern?

Ein klares Nein zu alledem“, wird der Zyniker nun mit sardonischem Lächeln antworten, „was für eine lächerliche und naive Vorstellung.“ Der selbsternannte Realist wird mit ernster Miene beipflichtend nicken.

Obwohl Musik die oft bewiesene Macht besitzt, Gefühle wie Trauer, Freunde, Lust oder Wut zu wecken und zu verstärken, kann ein einfacher Song wohl tatsächlich keinen Schutz bieten gegen kaltherzigen Massenmord, gegen Raketen, Panzer und Bomben, noch kann er etwas ausrichten gegen das blinde Wüten machthungriger Diktatoren und deren Lust auf Zerstörung.

Dennoch kann Musik, so ist nun einmal die Natur des Menschen, eine Rolle spielen, vor allem in Zeiten von bitteren Konflikten, in den Alptraum-Szenarien, die bestimmt sind von tödlichen Feindschaften, ungleicher Machtverteilung, ideologischer Raserei und scheinbar unüberwindbaren Gräben zwischen Menschen und Nationen.

Am Ende war es ein Lied, dass Soldaten des Zweiten Weltkriegs über alle Schlachtfelder, Frontlinien und Schützengräben hinweg anrührte, das sie ansprach und das sie zu lieben lernten. Die bitter-süße Ballade „Lili Marleen’ über einen Soldaten, der fernab der Heimat von seiner Liebsten träumt, wie sie einst unter der Laterne vor der Kaserne auf ihn wartete, wurde zuerst vom deutschen Soldatensender Belgrad ausgestrahlt und avancierte bald zum weltkriegsweiten Hit über alle Sprach- und sonstigen Grenzen hinweg. Die Atmosphäre des Songs, das grundlegende Sentiment sprach die Soldaten unmittelbar an. Es brachte eine Saite tief in ihrem Inneren zum Klingen, berührte ihre Menschlichkeit und schlug so Brücken zwischen Männern, und es waren fast ausschließlich Männer, die einander feindlich gegenüberstanden, gefangen im blutigen Alptraum mechanisierter und industrialisierter Massenschlächterei des Weltkrieges.

Dieser Krieg sollte der letzte gewesen sein auf europäischem Boden, darin waren sich die Nationen und ihre Führer nach 1945 weitestgehend einig. 77 Jahre hielt dieser, in Zeiten des Kalten Krieges oft brüchige, Konsensus. Doch nun wütet wieder ein bewaffneter Konflikt im Herzen Europas, der die Geister der grausigen Vergangenheit erneut heraufbeschwört. Lange hatten sich Europäer komfortabel in einem Zustand eingerichtet, der vielen wie ein ewig währender, unerschütterlicher Frieden erschien. Doch dieser Frieden war nie mehr als eine Illusion, eine traumgleiche Wirklichkeit, die in dieser Form nirgendwo sonst in einer Welt geteilt wurde, in der Blutvergießen und bewaffnete Konflikte nach wie vor zum Alltag gehörten und gehören. Viel zu schnell haben Europäer zudem vergessen, dass vor zweieinhalb Jahrzehnten auch auf dem Balkan ein zwar kurzer, trotzdem sehr blutiger Krieg getobt hatte. Ebenso wie schnell wieder vergessen wurde, wie selbstverständlich – und beinahe unwidersprochen – Russland der Ukraine 2014 die Krim entrissen hatte.

Mitten im Frieden haben wir uns zu sehr an die Geschichten und Bilder von Gewalt, Verwüstungen und unermesslichem menschlichen Leid gewöhnt, die uns per TV, Internet und Sozialen Medien frei Haus auf die großen und kleinen Bildschirme geliefert wurden und die mit einer kurzen Fingerbewegung weggewischt werden können. Wir haben die Bilder und Nachrichten aus Afghanistan, dem Jemen, Syrien oder Libyen zur Kenntnis genommen, irgendwie, aber dann beinahe sofort wieder vergessen. Der blutige Konflikt in der Ukraine hat unsere Wahrnehmung verändert. Er findet unangenehm nahe statt, quasi direkt vor unserer Haustür. Das unerträgliche Leid, dass wir nun täglich sehen, ist nicht mehr das irgendwelcher Menschen irgendwo anders auf dem Planeten, sondern das unserer europäischen Nachbarn. Für viele ist der Krieg in der eigenen Familie angekommen. Wir sind direkt betroffen, auch weil die Lebensmittelpreise steigen, der Benzinpreis und die Heizkosten. Vor allem aber, weil wir mit hineingezogen werden in diesen Konflikt, jeden Tag ein Stückchen weiter. Dennoch, wie lange wird es dauern, bis wir selbst von diesen Bildern genug haben und uns einmal mehr in den Zustand angenehmer Betäubung zurückziehen werden? Soll die Welt doch machen, was sie will, was geht mich das an?

Musik kann Brücken schlagen. Lili Marleen ist ein Beispiel dafür. Das außerordentliche Werk der israelischen Band Orphaned Land mag als ein anderes dienen. Die Gruppe ist unter israelischen und palästinensischen Jugendlichen gleichermaßen populär und versucht ganz bewusst mit ihrer Musik, aber auch in Wort und Tat, die Gegensätze zwischen beiden zu überwinden und wirbt für Verständnis und Anerkennung.

 

Musik kann machtvolle Verbindungen zwischen Menschen aller Rassen, Religionen, Nationen und Überzeugungen knüpfen. Sie kann Träume erschaffen und für sie werben, sie kann Gefühle wecken und Hoffnung wie Verzweiflung eine Stimme geben. Das Bedürfnis nach Frieden und Freiheit, nach grundsätzlicher Menschenwürde, ist es, was uns über alle kulturelle, religiöse, ethnische oder linguistische Barrieren hinweg miteinander verbindet.

Hier kommt Music Against War ins Spiel, eine globale Initiative, die darauf abzielt, so viele Menschen in so vielen Sprachen wie möglich zu erreichen, um so Gräben zuzuschütten und die Einheit in Träumen und Wünschen zu fördern.

Freedom“ ist der Titel des Liedes, das der italienische lyrische Tenor Allessandro Rinella auf Englisch aufgenommen hat, und er wird bei dieser Aufnahme von Sängern aus allen Teilen der Welt begleitet, die in ihrer jeweiligen Muttersprache singen, auf Griechisch, Arabisch, Hebräisch, Russisch, Ukrainisch, Deutsch und viele andere. Die Botschaft ist klar: Lasst uns Einheit, Frieden und Freiheit in einem kraftvollen Statement feiern, welches das Chaos in Frage stellt, in das die Welt hinabgleitet.

 

Titlebild: Photo by Darius Soodmand on Unsplash

 

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Legs On Wheels: Krautig, psychedelisch, abgedreht

Ein Hauch von Kraut Rock, Amon Düül II auf Speed vielleicht, jede Menge psychedelischer Rock, und in diesem Kontext überraschend einprägsame Melodiefetzen – Legs on Wheels treiben die Corona Pandemie und Lockdown induzierte Verrücktheit zu neuen Höhepunkten. Die Combo aus dem verregneten Nordwesten Brexitanniens zelebriert den aus den Fugen geratenen Alltag aber nicht nur musikalisch, sondern setzt in ihren Videos auch visuelle Glanzlichter. Das Video zum aktuellen Song ‚Milktop Mandy‘ ist eine Reise in psychedelische Wunderwelten, die von Dada ebenso inspiriert sind wie von Timothy Leary, dem Sergeant Pepper Movie und Salvador Dali. Zum Beginn des Videos sitzt der Sänger völlig bekleidet in der gefüllten Badewanne und schrubbt seine Achselhöhlen mit einer langstieligen Bürste. Die ersten Zeilen des Songs klingen sehr nach den Beatles und verraten damit schon einiges über einen der Einflüsse der Band. Doch dann wird es bunt und, na ja, krautrockig, erinnert an Amon Düül II, aber natürlich auch an britischen Psychedelic Rock der 60er Jahre.

https://youtu.be/0RAtCgblxhY

Britische Musiker hat es hart erwischt. Der Brexit macht Touren in der EU, bis dato für viele Künstler eine ihrer Haupteinnahmequellen, extrem kompliziert und für viele so teuer, dass sie sich nicht mehr lohnen. Der Markt vor ihrer Haustür ist ihnen weggebrochen, seitdem Brexitannien die Tür hinter sich zugeschlagen hat. Und dann kam zu allem Überfluss noch der Covid-19 bedingte Lockdown, die von der Zwangsquarantäne bedingte Untätigkeit. So unangenehm bis katastrophal die Folgen von beiden für das wirtschaftliche Gedeihen der Musiker sind, so kreativ gehen sie doch mit ihnen um und brechen zunehmend erstarrte Hör-und Präsentationsformen auf, die in einer anderen Wirklichkeit noch relevant erschienen, Legs on Wheels ist nur ein Beispiel dafür.

MQ 2021/ Edgar Klüsener

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Spaß daheim: Robert Fripp und Toyah Wilcox covern ‚Rock You Like A Hurricane‘ von den Scorpions.

Damit auch im Covid 19-Lockdown daheim keine Langeweile aufkommt, haben Robert Fripp und seine Frau Toyah Wilcox vor einiger Zeit damit begonnen, im heimischen Wohnzimmer vor laufender Kamera Coverversionen bekannter Rock- und Popsongs vor laufender Kamera zu spielen. Robert Fripp, cool wie immer, spielt die Gitarre, Toyah Wilcox tanzt, verkleidet sich, singt und mimt. Die beiden haben sichtlich jede Menge Spaß dabei und mit ihnen hunderttausende von Youtube-Surfern, die regelmäßig bei den Sunday Lunch- Konzerten vorbeischauen. Nun haben sich die beiden, unterstützt von Sidney Jake an der zweiten Gitarre, des Scorpions-Klassikers ‚Rock You Like A Hurricane‘ angenommen. Toyah Wilcox im hautengen Catwoman- Kostüm faucht – nicht im Original – ‚Fripp’s ma Bitch‘ und schwingt die Lederpeitsche, was Robert Fripp mit leicht besorgtem Gesichtsausdruck zur Kenntnis nimmt, aber trotzdem ungerührt  weiter die Bratakkorde runter schrammt.

Im Rahmen der Sunday Lunch-Wohnzimmer Sessions habe die beiden zuvor schon Songs wie ‚Born To Be Wild‘, ‚Heroes‘, Purple Haze‘ (mit Toyah an der Gitarre) oder ‚Smells Like Teen Spirit‘ performt.

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Leon Lyons: And then Woodstock Happened

This interview was conducted in March 2010 and excerpts should later be used in a story on the legacy of the legendary Woodstock Arts & Music Festival. This is the first time the Q&A is being published in full length. The interviewer was Edgar Klüsener.

Leo Lyons has spent a few weeks in the UK and is now ready to head back to his home in Nashville, where he not only lives but also works as a songwriter. 40 years after Woodstock, the bass player is still a very busy man. His band’s appearance at the legendary Woodstock Art & Music Festival may have been the highlight of his musical career, but he still has his plate full. He is also ready to reflect on an event that since has become one of the defining moments of popular culture.

Q: Do you regularly commute between the US and the UK?

A: Yes, actually I do.

Q: So you have places in both countries?

A: Yes, I rent a place in the UK. For two reasons, really. Sometimes it is just convenient if we are playing shows in Europe. Also, I have family here, and my wife has an elderly mother whom she wants to look after. So it’s handy for both of us to have a place in this country. But most of the time I live in a suitcase, which is just as well.

Q: After all these years, you still live in a suitcase?

A: Oh, I know, I know… I mean, I am just pleased to be able to do what I love doing. However, the travelling side of it, I could manage to do without.

Q: Last year saw the fortieth anniversary of Woodstock. In retrospective, what did your appearance at Woodstock mean to you then and what does it mean to you now? At that time, in 1969, you were touring a lot, you must have spent almost every single day of the year on the road, so Woodstock must initially have seemed to you like just another one of these festivals.

A. That is certainly true. And not only that, we were also making around two albums a year, which is unbelievable, if you think about it in retrospect.

Q: When you were booked for Woodstock, did you have any idea that this particular festival might turn out a bit different from all the other ones, like Texas Pop or wherever else you had played before that year?

A: None at all, no. I think back then by the second day our agent may probably have had an idea that this was going to be something different, but I certainly didn’t know. We were on the road, the night before Woodstock we played St. Louis/ Missouri, the Newport Jazz Festival with Dizzy Gillespie. So I didn’t even know what was happening that weekend in Woodstock, all I knew was that we were having a gig there. And then our manager came in and said: “Oh, it’s chaos up there. The usual thing, that they had to let more people in, that the roads were blocked and so on.“ That was the first time I realised that there was something going on there.

Q: That must have been one of the worst organised festivals in the history of Pop…

A: I think it was a total disaster. That was a total accident, really. There was a lot of speculation, and I think you as a journalist might be able to check this up, about the governor wanting to send the National Guard in, and people were hoping that this would discredit that movement… I mean, if you look at the background, with America being at war, the Vietnam War, an unpopular war, that kept on politicizing people… (New York State’s then governor Nelson Rockefeller did indeed consider sending the National Guard in but his people advised against it. – ed)

Q: As a British band touring America at that time, did you follow the political developments, the changes in American society?

A: Not really. I don’t think I was that much of a political person. I think, we had this ideal about peace and love, and that kind of thing. And I think we were pushed on to one side, you were either for it or against it. If you had long hair, wore certain clothes and listened to certain kinds of music, then you were most unwelcome in some places. I wasn’t so much political, but I found it sometimes rather crazy what was going on, unbelievable for someone who had come from the United Kingdom. Anyway, it was pretty obvious what was going on in America, the race segregation that, not that there wasn’t any in Britain, but not at that scale, with the peace marches and the Civil Rights movement. I was aware of it, but I was not active in it.

Q: As a Brit, coming from Mid Sixties Britain to America, the States must have seemed a strange place, anyway.

A: It was a strange place. It was totally different. You must imagine, all I knew about America was news, music, and I was an America fan. I liked the American books, I liked American films, I liked the idea of Hollywood, you know, the whole thing, the whole American Dream was sold on me probably at the age of thirteen, fourteen. So it seemed like a wonderful thing.

Q: And you definitely liked American music, didn’t you?

A: Oh yes, I mean, that was the main motivating thing. And I guess it still is. That is why I still live in America. I love Europe, but I live in America, because I like the music, and music is what I am doing.

Q: You’ve worked for a while as a songwriter in Nashville, haven’t you? Isn’t that a step away from Underground rock?

A: Yes, for ten or twelve years, I think this is my eleventh year. I was a staff songwriter for a company called Hay Street Music that was owned by a songwriter called Don Smith, who was a successful writer.

Q: That was country music?

A: Oh yeah, country music was the first type of music that I really liked.

Q: So country came first?

A: Oh yes, definitely. I mean, country music has always been the white man’s blues. For me, the first records I heard was Jimmy Rodgers, “he is in a jail house now”, on a wind-up gramophone, all on my own, I guess that was when I was seven or eight. In a way this was the first introduction to the guitar for me. Then there was Lonnie Donegan, who started to play a lot of the Leadbelly stuff, and then Skiffle became famous, and the Rock’n’Roll, for me

Q: In the Sixties, Ten Years After was still considered an Underground Band. What exactly did underground then stand for? Was that term solely used to signify the music?

Pic: By Mark Goff – own collection, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7366405

A: Yeah, it was purely a musical term. Underground music I think, in that context, just meant, you don’t make hit singles, you are not a hit single based, pop based band. You were not hyped by a publicist or by a record company. You know how record companies can put bands together, hype things up. It was something a minority of people wanted to listen to. Real music, you may want to call it, people wanted to listen to rather than hyped up stuff. Once it became successful it ceased to be underground, then it became mainstream. It was played on the radio, the pop magazines started to pick up on it. All that changed, and one thing that changed it was, I think, Woodstock The Movie.

Q: What did the Woodstock movie mean to you?

A: To put it in context: we were on our third album and hopefully had a chance in the United States – in other countries too, but let’s for the moment stick with America – to play up to 5,000 seaters.

Q: which was already quite impressive…

A: Yeah, well, twelve months later, when Woodstock came out, we suddenly found ourselves on an entirely different level. So, we were doing okay when Woodstock came out, building nicely, playing to a lot of people, selling records, charting … when the movie came out, all of a sudden we went into the mainstream. We could play on a Tuesday night in a town we had never heard of before and fill a 10- 15,000 people auditorium. Seven nights a week. And of course, that spread throughout the world. I mean, in Germany we were suddenly playing huge venues

Q: How long did it take you as a touring musician who just lives from one venue to the next, from one hotel room to the next, to really realise how big you had suddenly become?

A: That’s a good question. I think you never do. You feel more pressure, that is definitely building up on you. There’s always an interview to do, all of a sudden people want to get to know you, people start following you around. However, I must say most fans are really good. But there were cases, like I had a hotel room on the second or third floor and someone was climbing up the outside of the building and banging on my window, wanting an autograph. That kind of stuff started to happen. I am always grateful to meet fans, but it became difficult at a time. But I mean, that’s what you do. I don’t think I ever consciously wanted to be rude. I did always want the band to be successful. However, there were things I wasn’t prepared to do. That’s why we were an underground band. We didn’t want to do TV, we didn’t want to do that kind of thing. In retrospect I think that was silly, but I think we felt: We are musicians, not pop stars.

Pic: Deram / London Records, Public domain, via Wikimedia Commons

Q: Funny, you mention this: What do you think about nowadays casting shows, such as American Idol or the X-Factor?

A: I have to say, people have to have a break one way or the other. And I think there is a lot of talent that manages to get started that way, but to me, to be honest, I think it is an exploitative way of the business to say: Alright, it is very difficult to break an act, so, what we do is, we set up a talent show, we build up a following for these particular people, and then we will launch them, and then we will make a lot of money out of them. I think it’s exploiting, but I don’t know. I mean, when I was sixteen, I entered a talent contests.

Q: You did?

A: Yeah,

Q: And did you win?

A: No, of course not. I think when I was sixteen, the band I was with then, we did come second in one of the talent contests and did win five pounds. I mean, you entered these talent contests and you could win a recording… it wasn’t a recording contract, it was a recording audition, you know, that kind of thing. I don’t know… what I think is that the business has changed that much, that after Woodstock the media people went in, the marketing people went in, and they all made money. And I think, if you look at it in that context, people are a lot more in it for the money. When I started, people were more enthusiastic about the music. If you could make money out of it, then great. Now it seems to be all about the money. You go along to one of these television shows, you say: right, I want this out of it and that out of it, this management thing and that, do the contracts, have the whole thing signed and sealed. But how long will it last? Only very few people from them shows we will be here in ten years time. Most of them will long have disappeared. It’s cheap television. I mean, it’s a wonderful idea for the people who put it together. But that’s… here we are underground again. Ten Years After are underground again. We don’t belong to the mainstream, we don’t appear that much on television, we release our own records. And we do nicely, thank you. A lot of people come and want to see us, and young people. For me that’s great!

Q: It appears that you are actually a bit ahead of the trend right now. It seems that more and more musicians are trying to take over as much as possible into their own hands, from recording to the release of music.

A: Yes, yes, it does. I mean with us, in our situation, we were offered record deals, and we did go with a label in the states, but then, it is difficult times for record companies and, to be fair, you either invest a million or a couple of million dollars in a project or you just put something out and see what happens. And a lot of record companies decide for the latter. You can do a lot more yourself. There would not be any real commitment from a major record company to a band like Ten Years After. That is for two reasons: Firstly, they would go and say, hang on a minute, I am the A&R guy who’s putting his neck in a noose, either it’s going to happen anyway, or it don’t and I will be losing my job. The problem is, it has always been young people’s music, but the last few years that seems to have changed, it seems that we have been caught up with mainstream music. I mean, I am not bothered by that.

Q: Back to Woodstock: Were you actually aware that there was a film being made?

A: Yes, they asked us about this, and our management had agreed to it.

Q: So you went through the whole process, signed forms and all of that?

A: I mean, I wasn’t aware that they were filming while we were doing the show.

Q. The songs which were then finally shown in the film, was that your choice? Did you approve of any?

A: I certainly didn’t, no. We had no idea. We had an American management involved back then and there were all sorts of infighting going on inside the management and one thing or another. I heard all sorts of rumours… No, I didn’t see anything until the movie actually came out.

Q: When you saw the movie for the first time, did you actually recognize what you saw from what you remembered?

A: Yes, I think I did. Even after forty years I think I still have a pretty clear recollection of that.

Q: When I spoke to other people who have been at Woodstock, they admitted that they sometimes found it hard to trust their own memories. They weren’t sure any more if it was the film they remembered, or the real events on the ground. Do you sometimes find yourself in this situation, too?

A: Yeah, it is pretty clear. I mean, apart from the actual performance, which can be seen on film, what I recall most clearly are those backstage moments.

Q: What were the actual playing conditions like?

A. Pretty bad. Because it was raining, the stage was slippery, there was so much rain that water was running between the cables criss-crossing the stage, there was an awful lot of humidity, so tuning was a bit of a problem…

Q: Nowadays that wouldn’t pass health and safety…

A: No, it definitely wouldn’t. Nobody got electrocuted. It did occur to me, though, but I didn’t think it was my time. But then you looked from the stage over the audience, and it was that whole sea of faces, you know, steam rising up from the audience as well, fires in the distance, so that was a good feeling. You know, other aspects of it stick out in my mind, like we left St. Louis Missouri at six in the morning, fly to New York, then drive to Woodstock, you know, and that was like some pictures from Vietnam, you know, helicopters hovering over the fields, and I remember going to the gig and the rain starting. And I remember someone, I think Pete Townshend, saying that someone had spiked the food with Acid, and then there was me sitting in the back of the truck, watching the rain coming, thinking: I want something to eat!

Q: So, did you take the risk?

A: No, no… I have always thought I was partially on the edge anyway, so I have never taken Acid. I was too afraid I would never come back. I saw too many people who never came back. Although, this would have been the occasion in years.

Q: That was actually another aspect of Woodstock. It made drugs fashionable, triggered a worldwide drug-culture.

A: May be it did, but I think that was pretty prevalent even before Woodstock. May be in Germany. But did it in Germany? I am not so sure, there seems to have already been a drug culture before Woodstock. Maybe in Eastern Europe. I have spoken to people from Eastern Europe, it had such an effect on them. Not necessarily the drugs, but the whole thing. That people could get together against authority, in a way, listen to the music they wanted to listen to in the way they wanted to listen to it.

Q. In terms of resistance to authority: What was Britain like at that time?

A: Ermm, underground music was not that much of a political movement. I think that was more an aspect of the American society, that had to put music in a bag and people in a bag, like you listen to that so you must be this. It was a lot easier in the UK, I don’t think people didn’t identify so much people with long hair, with short hair… I think it was only when the Punk Scene started that appearance actually began to matter.

Q: The appearance of Punk seems to have caused a sort of moral panic in Britain.

A: It did, yeah. I think it was definitely an anti-Establishment thing. I don’t really think that … music, underground music, psychedelic in the UK was that much of an anti-Establishment thing, you just wanted to have fun. In the UK there was no shortage of jobs, people had money, despite the fact that we had the troubles in Northern Ireland. When I first went to America, Americans would ask me about Northern Ireland. I mean, I grew up with the troubles in Northern Ireland, and it was terrible, that it was going on, but it didn’t seem to be at any time part of the psychedelic underground music scene. It was nothing like the Vietnam War in the United States. If you were a hippie, then people would definitely assume that you were against the war. Appearance showed your political position. And that’s what caused a lot of problems. People having their children killed, people being killed just because of the way they looked and all sorts of things going on. We were drawn into the middle of all that.

Q: Living in the US for the last few years, must have brought back memories, with the Iraq war going on and the involvement in Afghanistan…

A: Yes, definitely. That’s gone round in a circle, hasn’t it? And I can see it becoming even more that way. I think there should be no room for wars any more. It’s all coming down to money, isn’t it? I am not accusing America, I am just saying that most wars are for money. I mean, if you go back to the beginning of time, look at wars and ask yourself the question ‚who’s going to gain‘, then you quickly realize what the whole thing is about. I feel the best song that Alvin [Lee] ever wrote, which totally stands out about anything else, was ‚I’d Love To Change The World‘. It is that statement: I’d love to change the world, but I don’t know what to do…” That’s my position, that’s where I stand. It’s so easy to say “Yeah, you should do something about it, but it isn’t.”

Q: And the younger you are the easier it is to say so…

A: Absolutely, yes, that’s right. I just hope that with that 40th anniversary of Woodstock some of those ideals, no matter how naïve they may have been, will reoccur. Hopefully it will do some good. I mean, we are not only doing it as for an event to make a lot of money, or an event to get out of your head on ecstasy.

Q: After all these years since Woodstock, what would you consider to be the biggest change in music? And I don’t really mean changes in the music industry. I am aware that the industry in itself has changed almost beyond recognition since. I mean more in terms of music itself and in the attitudes of musicians, maybe.

A: I think the computer has changed music. Because now every programmer, anyone who knows his way around software, can make a record. That’s a major change. Even when I started, anybody who couldn’t play let’s say the guitar, would sound like he couldn’t play the guitar. Nowadays that doesn’t really matter any more. You can sample other music, play a guitar note for note and tighten the tune up, you can retune a vocal, loop things up, and manufacture a complete production. You couldn’t possibly go out and perform live, though, with all the samples and loops you’ve used on the record. So, that’s one thing that has changed. But, having said that, I was in a music shop in Düsseldorf, last week, on a Saturday, and it’s a long time since I have seen so many young people picking, playing guitars, basses and drums… Things seem to be going in a circle. I have looked through my email this morning and I had two letters from young people, one of them a 15 years old boy who said “I have just bought myself a bass guitar, two months ago, and I am playing the bass.”… So, it’s going around in a circle. I think we are gonna see more life bands again.

Q: There definitely seems to be a resurgence of life music.

A. Oh yes… If you take away those manufactured bands, I mean, some of these bands are definitely very talented, like Pussycat Dolls, who nevertheless are definitely manufactured by the business, by the media, they put them through auditions, put them all together, I mean, and then you have a young band coming through that builds up a followership, they will have to tour, it is all going in a circle. It’s always gone around in a circle.

Q: Which, I guess, is a good developments

A: It is, it is so rewarding to see so many people coming to our concerts.

Q: How many concerts do you play per year these days?

A: 100 – 150 a year.

Q: That’s a hell of a lot of time on the road

A: Oh yes, it is. I mean, there are sometimes one or two days between shows, you are travelling, so you actually stay a lot more days on the road. If you do two shows, it’s almost four days.

Q: And you still manage to have a family life?

A: Oh well, yes. One of my sons works in Nashville. He is in the music industry, he works for a record company. My other son is a guitar tech. So yes, there is time for family life.

Copyright 2010/2020 Edgar Klüsener

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‚I WANNA BE ELECTED!‘ – ON TOUR WITH ALICE COOPER

From the archives: First published in Metal Hammer UK, 28 March, 1988

He wants to be elected, or does he? Following a radio interview in the states, it suddenly became front page news that Alice Cooper was going to stand for the post of Governor of Arizona! Of course, the whole thing was a complete misunderstanding, but it caused quite a stir, drawing more media men than usual to his recent US shows. With the old Gore-Hound now poised to begin a full UK tour (new stageshow, old habits), the big question is: will Alice put himself forward as a candidate for the ‚Bring Back Hanging (For Everyone)‘ party, and if so it should certainly be interesting to check out his swingometer!

SCHIZOPHRENIA IS a strange disease. Suddenly, there are two or more personalities that either communicate or are strictly separate, fighting for leadership in the one body which belongs to them all.

Schizophrenia can open new worlds, be visionary and then degenerate into paranoia. Schizophrenia is a disease which never leaves the affected person. Schizophrenia can be simulate chemically with hallucinogenics, but then you fall in love with it and lose your mind. Schizophrenia can be cruel, it can shut someone away in the most horrible of worlds – a hell on earth that makes Biblical hell seem like paradise.

Each person has streaks of schizophrenia inside them. It can be ignored, fought or oppressed – you can shut the alter ego away and forget about it. You can also turn yourself into an equal partner, into reflection of a different, absurd and obscure world; a mask that’s shocking and revolting. Like Vincent Damon Furnier.

But who is Vincent Damon Furnier?

Vincent Damon Furnier first saw the light of day in the ‚Motortown‘ of Detroit on 2nd February 1948. The first 17 years of his life took the more or less normal course of a typical American youth without mentionable highs or lows, except for those to be expected during puberty combined with a healthy need to rebel.

Alice Cooper. Pic: Hunter Desportes,
CC BY 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by/2.0,

The metamorphosis of Vincent Damon Furnier began much later in 1965 in the capitol of the desert state of Nevada – Phoenix. As a student at the art college there he met Mike Bruce (guitar/keyboards), Glen Buxton (guitar), Neal Smith (drums) and Dennis Dunaway (bass). The five of them decided to do something together that would enable them to break away from American reality – Rock ’n‘ Roll.

They formed a band and called themselves The Spiders (temporarily changing the name to Nazz at a later point) and tried to transfer the aesthetic concept of dada artist Marcel Duchamp into a show which was a mixture of rock and theatre. For the first time Vincent Furnier began to slip out of his skin and become a different person – not just tolerating this person but giving him strength and personality.

During this time Vincent Damon Furnier’s stage persona developed a life of its own – he turned into a dual being, two spirits in the same body. Everything changed. The stage personality struck out on its own, was christened and became a creature that has been influencing rock music in the western world for the past 20 years. With two hearts beating as one, Alice Cooper stepped into the spotlight and shocked the public.

This strange, shockingly brutal, perverted, and dirty old android called Alice Cooper was a smack in the face of the American dream, a full-frontal attack on Anglo-Saxon prudery. Vincent Damon Furnier, who created and christened Alice Cooper, disappeared slowly from the surface, was buried and forgotten, only to resurface sometimes as Alice Cooper’s seldom-seen alter ego. That was in 1966. A year later Frank Zappa discovered Alice Cooper (by which time he had moved to LA), signed the band to his Straight label and the rest is rock history…

ALICE COOPER is still causing havoc in the USA 21 years later in February 1988. The announcement that he’ll be coming back to Europe, following up his headline appearance at the Reading Festival in 1987, was reason enough for a trip to sunny California, the aim being to take a close look at Alice Cooper in 1988.

Alice is made up of all the horrible kinky things that comprise the dark side of the American moon. He symbolises hidden desires, frustrations and shattered dreams. He is the reflection of an American that pretends it’s something it isn’t, confronting his audience with a reality that most would like to see hidden behind a wall of silence or buried deep beneath the ground. Alice is the merciless mirror of the shadowy depths of the American dream, and that’s why the establishment still hates him 20 years on.

SAN DIEGO freeway, somewhere between San Diego and the motorway checkpoint specially built to catch illegal immigrants before they get too far into the US and simply disappear. Alice Cooper finished his show in San Diego less than an hour ago – a show containing much more than you’d normally expect; it was a play, a mixture of Stephen King’s nightmares, Poe-like atmosphere and absurd slapstick scenes with an obvious lack of taste.

The tricks in the show had been planned down to the last detail and were always surprisingly, an explosion of ideas and amazing stunts. The concert must’ve been hard work for Alice as he was moving non-stop, not taking a moment’s rest. But he’s getting the break he deserves now on the back seat of the Ford Mustang that’s being driven back to the hotel by his manager, Toby Mamis.

„The show is calculated right down to the last second,“ explains Alice. „There’s hardly any room for improvisation. Only during the last two songs do we deliberately leave more space, giving us a little more freedom. If the performance is tightly organised and something technical goes wrong all of a sudden, you’re in deep shit. We then have to rely on our ability to improvise and react quickly, either to get around the technical hiccough or else accept it as a new element in the show, which is something we’ve done as well.“

Each song in the set has got its own set-up, its own storyline, and the preparation reflects this…

„Before we started the tour we rehearsed the show for two months intensively.“ adds Alice, „the last week in front of an audience. About 200 people were there every day and the way they reacted to what was happening onstage was very important on us. I don’t know of any other band that does anything remotely similar. That’s another reason why Alice is unique.“

Long Beach Arena is situated in a costal town on the outskirts of LA; it houses a venue that is typical of American halls, equally suitable for rock concerts, basketball matches or musicals, containing enough seats to accomodate around 15,000 people. The first band, Faster Pussycat, go down well in front of their home crowd with a mixture of rock’n’roll and r’n’b (a la Aerosmith/Rolling Stones/Led Zeppelin, etc, played loud and dirty), a combination that strikes just the right Californian nerve at the moment.

Then Motorhead hit the stage to a keen reception, finally winning over the audience with ‚Overkill‘ and looking like they might have a chance of cracking it in the States at long, long last. We shall see…

And then…classical music filters through the speakers – Alice Cooper’s signature tune – and the atmosphere in the hall rises towards boiling point. Suddenly he’s there, the high priest to a whole generation of American teenagers, a dark figure…Alice Cooper himself!

Each song that follows tells a particular story, amongst them gems such as ‚Chop Chop Chop‘, ‚Prince Of Darkness‘ and (back in the set) ‚Black Widow‘. The musicians stand in the background on platforms of different levels. Indeed, everything takes place on three levels, with the front of the stage, ground level, belonging to Alice and the different actors and occasionally Kane Roberts, descending from his platform to play a brilliant solo. This man looks like Austrian Arnold Schwarzenegger (better known as Conan the Barbarian and the future governor of California), and you get the impression he’ll accidentally break more than just a string if he’s not careful! – but as far as guitar playing goes, he’ll be up in the big league very soon.

The middle level is reserved for guitarist Jonny Dime and bassist Steve Steele (who changes his name as often as the others have hot dinners) on the left-hand side and keyboard player Paul Horowitz on the right. Drummer Ken Mary is right at the top, a fine drummer who has played with David T. Chastain but in the future will probably be concentrating on his own band, Filth Angel.

Alice Cooper live on Hellfest 2004, Photo: Augustin Blanchet, FAL, via Wikimedia Commons

Horowitz, meanwhile, must be the man with the most birthplaces in rock; wherever they play, Alice always introduces him as being from that particular town, even when the town in question isn’t much more than a village. The announcement in England will probably be: „…And from Milton Keynes / Telford / Peterborough, Paul Horowitz!“

„The media,“ says Alice after the show, „described what Alice does on stage as ‚Shock Rock‘, ‚Theatre Rock‘ or whatever, but even after 20 years they’re still trying to categorise me, and even I can’t do that! In the 60’s Alice was the first band to be labelled as ‚Heavy Metal‘, and to be honest all these descriptions are probably true to an extent. One thing should be made clear, however: although we use a lot of theatrical ideas in our performance, we’re not just a theatre group. We’re mainly a rock band, but we try to visualise our ideas a lot more than other bands do.“

TO UNDERSTAND the show, to see more in it than gushing blood and scary effects, you have to understand Alice himself. Alice isn’t just a normal everyday person with everyday problems – relationships, job prospects, getting a new car or paying off the mortgage. When Alice falls in love then it’s with an animal of the night, a vampire or a zombie. He has affairs with Teenage Frankensteins and Black Widows, but nothing comes across as being absurd or tasteless, just Alice himself. Alice doesn’t ‚kill‘ out of naked lust, he kills and rapes because he’s madly and romantically in love. He’s the ugliest side of Mr. Average, taking things to the extreme as ever.

In the past Alice set out to shock with his over the top behaviour, but because of the sexual and mental liberation that has taken place over the past 20 years he could now appear out of place, ridiculous even. However, by incorporating a potent mixture of theatre and performance techniques the roots of which can be traced back a full hundred years, he’s able to get away with it. He uses elements of strange theatre, expressions from the dada movement, all mixed up with subtle irony, attacking the nerves of the unsuspecting, leaving them helpless and confused.

S&M, rape, murder and hanging, blood orgies, simulated masturbation (sounds like an episode of Blue Peter – Ed), Vincent Damon Furnier’s other self uses every single cliche (it is Blue Peter – Ed), distorting them beyond recognition and becoming a dramatist comparable to the likes of Stephen King.

„I discovered the psychopathological element in this world and described it in the most bizarre way. But I don’t think that makes me a madman. Maybe I’ve just managed to retain the freedom of seeing and watching things; I know there are lots of sides to everything and I try to discover what these are and reflect on them. Obscure things fascinate and attract me.“

At this moment I’m not quite sure who I’m speaking to – Alice or Vince. Each of them seems to have taken on aspects of the other’s personality, though they both express the feelings of the same person in the end, whatever name he goes under. This is what Vincent/Alice has got in common with the people he used to hang out with in the early days. His old friends used to be Salvador Dali, Fred Astaire, Groucho Marx and Pierre Cardin – all people with bizarre and unusual methods of seeing and expressing their lives (what about John Noakes?)

THIS IS AMERICA…

A subject that keeps cropping up in Alice Cooper songs and shows is his subtle relationship with America, with the dream of a nation that thinks it is God’s gift to the earth and mankind. What does America really mean to Alice and Vincent?

„I like America because it’s extreme, like Alice – the all-American child. America is in love with itself, in love with the thought that it’s the ‚missionary saviour of the world‘. That’s why America is always getting involved with other countries‘ affairs without asking first. America can’t even imagine that some people and some countries would be far happier if they didn’t have America’s involvement to cope with.

„Everyone in America is manipulative, and is manipulated every day and every hour. Americans know that they are easy to manipulate but they don’t care, and if it comes to the crunch they can always say ‚No‘, and they do. That’s what happened with Vietnam and ‚Watergate‘.

„America is completely egocentric, the country and its inhabitants. Each individual puts himself first. At the same time, there is an enormous amount of brutality and nastiness in this country, as well as innocence and humour – it’s a mixture that works well and has strange results.

„On top of all this, America is the centre of the world as far as entertainment goes. Entertainment defines life in America more than anywhere else in the world; it determines the whole of American reality America is extreme, and that’s why I love it. It’s as extreme as Alice…“

There’s no doubt that America is extreme – so extreme that bad actors can become Presidents and good rock musicians can become governors. Governors???

THAT’S RIGHT On the 24th of February, the day of the concert in San Diego, Alice gave an interview to a radio station during the course of which he was asked to make a statement on the political situation in his home State of Arizona. I’ll explain the situation briefly: The governor of Arizona, a Mr. Meecham, has been receiving a lot bad publicity recently because of his strange attitude towards boosting his own income. As his closest advisor and colleague is being sought after on murder charges in some states, this doesn’t make the situation any easier for the Governor, who at the moment has to answer to the US Senate, and the way things are looking will have to resign shortly.

The shrewd radio reporter had discovered a connection between Alice and Meecharn. By pure chance, Alice had bought his first car off the not-yet Governor but already secondhand car dealer Meecham, all of this taking place many years ago. However, because Alice lives in Phoenix, the capital of Arizona, the radio reporter added two and two together and got five, asking Alice for his opinion on Meecham and politics in general. Alice knew nothing about the connection, but added his views all the same:

„It never ceases to amaze me how these men are whitewashed as soon as they’re in the public eye, but it wouldn’t be the same with me. Everyone knows that I’m dirty old Alice from the start. If I became Governor, the people would know what I’m like right from the beginning, which would make a change.“

And that was that… or was it? Not for the radio man, it seems. The broadcast later on was short and simple: ‚Alice Cooper is standing for election as the Governor of Arizona!‘ Of course Alice hadn’t said this but no-one seemed to care…

The next day it was on everybody’s lips. During the flight from LA to the gambling paradise and American entertainment dream of Las Vegas, Alice and Toby Mamis spent their time looking through piles of daily papers, all of them, big and small, the mass circulation ones and the regional LA publications. The news was in them all: ‚The new candidate for the Governor of Arizona‘. Apart from being in the dailies, the news was also on the American ABC TV channel, while the UPI news ageny shouted it out to the rest of the world.

When Alice arrived in Las Vegas there was chaos. Radio and television companies were waiting to interview him, press people who hadn’t seemed interested in his concert beforehand were buzzing around, and Alice was beginning to have major difficulties explaining that it was all a mistake to people who didn’t want to listen.

As soon as Alice landed in Las Vegas it all started to happen. When he entered the airport terminal, normal run-of-the-mill American citizens started congratulating him, wishing him all the best and letting him know that despite being a perverted monster he was just the man for the job of Governor of Arizona! A little old lady was heard to comment: „If a bad actor can become an average President, then a good rock musician has to be a better Governor! „

I guess the concert in Las Vegas could have been seen as the first step in Alice Cooper’s election campaign. I wanna be elected, indeed!

‚RAISE YOUR FIST AND YELL‘

‚Freedom‘, the first encore of the show, could become a protest song for the future Governor. Vincent Damon Furnier’s strange worlds seem nothing compared to the double standards of modern Americans.

„I’ve never left behind that phase of my development during which I hated bigoted authority and fought against it too. Even today, I’m not only suspicious of the system, but full of hatred towards it. And with that I mean everyone and everything that represents the system in any way whatsoever, including the security guards at the concerts. Of course, I know that they are there to protect me, but on the other hand it’s these guys who stand between me and my fans, they are a kind of police and they behave like police. ‚Freedom‘ is a song against all organised power, although I wrote it mainly as a protest about the PMRC. Alice was right at the top of their hit list. Alice is supposed to print all his lyrics on his sleeve and have them approved. Not that I mind printing my lyrics on the sleeve, but I don’t think I should have to. I wrote the song ‚Freedom‘ instead of a letter of complaint to let the PMRC and everyone they stand for know what I think about them.

„This group (the PMRC) mustn’t be taken too seriously. Really, they are just four old ladies in Washington who try and get as much publicity as possible for their husbands, who are all influential politicians. Since the main-man behind the PMRC, Albert Gore, has admitted himself that he used to smoke pot and listen to loud rock music when he was a kid (something which was discovered while he was working on the President’s election campaign) the movement won’t last long anyway.“

Who knows, when we see Alice Cooper play in Britain, supported by Chrome Molly, maybe we’ll be greeting the future Governer of Arizona…Vincent Damon Furnier.


C 1988 Edgar Klüsener

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Manchester hat keinen Bock mehr auf Morrissey

Aufgewachsen und groß geworden ist Morrissey in der englischen Metropole Manchester. Es gab Zeiten, da lag ihm die Stadt zu Füssen. Da war er noch der Sänger der Smiths und die leidvolle Stimme einer ganzen Generation englischer Kids, die in der Depression der Achtziger darbten und für die der Niedergang der alten industriellen Zentren des Nordwestens gleichbedeutend war mit Hoffnungslosigkeit und sozialer Kälte. Seitdem ist viel geschehen. The Smiths haben sich in bitterem Streit selbst zerlegt und Morrissey machte alleine weiter. Außerdem driftete er immer weiter in politische Grauzonen ab, wandte sich zunächst den Konservativen zu und befürwortete lauthals den Brexit, um dann wenig später die extreme Rechte der Insel innig zu umarmen und sich für deren Ziele auszusprechen. Irgendwann hatte schließlich auch seine Heimatstadt die Nase voll von ihm. Dieses zerfetzte Poster klebt an einer der Türen des Junction Hotels im Ortsteil Hulme, nur einige Straßenzüge entfernt von seinem alten Elternhaus.

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Dreh zum Abschied eine letzte runde – bye bye CD

Der kleine Silberling hat einst die Musikwelt revolutioniert und das lange Sterben des Vinylalbums und der Cassette eingeleitet. Nun teilt die Compact Disc das Schicksal des Vorgängers. Schon bald nach der ersten Einführung im Jahre 1982 hatte sich der von Philipps und Sony gemeinsam entwickelte digitale Tonträger eine Monopolstellung erworben, die unerschütterlich schien. Dann veröffentlichte  das Fraunhofer-Institut 1987 ein selbst ausgetüfteltes Verfahren zur Komprimierung und Kodierung von Musik, benannte es MP3 – und die nächste Revolution nahm Fahrt auf. Eine Revolution, die am Ende die Musikwelt von Grund auf umkrempelte, zur heutigen Dominanz der Streaming Dienste führte und so ganz nebenbei auch den langen Abschied der CD aus dem Massenmarkt einleitete. Bald wird sie, wie schon die Vinylscheibe und auch die Cassette nur noch ein Nischendasein führen, am Leben gehalten von einer kleinen Schar treuer Audophiler und Nostalgiker. Wie schlecht es mittlerweile um die CD bestellt ist, dokumentiert obige Statistik.

Quelle: Statista

 

 

 

 

 

 

 
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Why you can’t win an argument with a populist

In “The 7 Steps from Democracy to Dictatorship” Ece Temelkuran exemplifies the stifling efficiency of populist reasoning with a fictitious dialogue between Greek philosopher Aristotle and a populist. The debate starts with Socrates’ famous syllogism ‘All humans are mortal. Socrates is human. Therefore, Socrates is mortal.”

The dialogue demonstrates the simple but highly successful and extremely hard to counter strategy of populist (un)reasoning. The textbook may have originally been written by Joseph Goebbels, but the likes of Boris Johnson, Nigel Farage, Steve Bannon, Victor Orbán, Erdogan, Donald Trump, Gauweiler and their fellow populist travellers have since improved upon it, making brutally effective use of social media. Some core elements of populist arguments demonstrated in Temelkuran’s dialogue below include:

  • Claiming ownership of terminology (concepts, words, meaning)
  • Representing oneself as the REAL people and thus as in opposition to the corrupt elites and the establishment.
  • Painting the opposite as a member of these elites (even if they aren’t).
  • Ignoring the subject of the conversation and instead discussing something entirely different and irrelevant.
  • Attacking the person to discredit their arguments.
  • Demanding proof for scientific facts which are proven, thus implying that any existing proof is somewhat tainted.
  • Disregarding everything that does not conform to their own view of the world as fake and lies,  proposing ‘alternative’ facts.

Aristotle: All humans are mortal.

Populist: That is a totalitarian statement.

Aristotle: Do you not think that all humans are mortal?

Populist: Are you interrogating me? Just because we are not citizens like you, but people, we are ignorant, is that it? Maybe we are, but we know about real life.

Aristotle: That is irrelevant.

Populist: Of course it’s irrelevant to you. For years, you and your kind have ruled this place, saying the people are irrelevant.

Aristotle: Please answer my question.

Populist: The real people of this country think otherwise. Our response is something that cannot be found on any elite papyrus.

Aristotle: (Silence)

Populist: Prove it. Prove to me that all humans are mortal.

Aristotle: (Nervous Smile)

Populist: See! You can’t prove it. (Confident grin, a signature trait that will be exercised constantly to annoy Aristotle). That’s all right. What we understand from democracy is that all ideas can be represented in the public space, and they are respected equally. The gods say…

Aristotle: This is not an idea, it’s a fact. And we are talking about mortal humans.

Populist: If it were left up to you, you’d kill everybody to prove that all humans are mortal, just like your predecessors did…..

Temelkuran lets the argument continue further, the eventual outcome should be clear by now, though. Aristotle finds himself utterly defeated and highly confused by the apparent irrationality of his opponent who refuses to play by the accepted rules of rational and informed debate. As yet, all of us who still believe in the validity of research, of established facts, of objectivity and rationality find ourselves in the very same place as Aristotle when confronted with populist rhetoric, internet trolls, tweeting presidents or flat-earthers.

Ece Temelkuran’s analysis of the global rise of populism, populist communication strategies and their successes in constructing alternative realities is a masterpiece. Rarely was a book as urgent and necessary as ‘The 7 Steps from Democracy to Dictatorship.’

Edgar Klüsener

Temelkuran, E. (2019). How to lose a country: the seven steps from democracy to dictatorship. London: 4th Estate.

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Nirvana Interview-Transcript 1993

I have never actually published the entire interview, so here is an unedited transcript. I might one day edit it and translate it into German.

Present: Kurt Cobain, Dave Grohl, Krist Novoselic

The bonus track on the CD, Gallons of Rubbing Alcohol Flow Through the Strip, sounds very spontaneous, did you create that on the spot?

Krist: Which song is it?

Kurt: We just made that up on the spot, I just started playing the guitar part and then Krist and Dave started playing and then we, as we were recording and I just made up the lyrics

Krist: We recorded the song in Rio de Janeiro

Kurt: Oh yeah

Krist: At this tiny BMG B studio that hasn’t been used for like 60 years and they had this like Neve board and they blew the dust off it and we just plugged in and just started screwing around and we did that song and it was totally spontaneous you know, just one of those things.

Yeah it gives that feeling.

Kurt: It was free association.

What the hell does the title mean anyway?

Krist: In Utero is like I think an in vitro pregnancy.

Edgar: No I mean of that song.

Krist: Oh Gallons of Rubbing Alcohol? Will cleanse the strip?

Kurt: Well I guess it’s a contempt for the hairspray, Guns n Roses poisoned scene that was going on in LA two years ago

I have heard thay you recorded this on an 8 track machine. Is that true?

Krist: No that’s not true. It was a 24 track. It’s the same board that recorded Back in Black by AC/DC.

I have also heard that some of the songs had been remixed? Is that true and, if so, which ones were they?

Kurt: Two songs were remixed., Heart Shaped Box and All Apologies. Because the vocals weren’t loud enough and, er, I wanted to put some, er, harmony vocals in the background that I failed to do when we recorded at Steve’s, so we asked Scott Litt to come down and do it. It took about a day or two.

Has any one of you had a sort of musical education?

Various: No, no…

Krist: I don’t think any of us did.

Kurt: I had no concept of knowing how to be a musician at all, whatsoever, I mean I don’t know the names of chords to play, I don’t know how to do major and minor chords on a guitar at all. I mean I couldn’t even pass you know, Guitar 101, you know. Everyone knows more than I do.

Krist: I took accordion lessons when I was a little kid. I played the trombone I think when I was about eight.

Kurt: I was in a band and I played snare drum during Junior High at grade school and I never learned how to read music I just copied the other people who took the time to learn how to read, you know. It was just so simple, boom tap boom tap boom tap tap tap tap and I just copied them you know just to pass. I didn’t see any reason to – even at that age I didn’t see any reason to learn anything that someone else has written, you know, if you go by the text you’re pretty limited you know.

Kurt, do you consider yourself more of a songwriter or a guitar player?

Kurt: Oh, songwriter. I have no desire to become any better of a guitar player. I just don’t. I’m not into musicianship at allm, you know I don’t have any respect for it, you know, I just hate it, you know to learn how to read music or to understand arpeggios and Dorian modes and all that stuff, it’s just a waste of time, it’s just it just gets in the way of originality

Are there other writers who you could name as an influence?

Kurt: Um, well, yes mostly you know early to late 80s punk rock, you know, American punk rock, and late 70s English punk rock have a lot to do with stuff that I was into. I was just pretty much consumed with that, with that whole scene for so long that I you know I… I never really denied any of the other influences that I had before…Stuff like that, dinosaur rock.

What about novelists or poets?

Kurt: Ummmm… Probably Beckett’s my favorite. I like him a lot.

Sometimes when I read or listen to the lyrics it sounds to me as if you are sort of inspired by the Beat writers too, especially Burroughs.

Kurt: Yeah, yeah, the king, yeah! Actually I’m doing a record with him, a ten inch record.

You are doing one?

Kurt: Uh we, it’s already out, yeah. He did, er, a passage from a poem called, er, The Priest They Called Him and I played guitar in the background and made a bunch of noise.

How was working with Burroughs for you?

Kurt: Just um, I don’t know, I never met him. [laughs] I could have talked to him the other day, I was supposed to, there was a meeting set up for me, for him to call me because we wanted him to be in our next video because of the – mostly not because of our association with him or to exploit anything like that because, you know, maybe because, I don’t want anyone to think I want to have a relationship with William Burroughs because of like you know my past drug use or my, my respect of him. We mainly wanted him to be in our video because he’s an odd looking character, we wanted an older gentleman to be in our video and to do a few things, but we realized that the things that we wanted this older person to do, it was a bit degrading to have William Burroughs himself do it you know. We wanted a person to be on a cross and in a hospital bed and stuff like that and it was just too insulting to ask him, so I cancelled the call. I mean that was my chance of actually meeting him and we’ve exchanged a letter through fax and um we have respect for what each other does but I’ve never really had the opportunity… I mean other than that I haven’t bothered to meet him yet but I still want to.

On one or two songs you hear a cello or a some string … was that played live?

Kurt: Er, no, it was we had her come in after the basic tracks were down we had her play along with it.

This was the cello player you had in New York?

Kurt: (Interrupting) No this cello player was Steve Albini’s girlfriend at the time. It was just a really – it was just a matter of convenience, she had played cello and we needed one so she was there. She turned out great, she did a really good job.

Kurt, you are left handed, do you find it hard to get the right guitar?

Kurt: Usually yeah. It’s a bit easier now because I have an endorsement with Fender Guitars now so they are making me left handed Mustangs so it’s a lot easier. It used to be a total pain in the ass, I mean when we were on our first couple of tours you know I’d only have one guitar and it had to be cheap you know a 30 dollar guitar from a pawn shop and I’d end up breaking it after the show and then the next day was, was consumed with trying to find a pawn shop and the few dollars that we had to buy a guitar and that then we’d have to turn the strings around and try to intonate it ourselves and it just made for a really out of tune raunchy experience you know during those first few years.

Krist: It was a pain in the ass trying to find a guitar.

Kurt: Yeah it was like the biggest dilemma of the day.This one will work left handed, yeah, it’s cut — this part’s notched just a little bit you know.

Krist: It was a big hassle. In fact we even built a bunch of Mustangs one time. We bought some necks and took pieces of wood and cut out the bodies and put the necks on, and they were completely out of tune all the time and we did a pretty good job at it. We had this little assembly line in the garage and we hung them up and painted them and stuff yeah, huh huh.

In Utero, is getting more back towards Bleach and you said, like months ago, that you want to get rid of some of the fans who just came from the pop side. Do you think you will achieve that? Or is the name Nirvana already so big that the fans will buy everything, it doesn’t matter what it sounds like?

Krist: I don’t know. I don’t think so, because when we put out Incesticide it didn’t sell very well at all. It didn’t even sell, like, a few hundred thousand copies. You know.

Dave: We don’t, don’t wanna exclude anybody or anything you know.

Krist: No, we’re not as concerned with that as we used to be you know. It’s not…

Dave: I think I was being a little reactionary like going through the whole fame and fortune thing and just making statements like that you know.

Krist: There’s nothing you can do about it you know. You can put on a cabaret show and you know just make a total mockery out of your success or you just deal with it you know.

I guess, especially at the beginning, it must have been pretty hard to have to deal with that.

Krist: Yeah it was, because we were really concerned with losing the audience that was into us before, you know, we still wanted those people because, you know, I suppose we feel like we relate to them in a way you know? I mean those are the kind of people that we share common interests with and those are the people that we’re friends with you know, so, we were really worried about that. I don’t think we’ve lost very many of them so it doesn’t matter anymore. As long as they’re there, we can you know just forget about the idiots at the back so long as they don’t cause any trouble. That was another concern we had is that if we were to have this massively mainstream audience that we were going to come across a lot of problems in live shows with, with macho guys beating up on girls and you know starting fights and things like that. You know, the typical things that you see at a Van Halen show or something you know. We just didn’t want to have to, to deal with something like that.

Do you ever feel like you lose intensity at these big arenas or big places?

Kurt: Yeah. I don’t find myself having as much fun as I did when we played in clubs or theatres. Um. The biggest example of that is when we played in Europe and we played all these outdoor festivals. I had a terrible time. I hated it. Like Krist and Dave were like thirty feet away from me you know. It was like ‘Hi-ii!’ you know. It just didn’t seem right. So. We’re gonna make a few changes in our stage set up to alleviate some of those problems, you know. We’re gonna squeeze closer together, you know, on these big stages. And whether that fucks with the visuals for people out in the audience, oh well, you know, at least we’ll play better and enjoy ourselves.

Dave: We played in front of like a hundred thousand people down in Sao Paulo, Brazil, and I just saw the video from the back of the stadium and we were just like little ants on stage and I was just god, who was standing there? You know, and how do they feel about that?

Kurt: I don’t think our music translates in that kind of situation you know? Those people can’t appreciate the energy that is on stage at least because they’re so far away.

Krist: It’s almost understandable why a lot of lead singers in arena rock bands um have this kind of rapport with the audience where they’re going ‘Hey! How’s everybody doing? How are you at the back people?’ you know, and stuff like that ‘Are you feeling alright?’ because that’s pretty much all you can understand when someone’s saying something like that over a PA in front of a hundred thousand people, you know. It’s just, it’s hard for us to adapt to that because we just can’t do that, we can’t bring ourselves to be that ridiculous.

Dave: And there are live shows like you know you try to experience this thing with the audience, kind of reciprocate this feeling this energy and I don’t know how this translates from three people to a hundred thousand people, you know. It’s like mathematically uh pretty wild.

Krist: We need to get a horn section.

(Chorus of “Yeah” from the others)

Are you thinking of employing a second guitar player again for the oncoming tour?

Kurt: Yeah.

Will it be Big John?

Kurt: No. We’ve hired Pat Smear who’s from The Germs. It’s working out great.

Krist: He’s got good energy. So I think he’ll add that to the band live. If one of us is kinda slacking that night, I think we can count on him to keep the energy going, you know.

Kurt: He’s the back-up engine.

I guess it must make your job a lot easier too?

Kurt: Yeah. It does. It totally relieves me of a lot of unnecessary things that I have to think about.

Looking back, do you sometimes sort of regret the major success of Nevermind?

Krist: I don’t.

Dave: Not really.

Kurt: No, because for the most part, I’m pretty convinced that most people liked that record, so you know the more the merrier I mean the more people who can listen to your music and enjoy it, the better, you know.

Krist: If it was some big marketing scheme then I think I’d probably feel guilty about that.

(“Yeah” Trying to talk over each other)

Krist: If it was just like a contract thing…

Kurt: It was just like it happened organically more organically than anything has in a long time so you know, it’s flattering…

Especially in the beginning you sometimes had this feeling that even the record company was completely overwhelmed by it, they didn’t expect it.

Dave: They shifted like 40,000 copies and they like sold out in a day or two, then you couldn’t

Kurt: It’s nice to know that you can sell your music on the music alone you know. I mean the time that it took off, a lot of radio stations were playing it before we had a video, which is you know, that’s an uncommon thing in this day and age you know. So it’s not our pretty faces that are selling the records, it’s the music. I walk into the Fred Meyer department store down in Longview Washington, this tiny town, and I look and I go ‘Oh there’s Mudhoney, there’s Sebadoh, there’s Sonic Youth’ I go ‘This is really great, you know’. And before—

Krist: Just a couple of years ago that was impossible. Totally uncalled for.

Kurt: Yeah. And then kids down there are exposed to that. I think it’s really positive.

Nevermind’s success has obviously paved the way for a lot of other bands, too.

Kurt: Well what happened to us has kinda opened a lot of doors. I think we were in the right place at the right time for like a, you know, rock and roll, because all those old rock stars, all those poof-di-doo hairspray bands were just hanging on and doing the same thing, basically emulating Hanoi Rocks like over and over again and it stagnated, like the Soviet Economy, or something you know what I mean.

Krist: Yeah it got just as boring as grunge will within a year, you know.

Kurt: We did a photo shoot with someone for a cover of a magazine and he was telling us a story about how Bon Jovi came in and said, er, make me, he came in with like a flannel shirt on and he wanted, he said ‘make me look like Nirvana’ and er…

Krist: Wow. That’s pretty flattering.

Kurt: If Bon Jovi wants to look like us, you know, something’s wrong.

Krist: Well that just proves he’s a desperate, untalented piece of shit.

Do you have yourselves an explanation for your success?

Kurt: Explanation… It’s all in the cards. It’s a roll of the dice.

Krist: It’s a lot of luck (all talking at once) Being in the right place at the right time.

Kurt: I think the old dinosaurs were just like holding on for as long as possible and we had this really strong song and there were like no number one rock records, maybe like REM was number one. But Metallica came out with good stuff, but um…

Krist: Just, change has to happen you know, just part of the whole human experience is change, so.. I think that next we’re probably gonna be these old hacks and there’ll be this young, happening band going on and probably slagging us off or something for being dinosaurs and being defensive and we’ll be sort of established and…

Kurt: Makes me like this new band. (chuckles)

Krist: Yeah, yeah! And we would have like just totally consolidated our relationships with people in MTV, the music labels, different magazines…We’re gonna be like the establishment and hopefully someone will come by and…Kill us…

Krist: No, cause we’re so in, we’re so established…”Cover of Rolling Stone, when do you guys want it?” We’re just like totally, totally terrible, we’re hanging out with Arnold Schwarzenegger…

I guess that must be strange for you, suddenly being involved in real big business and also being on the receiving side of huge tax bills.

Kurt: I’m happy to fucking suffer for, you know, I’ll be glad to throw out more of the money that I’ve made if it’s going to be put in the right places, if it’s going to help the economy. I mean, everybody should suffer, you know? Everyone should start wearing sweaters and turning their heaters down and you know? I don’t mind, I didn’t mind standing in gas lines when I was a little kid during Carter, I mean I had to sit in the car and wait in line with my dad and he would just curse Carter all the time you know, “what a bastard”, you know, the convenience of America is ruined. Everybody wants to, you know, everybody has to swallow a little bit of bad medicine to make things better, so, fuck it.

Krist: They’re kicking Clinton around and you know it’s like you know – remember Nixon? And Iran-Contra, Reagan S&L scandals? No one ever brings that up, it’s like crazy.

Do you think as a band you have to try to move something in people’s mind to make them think you know, or at least get a message across?

Kurt: Well it’s not like a real conscious goal of ours, or something that we prepared to do, it just emulates the personalities that we have you know, we’ve always been conscious of political things as much as our you know mental capacity can hold and, and we…

Krist: We’ve just been aware of things and it just kinda surfaces and comes out, just because, that’s what happens I mean we don’t have like this angle like we’re in a political band or …

Kurt: We’ve always tried really hard to not put out too much of an image of being too politically conscious, so it gets in the way of the music cause you know, that’s more important

Krist: And I think too that in like this country that people are so apathetic and like they’re so unconscious in front of their TV sets and then somebody like us who has somewhat awareness, it makes us look like we’re really aware and we’re not, I mean. You know what I mean? This is just things we’re concerned about and we just talk about you know. Just cause we talk about them at home or we talk about it with friends and just having a talk about things in interviews you know…

Have you ever experienced that groups that are like political lobbyists or other social groups try to instrumentalize you, your success, for their causes?

Kurt: No, I wouldn’t say they’ve used us. We’ve had a few offers from some political organizations like the Fair Organization who’ve been working for years to expose a lot of injustices and try to um promote real truths in a lot of things that have happened politically you know. It’s like, an underground leftist organization that tries to expose the truths and you know and they’re totally massed over by USA Today and magazines like that, you know, right-wing-on magazines that, a lot of time, the truth and the details of the story aren’t ever reported, and that’s what this organization does. They came to us and of course we’re going to want to do something with them to help them out. But I wouldn’t say anyone’s trying to take advantage of us in that way at all.

Krist: Fairness is an acronym for like fairness and accuracy in reporting. I think I’ve been really conscious of what’s been going on in the media with being part of the media you know and then I just look at the way you know the press responds and it’s like you know being all over the press. It’s really interesting, there are a lot of bozos out there who form public opinion and you know people don’t think for themselves so they have a big responsibility and they’re basically just exploiting it and er, this just it’s into like truth, reality you know.Just like these bad demagogues, demagoguery politicians manipulating people and spreading their lies for their own personal gain you know. Former ex-Communists or ex-Communists or like former ex-Communists. Help people out you know, not just putting band aids on the situation. Totally dispose of the regimes over there you know but there’s not going to be any change, you know, they don’t even recognize the Serbian opposition, the guy’s languishing in prison, they beat the hell out of him, they don’t even help the guy out you know. There were elections in Serbia like there was a lot of panic, it was a sham election, they didn’t do anything about it you know.

Anyway getting back — where were we? Rock and roll…

After all your experience with media all over the world, do you still believe what you read?

(Various — “Never. Never.”)

Kurt: I never did before but I don’t believe even more now. I know that I don’t even have the right – it’s the only thing I’ve learned, I don’t have the right to make an opinion on anything that I read or see you know on television until I go to the fucking source myself personally. My attitude has changed so much in the last couple of years, mainly because of the crap that’s been written about us that I don’t know, I don’t even find myself having many opinions on like bands anymore or putting them down or, or, going out of my way to like, to have any kind of expression about them at all because I, I don’t know these people you know. Bon Jovi could be one of the nicest people in the world, their music sucks but like, you know, I don’t even want to bother with even expressing those kind of opinions I just don’t wanna because I know that there are people you know, probably in this town right now, talking about us you know. So I heard that you know Krist Novoselic, you know, blah blah blah…

Dave: With his dog…

Kurt: With his grandmother’s dog. And it has AIDS.

Krist: Which is not true by the way.

Does that sometimes affect your private life too, I mean, your friends or your family are reading these stories about you?

Krist: Mmm hmm. Yeah. It’s weird to talk with your, your wife’s great grandparents and they bring up something like that you’re just like man that’s not true at all and you have to explain to them how people have different agendas, each writer has their own perspective and maybe the magazine editor has an agenda you know what I mean and you’re just you’re at their mercy basically so all you can do is be as happy as possible and put on a happy face to roll with the punches.

There are certain magazines where I thought okay whatever they’ve printed is at least like well researched, like Newsweek in America. I found it quite disturbing that even they made up stories

Krist: I was surprised about Newsweek. I thought they were of a different caliber you know.

Kurt: I’m not surprised at all. No magazine has any ethics at all. There isn’t any magazine…

Krist: (Interrupts) Mainstream magazine

Kurt: Yeah, mainstream magazine that would ever um ever you know stop a good story you know. They wanna sell magazines. They’re in the entertainment business. [

Krist: “Yeah, that’s a good point..

Kurt:And they use, they use politics as some kind of fucking fake tool to sell their magazines

Krist: Right, right.

But Newsweek are the sort of magazine who have to lose a real reputation as well

Krist: I think we’re going to have to get Dave in, David Gergen

Kurt: No, there is no one that is challenging these magazines though, there are no protection laws against you know false things that are written about celebrities. Libel suits are a complete farce, you know, basically a libel suit is just a challenge between two people that have a lot of money and you know whoever has the most money will win you know and if you go up against Conde Nast or some major corporation that you know runs a whole bunch of magazines and owns this one magazine that wrote shit about you, they’ll just filibuster for years and you’ll spend hundreds of thousands of dollars in challenging them and you’ll end up losing so there’s really, you can’t even get to that first stage of even filing for a libel law, a libel suit – it’s just, it’s a waste of time

It’s pretty wild like all the relationships between people and the bands and the labels and between magazines and all that stuff you know you’ve got so much like, Bill Clinton had a bad time so he hired David Gergen who started throwing parties for the press corps and started smoothing people over because he had relationships and whaddya know, we have news coming out [inaudible] for Clinton and it’s it’s manufactured perception it’s like it’s not real, it’s all just a charade you know and the bottom line is Stoli vodka ads on the back page, you know, they just get that money and you know everything in between is just not that important … television, cinema… So we’re gonna start our own magazine. It’s gonna be called the Nervewracker.

Full of character assassinations left and right, we’re gonna schmooze with all the people. Whoever greases our palm the most is getting a full cover story, you know what I mean? Step one, take the guys out for dinner – I’ll have lobster thank you. Step two

(Interruption – get me in the show for free)

Yeah, get me in the show for free. Step three, uh I’ve got this niece, she needs a new, I wanna get her a Mustang … car – Done. You’re on the cover of Nervewracker. Unscrupulous magazine – go ahead.

How seriously do you take all these clichés and standards of the business and the roles people play?

Kurt: Uh. Well I just think of like the wrestling industry like WWF World Whatever Federation Wrestling where there’s like Hulk Hogan and all those Roddy, Roddy Piper and … can you imagine all the politics going on in there you know – he’s gonna win this match but see, he has to lose this match and well they’re gonna be on this TV show and it’s like wow, all the drama and all the egos, personalities World Federation Wrestling, it’s like – get me out of here

Kurt: I recommend playing In Utero backwards, and that’s – ooh I let it slip, oh I shouldn’t have said that. There’s all kinds of Kurt is dead stuff, you know, but, it’s total devil worship… of the worst kind … altars, virgins…

Krist: Those white trash mothers are gonna sue us after they beat their children for a few years and then they kill themselves and blame it on us

Kurt: That’s right. And then blow their faces off. I gave them like a good Christian upbringing

(Interruption — “Don’t, man…”)

Kurt: And what happened?

Krist: I tanned his ass every day, he should have turned out just fine, if it weren’t for that record

(Laughter — tanned his ass)

No kid’s committed suicide yet listening to a Nirvana song.

Krist: Let’s hope. Let’s hope.

Kurt: They’re committing social suicide.

Moral Panics or is there something more sinister in American culture?

Krist: Well. This is I dunno, there’s a lot of symptoms out there like I don’t know, kids killing themselves or people walking into MacDonald’s and blowing people away.

Kurt: They’re always killing people who don’t deserve it though, you know what, I mean if you’re going to kill a bunch of people why not assassinate someone who deserves it, you know?

Krist: But they don’t, they don’t show that as like a symptom. They just say that’s a problem. “Random act of violence!” But maybe that’s a symptom, of what kind of a country you live in and people’s values, you see what I mean? I say they’re all just FUCKED! I’ll answer that question by first off saying that everybody’s FUCKED. If you ask me. And then why don’t we take it from there? We’re all fucked. Alright, well, we’ve established something. Some kind of criteria. Like a base to where to go on to. Maybe we’re all…

Kurt: And how are they fucked?

Krist: How are they fucked? Well, I don’t wanna think about that because that just involves effort.

Kurt: Because then if I just waste my time thinking about it and we create some kind of dialogue about it for a while then we’ll just come back to the conclusion that everybody’s fucked.

Krist: Everybody’s fucked, you know, so you just have to take up smoking and you know live a leisurely lifestyle and you know bomb some third world countries, walk into MacDonald’s and shopping malls with automatic weapons readily available and…

Kurt: Hey if life gets too tough just buy an AK47 and walk into MacDonald’s. You’ll feel better.

Krist: Yeah. Cause you hate Mondays.

How is Francis Farmer gonna have her revenge on Seattle?

Krist: What, what about it?

Kurt: Uh you should read Dreamland by this PI reporter who wrote this book about her, it’s really good. She was an actress, she was kind of a foul mouthed person and she, and she hated the whole Hollywood scene and she expressed her hatred for them publicly and so. And she also when she was like, I think she was 15, she entered this essay contest when she was living here in Seattle entitled God is Dead and a lot of people accused her of being a Communist. And then she went to New York and was a part of this acting troupe and it supposedly had Communist ties too. So then there’s this big conspiracy amongst this judge, a very well-known prominent judge here in Seattle and a bunch of other people who had ties with Hollywood and they basically just set her up and ruined her life you know. They had some pictures taken of her when she was arrested for drunk driving. I just was a big huge scandal. And she eventually was sent to a mental institution and given a lobotomy and raped every day for years and just totally abused and ended up like working at a at a, um, Four Seasons restaurant alone and dying by herself.

Krist: It was Cambridge Island. That’s where she was institutionalized. Right over there. It was this old broken down infirmary there.

Kurt: For years every night there would be lines of custodians, friends and um people, you know, part of the staff who would wait in line to rape her every day you know, she went through a lot of shit. And it just disgusts me, you know, to know that there, some of the people there were part of that conspiracy, were living here in Seattle in their comfortable cushy little homes and their families you know. This is twenty, you know, this is forty years after the fact and it’s, just, you know, makes me want to kill them

Krist: It’s a just God not a fair one, you know, that’s what the Christians say. “God! Why was there Auschwitz?” “Well, I’m a just God not a fair one.” “Oh, okay.” You know?

Touring must have changed quite a lot for you, too, suddenly being confronted with this giant machinery when you play big venues and you don’t have a lot of people and equipment and the real organization required…

Kurt: Yeah we used to drive around just three guys in a van..

Krist: But you know for, compared to a lot of other bands that are on our scale, like we only have like a handful of roadies and a tour manager and a helper, for him, you know, it’s like a lot of bands that are bigger than us or as big as us you know have like 50 people on the road with them, it’s this big confusing stupid thing that happens. We’re still really down to earth in that area and we may suffer for it a lot of times because we don’t get things done but oh well…

Kurt: We save a lot of money. (Laughter)

Krist: It’s just funnier and simpler that way

Kurt, having a family, did that change your attitudes towards the music-circus at all?

Kurt: Mmmm, not towards music.

But towards the lifestyles associated with it?

Kurt: Mmmm it doesn’t seem that much more optimistic, I mean I totally, I like having a family it’s fun it’s great, but you know I’m so angry about a lot of other things you know, in life, so it doesn’t really, you know, stop me from being angry in music. It hasn’t changed us very much.

— End —

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Pink Floyd – The Wall-Tour 2011

Die Mauer bröckelt…

The Division Bell sollte das bislang letzte Studioalbum bleiben. Erst 2014 meldete sich die Band mitEndless River zurück. Die Musiker gingen nach wie vor ihre eigenen Wege. Die Mauer zwischen Rogers und dem Rest der Band allerdings, die lange unüberwindlich schien, hatte bereits in den Neunzigern wieder zu bröckeln begonnen. Die Anwälte hatten sich ihre Ferraris verdient, die Rechtslage war zufriedenstellend ungeklärt, friedliche Koexistenz war der Status Quo, auf den alles hinsteuerte. Auch wenn Roger Waters angeblich eine Einladung Gilmours ausschlug, zur Band auf deren Abschlusskonzert in London auf die Bühne zu kommen, man sprach jedenfalls wieder. Nicht immer in höchsten Tönen übereinander, aber zumindest miteinander.

Und dann standen sie plötzlich tatsächlich doch wieder zusammen auf der Bühne. Das war am 2. Juli 2005, auf Bob Geldofs Neuauflage des legendären Live Aid-Festivals, das diesmal unter dem Titel Live 8 über die Bühne ging. Vorausgegangen war das übliche Tauziehen. Geldof hatte zunächst David Gilmour kontaktiert, ob der sich einen Auftritt von Pink Floyd auf dem Festival vorstellen können, war jedoch von dem abschlägig beschieden worden. Nun ist Geldof keiner, der eine Absage einfach so auf sich beruhen lässt. Ganz im Gegenteil, er fasste sie als Herausforderung auf und begann nun erst recht zu bohren, zerren und ziehen. Durch seine Rolle in der Verfilmung von „The Wall“ hatte er die Band sehr intim kennengelernt und wusste genau, wer wo wie zu packen war. Zunächst jedoch schien er auf Granit zu beißen. Pink Floyd gab es eigentlich nur noch auf dem Papier, und Gilmour war bis über beide Ohren in seinem Soloprojekt vertieft. Er wollte nicht nur nicht, er konnte auch nicht. So sah er es zumindest, und so machte er es Geldof klar. Der war freilich anderer Meinung. Und rief als nächsten Rick Mason an. Doch der sagte ebenfalls Nein. Dachte dann aber noch einmal in Ruhe darüber nach – und schickte Roger Waters eine Email. Das Verhältnis zwischen den beiden hatte sich inzwischen weitgehend normalisiert und war durchaus wieder freundschaftlich. Waters mailte umgehend zurück und wollte wissen, was genau Geldof denn mit diesem Festival vorhabe. So ganz genau konnte Mason die Frage auch nicht beantworten. Also rief Waters kurzerhand bei Bob Geldof an und verlangte weitere Infos. Was er hörte, gefiel ihm, zumal die politische Ausrichtung und das Anliegen des Festivals sehr wohl mit Waters‘ eigenen politischen Standpunkten korrespondierte und daher unbedingt unterstützenswert erschien. Er äußerte also vorsichtige Bereitschaft, in irgendeiner Form mitzuwirken. Erst zwei Wochen später allerdings wurde ihm mit einem Mal wirklich bewusst, dass es bis zum Festival nur noch ein Monat war. Dass die Zeit drängte, war in dieser Situation eine wahre Untertreibung. Rogers rief Gilmour an. Der zögerte noch einen Moment, vor allem, weil er befürchtete, dass seine Stimme und sein Gitarrenspiel mit der Zeit ein bisschen eingerostet sein könnte. Doch Waters redete ihm die Bedenken schnell aus, und nicht einmal 24 Stunden später war die Pink Floyd- Reunion beschlossene Sache.

Das Medienecho, vor allem in Großbritannien, war gigantisch. Gigantisch war auch Pink Floyds Auftritt. „Comfortably Numb“ war einer der ganz großen magischen Momente des Festivals, und die Live 8-Version ist die wahrscheinlich beste Live-Version dieses Pink Floyd-Klassikers.

… und wird einmal mehr aufgerichtet

Der Auftritt auf dem Live 8- Festival war allerdings nicht der Beginn einer neuen Phase in der Geschichte von Pink Floyd, sondern ein einmaliges Ereignis. Anschließend versank die Band, mit und ohne Waters, wieder in den Dornröschenschlaf. Der wurde nur von zwei Todesnachrichten unterbrochen. Am 7. Juli 2006 verstarb Syd Barrett im Alter von 60 Jahren in seinem Haus in Cambridgeshire. Zu seiner Beerdigung traten sowohl Waters als auch Pink Floyd auf.

Am 15. September 2008 verstarb Rick Wright im Alter von 65 Jahren an Krebs. In einer Erklärung würdigte ihn die Band, Waters eingeschlossen, als einen Kollegen, der einen enorm wichtigen künstlerischen Beitrag zur Musik von Pink Floyd geleistet habe.


Danach wurde es nach außen erneut sehr ruhig um die überlebenden Mitglieder von Pink Floyd. Dass hinter den Kulissen neue Pläne geschmiedet wurden, konnte man allerdings zwischenzeitlichen Interviews von Gilmour und Waters entnehmen, die beide eine Pink Floyd- Reunion nicht mehr kategorisch ausschlossen. Doch zu der sollte es nie kommen. Immerhin jedoch standen die überlebenden Bandmitglieder am 10. Jui 2010 noch einmal gemeinsam auf der Bühne, aber das war im Rahmen eines Wohltätigkeitskonzertes in kleinstem Rahmen in der Kiddington Hall im englischen Oxfordshire und vor gerade mal 200 Zuschauern. Im Anschluss an das Konzert versprach David Gilmour noch, dass er während der anstehenden dritten „The Wall“-Tour für ein Konzert auf die Bühne kommen und gemeinsam mit Waters „Comfortably Numb“ spielen werde.

Roger Waters Vorbereitungen zur Drittauflage von „The Wall“ liefen da bereits auf Hochtouren. War die originale Wall-Tour auf gerade mal vier Städte, drei Länder und zwei Kontinente beschränkt gewesen (Los Angeles, New York, London und Dortmund), und die Zweitauflage gar nur auf Berlin, sollte die dritte Auflage des Bühnenklassikers zwei Jahre lang endlich um die ganze Welt reisen.

Aber warum gerade jetzt, warum überhaupt noch einmal dieses gewaltige Unternehmen? Und war das thematische Konzept von „The Wall“ nach 30 Jahren nicht allmählich völlig veraltet?

Nicht für Waters, dem es mit „The Wall“ einmal mehr nicht um eine bombastische Rockveranstaltung, sondern um eine Reihe von glasklaren politischen Statements ging. Die falsch-spielerische Leichtigkeit, mit der westliche – und hier vor allem britische und amerikanische – Regierungen nach wie vor ihre Jugend von Jugoslawien über Afghanistan bis zu Irak und schließlich Libyen – in Kriegen verheizen, für die die vorgeschobenen ethischen und moralischen Gründe nur Feigenblätter für handfeste machtpolitische und ökonomische Interessen der jeweiligen Eliten sind, widere ihn an, erklärte der mit den Jahren nur noch radikaler gewordene Pazifist wieder und wieder in Interviews. „The Wall“ sei seine künstlerische Auseinandersetzung mit einer Wirklichkeit, die Mauern und Barrieren aufbaue zwischen Künstler und Publikum, Individuum und Gesellschaft, Gesellschaft und Staat; eine Mauer, die Kommunikation verzerrt und unmöglich macht.

Waters ist ein Überzeugungstäter, und The Wall ist sein Manifest, sein Opus Magnus, ein Testament, das mit Herzblut geschrieben ist.

Die Tour begann am 15. September 2010 mit drei Aufführungen im kanadischen Toronto und zog dann weiter nach Chicago und von dort kreuz und quer durch die USA, Kanada und Mexiko. Am 21. Dezember 2010 endete der nordamerikanische Teil der Tournee in Mexiko City. Der erste Teil des Reiseunternehmens war ein gigantischer Erfolg. Die Kritiker überschlugen sich in höchsten Lobeshymnen, und die Kassen klingelten süß in den weitgehend ausverkauften Stadien und Arenen. Die Einnahmen wurden allerdings auch bitter benötigt, denn die Produktionskosten für die gewaltige Show, die von der Bühnenpräsentation und vom technischen Aufwand her die beiden früheren „The Wall“-Inszenierungen locker in den Schatten stellt, belaufen sich auf rund 37 Millionen britische Pfund (42,7 Millionen €). Die anschließende Winterpause währte bis zum 21. März 2011. Pünktlich zum Frühlingsanfang startete der europäische Teil der Tournee mit zwei Shows in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon. Danach ging’s hin und her durch Europa. Madrid, Barcelona, Lodz, Berlin, Arnheim, Budapest, Zürich, Prag, St. Petersburg, Manchester und Mailand sind nur einige der Stationen.

Unbestreitbarer Höhepunkt der gesamten Tour allerdings war der 12. Mai 2010. In der Londoner O2-Arena war die Mauer zu voller Höhe aufgebaut und lag in völligem Dunkel. Ein einziger Scheinwerfer erfasste Roger Waters, der vor der Mauer stand, Mikrofon in der Hand, und die erste Zeile von „Comfortably Numb“ intonierte. „Hello, is there anybody out there? Hello? Hello?“ Beim zweiten „Hello“ tauchten weitere Scheinwerfer die Wand hinter ihm in gleißendes Licht und die Musik setzte ein. Waters sang weiter, bis zu „Relax, Relax“, dann fiel eine zweite Stimme ein. Ein weiterer Scheinwerfer erleuchtete eine Gestalt ganz oben am Rand der Mauer: David Gilmour, der nun den Part von Waters übernahm, weitersang und zugleich die Gitarre spielte.“

Die Wiedervereinigung der beiden Streithähne in größtmöglichem Rahmen war spektakulär, anrührend und durch und durch emotional. Noch emotionaler allerdings der Schluss des Konzertes, als Nick Mason zu den beiden stieß und sich Waters, Gilmour und Mason für einen Moment in den Armen lagen. Die O2- Arena stand Kopf. Wie auch die Kritiker am nächsten Morgen. Alle Hoffnungen auf eine Reunion seien allerdings weiterhin vergeblich, erklärten separat voneinander Waters, Mason und Gilmour in den folgenden Tagen immer wieder. Es gäbe einfach keinen Grund für eine solche. Jeder von den dreien betonte, dass gelegentliche gemeinsame Konzerte zu sehr besonderen Anlässen durchaus vorstellbar seien, Mehr aber auch nicht.

Edgar Klüsener

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Pink Floyd: Solo für Roger

„Keine Fragen zu Pink Floyd! Keine Fragen zu David Gilmour!“ Die Anweisungen an die Teilnehmer der Presse-Konferenz waren strikt, Ausschluss aus der Runde der geladenen Journalisten die vorgesehene Höchststrafe für Zuwiderhandelnde. Gestellt wurden die Fragen natürlich trotzdem, beantwortet allerdings nicht. Des Raumes verwiesen wurde niemand. Roger Waters wollte nicht nur nicht über das Zerwürfnis mit David Gilmour, Rick Wright und Nick Mason reden, er durfte auch nicht, denn in diesem Jahr 1989 war das Verhältnis zwischen Waters und seinen ehemaligen Kollegen immer noch mit „gespannt“ nur unzulänglich beschrieben und auf Anwälte und Gerichtsverfahren reduziert..

Roger Waters, By Christian Leonard Quale (Clq 16:17, 12 July 2006 (UTC)) (Own work) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html), CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/) or CC BY-SA 2.5-2.0-1.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5-2.0-1.0)], via Wikimedia Commons

1989 war Roger Waters längst als begnadeter Einzelkämpfer unterwegs, im Gepäck eins der größten Alben der Rockgeschichte, eng verbunden mit ebenso monumentaler wie sensationeller Bühnenshow. Als „The Wall“ 1980 und 1981 zum ersten Mal über die Bühnen von Los Angeles, New York, London und Dortmund ging, war das Unternehmen Pink Floyd endgültig zur Einmannschau geworden. Roger hatte das künstlerische und zunehmend auch das geschäftliche Sagen, der Rest durfte nur mitspielen, wenn er aufs Wort parierte. Zum endgültigen, und wohl unvermeidlichen, Bruch zwischen Waters und seinen langjährigen Weggefährten Gilmour und Mason – Wright hatte er schon 1978 vom Vollmitglied zum Mietmusiker degradiert und nach Ende der Wall-Tour endgültig aus der Band gekickt – kam es schließlich nach den Aufnahmen zu „Final Cut“.

„The Final Cut“ war ein reines Waters-Album. „Text und Musik von Roger Waters, gespielt von Pink Floyd“ (im Volltext: “The Final Cut – A requiem for the post war dream by Roger Waters, performed by Pink Floyd: Roger Waters, David Gilmour, Nick Mason“) stand auf dem Cover. Der Großteil des Materials bestand aus Tracks und Ideen, die ursprünglich für „The Wall“ vorgesehen gewesen waren, dann aber doch nicht berücksichtigt wurden. Das Album, aufgenommen in insgesamt acht Studios, darunter auch die beiden privaten von Waters und Gilmour, war vor allem die persönliche Aufarbeitung des Todes von Rogers Vater Eric Fletcher Waters, ein überzeugter Pazifist und Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen, im Zweiten Weltkrieg. Doch „The Final Cut“ war auch Rogers Abrechnung mit der Politik Margaret Thatchers, die nicht nur Großbritannien einer radikalen ökonomischen Rosskur unterzog, sondern das Land außerdem in einen von nationalistischem Pathos getragenen sinnlosen Krieg mit Argentinien um die Falkland-Inseln getrieben hatte. Der überbordende und unverhohlen rassistische Nationalismus jener Tage stieß nicht nur Waters übel auf, sondern auch den anderen Bandmitgliedern, wie sich Schlagzeuger Nick Mason in seiner Autobiographie erinnert.

Grundsätzlich hatten Pink Floyd bis dahin immer eine Politik verfolgt, die sich in etwa so beschreiben lässt: „Wer die Hauptarbeit an einem Album geleistet hat, der hat auch das Sagen.“ Bei den Aufnahmen von „The Final Cut“ führte Roger Waters diese Politik allerdings bis ins Extrem. Weder David Gilmour noch Nick Mason wurden in irgendeiner Phase in das Projekt involviert. David Gilmour hatte Waters gebeten, den Release des Albums hinauszuzögern, damit er eigene Beiträge schreiben konnte, aber der hatte das Ansinnen strikt abgelehnt. Entsprechend schlecht war die Stimmung im Studio. David konnte immerhin noch einen Gesangspart beisteuern, für Nick Mason blieb außer viel Freizeit und einem Nebenjob als Klangsammler für das experimentelle Holophonic System kaum weiteres übrig. An letzteren erinnert er sich durchaus amüsiert zurück: „Roger wollte die Geräusche von Kampfjets. Ich hatte einen guten Kontakt in den höheren Etagen der Luftwaffe, der mir Zutritt zu einer Tornadostaffel verschaffte, die auf dem Luftwaffenstützpunkt in Honington stationiert war… Bis zum heutigen Tag habe ich den Hauch eines schlechten Gewissens, dass ich die Hilfe von guten Freunden in der Royal Air Force ausgerechnet für eine Antikriegsplatte in Anspruch genommen hatte.“

Die rote Karte hatte Roger Waters nicht nur Rick Wright gezeigt, sondern auch dem alten Weggefährten Bob Ezrin, weil der sich vor Start der Wall-Tour gegenüber einem befreundeten Journalisten verplappert und streng geheime Details der anstehende Bühnenshow preisgegeben hatte. Die Story kam kurz vor Beginn der US-Tour in einem amerikanischen Magazin und beendete nicht nur schlagartig Bob Ezrins Freundschaft mit besagtem Journalisten, sondern auch sein Arbeits- und Kreativ-Verhältnis mit Pink Floyd. Zwei Jahre später war Roger Waters immer noch nicht bereit, auch nur eine Minute im selben Raum wie Bob Ezrin zu verbringen. Stattdessen half der Komponist und Produzent Michael Kamen aus. Weil Kamen zudem ein passabler Keyboarder ist, war damit zugleich die Lücke gefüllt, die Rick Wrights Rauswurf ins Bandgefüge gerissen hatte.

Verfrühte Todesanzeige

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Buchrezension: Ein nacherzähltes Leben

Walter Kohl

Out Demons Out: Ein Roman über die Edgar Broughton Band

Picus (Wien)

Ein Roman über eine Band, das klingt zunächst einmal nach Langeweile. Der Verdacht drängt sich auf, dass da vielleicht ein Musikjournalist sich seinem ausgewählten Thema mit der Schablonenhaftigkeit seines Metiers annähert, am Ende der Roman nichts weiter ist als eine aufgepeppte Biographie. Gleich die ersten Seiten von ‚Out Demons Out…‘ lassen den Anfangsverdacht jedoch schnell vergessen; bald findet sich der Leser gefangen in einer sprachgewaltigen Erzählung, die auf subtile Weise das Leben und das künstlerische Schaffen des realen Edgar Broughton mit der Lebensreise des fiktiven Autoren Charly verknüpft.

Romanheld Charly kommt aus der tiefsten oberösterreichischen Provinz, einem Dorf in der Nähe von Linz. Der Krieg ist da noch nicht lange vorbei, und die Schatten jenes tausendjährigen Reichs, das schon nach zwölf Jahren ein unrühmliches Ende gefunden hatte, lasten weiter über dem Dorf und seinen Menschen. In der drückenden und miefigen Enge ihrer Heimat stolpert der junge Charly Ende der Sechziger über die Musik der Edgar Broughton Band, und die stellt etwas mit ihm an. In der Musik der wilden Rockkapelle aus London schwingt vieles für ihn bis dahin buchstäblich Unerhörtes mit: eine Ahnung von Rebellion, von Aufstand gegen Konventionen und Zumutungen, von politischer Stellungnahme und von Ausbruch aus der Normalität. Edgar Broughtons Texte, mühsam mit dem Wörterbuch übersetzt und nach Bedeutungen durchforscht, inspirieren Charly und leiten ihn ein weites Stück heraus aus der provinziellen Beklemmung, in der er am Ende dann dennoch steckenbleibt.

Dass auch Edgar Broughton, der so selbstbewusste wie eigensinnige und konsequent unangepasste Proto-Punkrocker aus London, einst der provinziellen Enge der Kleinstadt Warwick in den englischen Midlands entfliehen musste, dass ihre Lebensgeschichten erstaunliche Parallelen aufweisen, wird Charly erst Jahrzehnte später richtig bewusst, als er ihn in England besucht und tage- und nächtelang mit ihm Geschichten und Erinnerungen austauscht.

Walter Kohl gelingt das Kunststück, die tiefschürfende und detaillierte Biografie Edgar Broughtons in eine Erzählung zu integrieren, in der nicht der Künstler die Hauptperson ist, sondern der österreichische Autor, der sich an seinem Idol abarbeitet und dabei letztendlich zu einem Verständnis seines eigenen Lebensweges gelangt und mit sich selbst Frieden schließen kann. Für mich schon jetzt ein Kandidat für das Buch des Jahres!

Edgar Klüsener

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Iran Musik Zeitgeschichten

Farzad Golpayegani – Ausnahmegitarrist aus Iran

Zum ersten Mal erweckte Farzad Golpayegani außerhalb der iranischen Hauptstadt Teheran Aufmerksamkeit, als er 2007 mit seiner Band, zu der damals noch der englische Drummer Eddie Wastnidge gehörte, auf dem Istanbuler Barisa-Festival aufspielte. Vor allem seine virtuose Gitarrenarbeit überzeugte schon damals die Zuhörer, eneso wie die oft avantgardistisch anmutende Verquickung iranischer Musik mit westlichen Heavy Metal- und Industrial-Elementen. Die Musik von Farzad Golpayeganis Band ließ sich kaum in gängige Schubladen pressen, zumal Golpayegani nie die Lust am Experiment und an der bewussten Überschreitung von Genregrenzen verlor. Seine ersten Alben veröffentlichte er an der staatlichen Zensur vorbei in der Islamischen Republik Iran und vertrieb sie digital übers Internet.

Weil die Arbeitsbedingungen für Rockmusiker in Iran sich unter der Präsidentschaft Ahmadinejads weiter verschlechterten – Auftritte waren unmöglich, legale Veröffentlichungswege für die Musik waren kaum vorhanden -, zog der Sohn eines bekannten iranischen Malers schließlich um nach Istanbul und von dort dann nach Los Angeles, wo er seitdem lebt und arbeitet. Unter seinem eigenen Namen hat er mittlerweile sieben Alben veröffentlicht, die die ganze Bandbreite seiner Musik dokumentieren. Er selbst  bezeichnet die als progressiven Metal und Fusion. Die Alben tragen keine Titel, sondern sind schlicht ‚One‘, ‚Two‘ und so fort benannt. ‚Seven‘ erschien vor einigen Wochen und dokumentiert einmal mehr die fantastischen technischen Fähigkeiten und das kompositorische Talent Golpayeganis, der in LA nach viel beachteten Auftritten im House of Blues viele Fans vor allen unter den dortigen Gitarristen gewonnen hat. Sein Markenzeichen ist übrigens eine speziell für ihn angefertigte siebensaitige Gitarre.

Golpayegani tritt zudem in die Fußstapfen seines Vaters, seine Gemälde haben längst Interesse von Sammlern und Galeristen auch außerhalb seiner kalifornischen Wahlheimat geweckt. Das Video ist eine Auskopplung aus deinem aktuellen Album ‚Seven‘.

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Aktuell Musik Reportagen

Ganz Pilton feiert Glastonbury

Zwischen Pop und Aromatherapie: Wie sich das britische Provinznest Glastonbury mit seiner Rolle als Pilgerstätte für Musikfans und Mystiker arrangiert hat.

Glastonbury Festival for Contemporary Performing Arts“ – der umständlich lange Name sagt es schon: Nicht nur Popmusik wird geboten, auch Theater, Dichterlesungen, Workshops, Pantomime und vieles mehr. Aber das ist kaum mehr als kulturelles Beiprogramm, im Vordergrund stehen natürlich die Superstars und Hitparaden-Eintagsfliegen der angloamerikanischen Popkultur. Wer eine Gitarre halten oder auch nur ein DJ-Deck bedienen kann, kennt auf der Insel eigentlich nur ein Ziel: Einmal Attraktion von Glastonbury sein. In diesem ersten Jahr nach dem Brexit-Referendum ist als erste Topp-Attraktion die Band Radiohead bereits bestätigt. Sie treffen vom 22. bis 26. Juni im ländlichen Südwesten Englands auf der Farm des Bauern Michael Eavis auf rund 150.000 Fans. Radiohead spielen bereits zum dritten Mal als Headliner auf dem wichtigsten Festival Großbritanniens.

Eavis‘ „Worthy Farm“ liegt allerdings gar nicht in Glastonbury, noch nicht einmal in der Nähe. Das Festivalgelände befindet sich rund zwölf Kilometer entfernt am Rande des Dorfes Pilton, zu dem es von Glastonbury aus nur eine Busverbindung (einmal pro Stunde tagsüber) gibt. Kein Wunder, dass seit fast drei Jahrzehnten fast Jahr für Jahr Tausende in Glastonbury hängen bleiben und es nie bis zum Festival schaffen. Wer zum Glastonbury-Festival via Glastonbury anreist, hat sowieso mit einiger Sicherheit was falsch gemacht, da Pilton von den Städten Bath oder Bristol aus wesentlich einfacher zu erreichen ist. Warum es dann trotzdem Glastonbury-Festival oder kurz „Glasto“ heißt? Bauer Eavis, Veranstalter und Erfinder des Open-Air-Events hatte seinerzeit geglaubt, dass „Glastonbury-Festival“ einfach besser klingt als „Pilton-Festival“. Außerdem ist die Gemeinde Glastonbury für die Lizenzvergabe zuständig – wenn auch nicht in jedem Jahr dazu bereit. 2001 war zum Beispiel so in Jahr, in dem Britanniens Popzirkus ohne „Glasto“ auskommen musste, weil die Behörden zu viel zu mäkeln hatten. 

The Temple of the Goddess (pic: Edgar Klüsener)

Es gibt freilich schlechtere Orte, in denen man stranden kann, als dieses Provinznest. Denn nichts anderes ist Glastonbury auf den ersten Blick, eine verschlafene englische Kleinstadt, eingebettet in eine überkultivierte bäuerliche Landschaft. Eine Hauptstraße, ein zentraler Platz mit Kriegsdenkmal und einigen Geschäften, eine Kirche – man fährt durch und ist schon wieder draußen, während man noch die Innenstadt sucht. Nichts Erwähnenswertes offenbart sich dem Durchreisenden, zumindest nicht auf den ersten Blick. Und doch gibt es Besonderheiten und Kuriositäten ohne Ende. Es ist ein warmer Herbsttag, das Glastonbury-Festival 2016 liegt schon einige Wochen zurück, und trotzdem sieht es so aus, als hätten viele Festivalbesucher schlicht vergessen, wieder abzureisen. Wie wohl in jedem Jahr, denn neben Teenagern im Neo-Hippie-Outfit flanieren auch alt gewordene Punks, das schütter gewordene Haar mühsam zum Stachel-Irokesen hochgeklebt, und Althippies, die schlohweiße Lockenpracht zum Pferdeschwanz gebündelt, die Hauptstraße entlang. Wo mögen nur die Einheimischen stecken, fragt sich der verwirrte Besucher, der bodenständige englische Landbevölkerung erwartet hatte. „In den umliegenden Dörfern„, erklärt die Kellnerin in einem der kleinen freundlichen Cafés, das gezielt damit wirbt, dass Raucher willkommen seien. Zumindest sie ist eine Einheimische, kommt aber nur zur Arbeit nach Glastonbury. Dass Glastonbury anders sein könnte als andere englische Kleinstädte, hatte schon die Zimmersuche vermuten lassen. Die Website des Kreises Glastonbury listet eine ganze Reihe von Pensionen, Bed & Breakfasts und Hotels auf, die fast alle mit unerwarteten Besonderheiten werben. Bei einigen ist die Aromatherapie im Übernachtungs-Preis inbegriffen, andere richten sich ausdrücklich nur an Vegetarier oder bieten spirituelle Erfahrungen – kaum eine Herberge beschränkt sich aufs simple Kerngeschäft, das traditionell aus einem gemachten Bett und einem ordentlichen Frühstück besteht.

klassisches Glastonbury B&B (pic: Edgar Klüsener)

Valerie Smith betreibt eine dieser Pensionen, die Old Bakery. Ein kleines Bed And Breakfast, am Rande des Ortskerns gelegen. Das Haus, erbaut im 19. Jahrhundert ist blitzsauber und denkmalgeschützt. Schuhe müssen im Eingangsbereich ausgezogen werden. Das Frühstück ist strikt vegetarisch, das Obst – frische Feigen inklusive – stammt aus dem eigenen Garten und ist selbstredend organisch angebaut. Die Badewanne ist von duftenden Teelichtern in verschiedenen Farben umgeben, damit die Vibrations auch bei der Entspannung in heißem Wasser noch stimmen. Frau Smith, eine freundliche, redegewandte Mittfünfzigerin, die weit jünger wirkt, ist natürlich keine Einheimische. Ursprünglich stamme sie aus Bristol, habe aber viele Jahre in Kalifornien gelebt. Ihre Pension verströmt dann auch ein bisschen spirituell angehauchtes Westküstenflair mit keltischem Einschlag. Nach Glastonbury sei sie wegen der einzigartigen Atmosphäre gekommen, sagt sie. Mit dem Popfestival hat sie jedoch nichts zu tun. Das ist ihr eher ein Ärgernis, weil das Städtchen alle Jahre wieder für zehn endlose Tage heillos übervölkert ist. Und weil mit den Popfans auch die unerwünschten Elemente nach Glastonbury kommen, die Straßenräuber, die besoffenen Schläger, die Drogendealer, die Eckenpinkler, Taschendiebe und Randalierer. Zehn Tage lang ist dann die sonst so heile Glastonbury-Welt in absoluter Unordnung.

Die öffentliche Ruhestörung nehmen die Einwohner dennoch erstaunlich gelassen: „Das sind halt die Begleiterscheinungen. Aber am Ende ist natürlich das Festival gut für die Wirtschaft Glastonburys. Schließlich bringt es Besucher in den Ort.“ Darüber sind sich Café-Kellnerin, Gastronomen und örtliche Buchhändler einig.

Glastonbury’s älteste Herberge, das Georg Hotel and Pilgrim’s Inn (pic: NotFromUtrecht)

Apropos Buchhändler: Glastonbury beherbergt in seinen engen Gassen mehr Buchhandlungen als so manche deutsche Großstadt. Und ausnahmslos alle haben überproportional große Abteilungen für esoterische Literatur, von der ein Großteil Glastonbury selbst gewidmet ist. Das kommt nicht von ungefähr, denn die Stadt ist auch das Zentrum des mythischen Avalon und außerdem Fokuspunkt für diverse heidnische Kulte. Druiden tummeln sich hier, Buddhisten, Pagans – Anhänger wieder belebter keltischer Religionen – und Anbeter der Erdgöttin Gaia, die mitten in der Innenstadt ihren eigenen Tempel hat. Für spirituelle Zirkel und alle möglichen anderen New-Age-Touristen ist Glastonbury ein heidnisches Mekka, in das sie zu Tausenden strömen. Busladungen voller Mystik-Pauschalreisender aus der Rheinpfalz machen Stadt und Umland unsicher, deutsche Heavy-Metal-Gruppen suchen am Grab von König Arthur (das sagt zumindest die Grabplatte, wer wirklich drin liegt, ist eher umstritten) Inspirationen fürs nächste Konzept-Album („Irgendwas mit Excalibur oder so“), und angehende Lehrerinnen aus dem sonnigen Kalifornien schnuppern schnell noch mal einen Hauch keltischer Mystik, bevor es dann in den Schulen von South Central endgültig tödlich ernst wird.

Glastonbury hat also nicht nur während des alljährlichen Popspektakels Hochkonjunktur. Und da so viele Besucher vergessen, wieder abzureisen, ist auch der lokale Immobilienmarkt seit Jahren auf dem Höhenflug. Häuser und Wohnungen werden zu Preisen gehandelt, die frappierend an jene in den besseren Londoner Wohnvierteln erinnern. Normalsterbliche Engländer können da nicht mehr mithalten. Kein Wunder, dass ein Teil der Ureinwohner längst abgewandert ist und die Innenstadt dem aus den Metropolen zugewanderten, besser betuchten Künstler- und Esoterikvolk überlassen hat.

Eine Aura der Unwirklichkeit liegt über der Stadt, die in einem Paralleluniversum zu existieren scheint, das ebenso weit von der umliegenden englischen Countryside entfernt ist wie vom hektischen Alltag der britischen Großstädte. Die Hippie-Mädchen jonglieren, ein alternder Punk spricht mit verdächtig deutschem Akzent, amerikanische Touristen spielen japanische Touristen und fotografieren alles und jeden, weil’s doch alles „so europäisch“ ist, „the history, you know“. In der alten Abbey sucht eine weitere Busladung deutscher Touristen das Grab vom König Arthur; nur der Gitarrist, der jeden Abend in einem der vegetarischen Restaurants aufspielt, träumt von Pilton. Weil da das Popfestival ist, für ihn das echte Glastonbury, und da will er auch mal auf der Bühne stehen. Wie jeder britische Musiker, der auf sich hält. Vielleicht wird’s ja in diesem Jahr was. Oder im nächsten, die Erdgöttin vom Tempel nebenan wird’s schon richten.

Ach ja, das Glastonbury-Popfestival 2017 ist übrigens seit Wochen restlos ausverkauft.

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Aktuell Meinung Nachrichten

Dringend gesucht: Eine Vision für Demokraten

Nun also Amerika, Donald Trump ist der neue Präsident. Die Welle des rechten Populismus, die Großbritannien bereits aus der EU geschwemmt hat, hat den Bau-Mogul und Reality-TV-Star ins Weiße Haus gespült. Ein pathologischer Lügner, ein Mann den frühere enge Mitarbeiter freimütig als Psychopath beschreiben, ein Narziss, menschenverachtender Rassist und Chauvinist wird der mächtigste Mann der Welt. Einer, der sich vor allem durch Unkenntnis und Unberechenbarkeit auszeichnet, wird zum Herrn über das militärische Arsenal einer Supermacht, sein Finger auf dem Atomknopf kann die Welt auslöschen. Ein Alptraum ist wahr geworden. Aber wie ist Donald Trump überhaupt möglich geworden? Wie ist Brexit möglich geworden? Wie Viktor Orban, Marine Le Pen oder Frauke Petry?

Was zu der Kernfrage führt: Wer wählt hier extrem, und warum? Die Demographie der Extremwähler gleicht sich verblüffend in Großbritannien, den USA und in den kontinentaleuropäischen Ländern. Es sind in der Regel die über 40jährigen weißen Männer, die mehr als der Rest der Gesamtbevölkerung ansprechbar sind für populistische Parolen und Hassrhetorik. Sie leben bevorzugt außerhalb der Metropolen, sind in der Regel (aber eben nicht immer!) weniger gebildet und empfinden sich als die eigentlichen Verlierer der Globalisierung. Es sind die Wutbürger, die subjektiv ihre Existenz gefährdet sehen, die sich allein gelassen glauben von der Politik und den Eliten. Sie fühlen sich ausgegrenzt und sind es tatsächlich auch häufig. „Die da oben hören uns ja doch nicht zu“ ist eine

Marine Le Pen (photo: Marie-Lan Nguyen)

immer wieder gehörte Klage. Sie sehen und erfahren die dramatische Ungleichheit in einer Welt, in der einige wenige immer reicher werden und die überwältigende Mehrheit immer ärmer. Sie sind wütend, und diese Wut schlägt um in Hass und in die Bereitschaft zur hemmungslosen und unreflektierten Gewalt. In ihrer Bedrängnis wollen sie nichts wissen von der unentrinnbaren Komplexität einer vernetzten Welt, sie wollen die einfachen Antworten, die einfachen Lösungen, so falsch und unmöglich auch beide sein mögen. Sie sind die Masse hinter Nigel Farage, Donald Trump, Marine Le Pen, Viktor Orban, Geert Wilders und wohl bald auch hinter Frauke Petry. Sie sind empfänglich für Lügen und leere Versprechungen, für die abstrusesten Verschwörungstheorien und die plattesten Parolen, solange sie nur das Gefühl haben, dass sie ernst genommen werden, dass sich da tatsächlich jemand für sie einsetzt.

Populisten von Trump über Farage bis zu Le Pen verstehen das. Sie verstehen auch, dass Botschaften und Parolen simpel, leicht verständlich und prägnant sein müssen, dass sie durch ständige Wiederholungen verstärkt und unwiderstehlich werden. Sie wissen außerdem, dass es nur wenige sein dürfen. Sie haben verstanden, dass sie den verunsicherten, verängstigten und sich bedroht fühlenden Wut-Bürgern zweierlei offerieren müssen: klar umrissene Feindbilder und eine Identifizierungsmöglichkeit, ein starkes ‚Wir‘-Gefühl. Wer sich dann noch als jemand präsentiert, der ohne Scheu vor Tabubrüchen ausspricht, was „man ja wohl noch sagen dürfen muss“ und sich damit als unerschrockener Kämpfer gegen die Meinungsdiktatur der liberalen Eliten aufführt, der dem Volk aus dem Herzen spricht, der hat schon fast gewonnen. Das wusste schon Joseph Goebbels, und geändert hat sich daran bis heute nichts. So predigen sie denn Hass, machen leere Versprechungen, basteln Feindbilder und verbreiten Lügen und Verschwörungstheorien. Sie sammeln die alten weißen Männer aus den Provinzen Europas und Amerikas hinter sich. Wenn sie dann eine Wahl gewinnen, wird das gern als Volkes Wille dargestellt. Auffallend allerdings ist, das sowohl im Vereinigten Königreich als jetzt auch in den USA die Mehrheiten für die Wutbürger trotz Mobilisation aller Kräfte, trotz massenhaften Marsches zu den Wahlurnen, am Ende denkbar knapp sind. Nach reiner Stimmenzahl hat Hillary Clinton die Wahl gewonnen, nur die Eigenheiten des amerikanischen Wahlsystem hben Trump dann doch auf den Präsidentstuhl gehievt. Nun ist die amerikanische Nation fast genau in der Mitte gespalten. Ähnlich in Großbritannien, wo zudem ein Ernüchterungseffekt dafür sorgt, dass inzwischen ein relevanter Prozentsatz von Leave-Votern (nach einigen Erhebungen bis zu sechs Prozent) angibt, sie würden sich heute anders entscheiden. Anders als die Marktschreier in Deutschland immer wieder verkünden, sind die Populisten nicht das Volk, nicht einmal die Mehrheit.

Die Medien haben ihren Anteil an der Welle von rechtem und völkischem Populismus, die derzeit die westlichen Demokratien überschwemmt. Die von ausländischen Eigentümern dominierte Gossenpresse des Vereinigten Königreichs, die mittlerweile offen zum notfalls gewaltsamen Kampf gegen die liberalen Eliten und zur Einschränkung oder gar Abschaffung der Demokratie aufruft. Die Daily Mail, The Sun und die anderen Boulevardblätter machen seit Jahrzehnten Stimmung gegen die EU, gegen die Eliten, gegen Ausländer und Einwanderer. Ihren Besitzern wie dem amerikanischen Mogul Murdoch allerdings geht es um ganz etwas anderes: Um Macht und Einfluss, um die Möglichkeit möglichst unbehelligt ihre Meinungsmonopole auszubauen und der Politik die Richtung vorzugeben. Eliten ist hier übrigens ein seltsamer Begriff, im Vokabular der wütenden weißen Männer beschreibt er letztlich alle, die nicht ihrer Meinung sind.

Dabei sind die traditionellen Boulevardmedien, die in den USA das Phänomen Trump überhaupt erst erschaffen haben, längst selbst in die Defensive geraten. Die Radikalisierung, der Aufmarsch der Wutbürger findet seit Jahren vornehmlich in den Echokammern des Internets statt, in den Facebook-Gruppen und Twitter-Kanälen, in denen hemmungslos und unkontrolliert gehetzt und schwadroniert werden kann, in denen Fakten keine Rolle mehr spielen und Lügen und Verschwörungstheorien sauber recherchierten Journalismus komplett ersetzt haben. Die vielbeschworene Gegenöffentlichkeit, die Demokratisierung des öffentlichen Raums, sieht völlig anders aus als progressive Medientheoretiker sie sich noch bis vor kurzem erhofft hatten. Die rechtsextreme Internationale hat das Mobilisierungs- und Organisierungs-Potenzial der sozialen Medien als erste richtig eingeschätzt und nutzt es mittlerweile virtuos.

Für die Verführer, für die Farages, Trumps und Orbans wird ihr Erfolg irgendwann zum Problem werden. Die Hoffnungen und Erwartungen, die sie geweckt haben, müssen erfüllt werden, der Druck der Massen, die sie hinter sich geschart haben, wird sie entweder immer weiter in die Radikalität treiben oder sie irgendwann den eigenen Kopf kosten. Diese Mechanik, von Hannah Arendt und Elias Canetti erforscht und beschrieben, war auch Joseph Goebbels schon bekannt, der nichts so sehr fürchtete wie den Moment an dem die Bewegung zum Stillstand kommen und sich dann gegen ihre Führer richten könnte.

Die andere Hälfte des Volkes, Liberale, Demokraten und Kosmopoliten, haben dem neuen Populismus in Europa und in den USA nichts entgegen zu setzen. Der Versuch, die Irrationalität der Wut, der Furcht und der Frustration der Wutbürger m

Frauke Petry (Olaf Kosinsky/Skillshare.eu)

it Fakten und Wahrheiten zu begegnen ist grandios gescheitert, in Großbritannien ebenso wie jetzt in den USA. Die Warnungen vor den Folgen falscher Wahlentscheidungen, die Drohung mit ökonomischer Misere, mit nationalem Ansehensverlust und mit Liebesentzug konnte nicht wirklich ernsthaft jene schrecken, die sich bereits an den Rand gedrängt und in ihrer Lebensart bedroht fühlten, sie schürten nur noch größeren Hass auf die echten und die imaginären liberalen Eliten. Dass die eigenen Anführer, hier der Börsenmakler Farage, da der milliardenschwere Großbürger Trump, selbst zu diesen Eliten gehören, wird dabei völlig ignoriert. Aus Wut, Hass, Rassimus, Angst und dem Erleben echter ökonomischer Misere ist eine krude Weltanschauung entstanden, die auf diffuse Art faschistisch ist, ethno-national und sozialistisch (deshalb UKIPS und Trumps große Erfolge in den Arbeitervierteln), und die von offen gewalttätigem Hass angetrieben wird.

 

All dem hat das liberale und demokratische Spektrum nichts entgegengesetzt. Es fehlt die Vision, der Gegenentwurf. Wenn überhaupt einmal positiv argumentiert wurde, dann in der Regel mit den angeblichen Vorzügen eben jenes Status Quo, den die Wutbürger und ihre Anführer so vehement ablehnen. Im nächsten Jahr sind Präsidentschaftsahlen in Frankreich, eine Präsidentin Marine Le Pen und damit die Machtübernahme der Front National ist mittlerweile sehr wohl möglich. Die Folgen für Europa wären dramatisch, die EU würde wohl auseinanderbrechen. Wahlen stehen auch in den Nierlanden an, wo Geert Wilders bereits auf dem Sprung ist. Ebenso wie in Deutschland Frauke Petry und die AfD. Es wird also höchste Zeit, eine positive Vision zu artikulieren und zu propagieren, die das demokratische, liberale Europa den Populisten wie den unentschiedenen Wahlbürgern als echtes Gegenmodell präsentieren kann. Es sollte eine inklusive Vision sein, eine positive, mitreißende, eine für die zu kämpfen und einzusetzen sich lohnt. Eine Vision auch, die sich knapp und prägnant verpacken lässt, die frisch ist und aufregend. Die Zeit drängt!

 Edgar Klüsener

Weiterverbreitung, Kommentare und vor allem Visionen ausdrücklich erwünscht

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Meinung Nachrichten

The 3 Million – EU-Bürger machen mobil in Brexitland

Grob geschätzt drei Millionen EU-Bürger leben derzeit im Vereinigten Königreich, drei Millionen, die seit dem Brexit-Referendum ihre Gegenwart, und noch viel mehr ihre Zukunft im Inselreich gefährdet sehen. Unter diesen finden sich nach einer Erhebung des britischen Office for National Statistics aus dem Jahr 2013 rund 135,000 Deutsche. Auch ich bin einer von diesen. Meine Frau dagegen ist Britin, die Kinder ebenfalls.

Egal ob Deutsche, Italiener, Holländer oder Rumänen in Britannien, wir sind alle Bürger der Europäischen Union, mit klar umrissenen Rechten und Pflichten, bisher in nahezu allen Belangen den Briten gleich gestellt. Lediglich von den Wahlen zum britischen Parlament sind wir ausgeschlossen. Ausgeschlossen waren wir außerdem von der Teilnahme an eben jenem Referendum am 23. Juni 2016, dessen Ausgang nun maßgeblichen Einfluss auf unser künftiges Schicksal im Vereinigten Königreich, auf die Zukunftsplanung von Einzelnen und von ganzen Familien hat. Einige mussten zu ihrem Entsetzen feststellen, dass selbst enge britische Freunde gegen einen Verbleib des Landes in der EU und gegen weitere Einwanderung von EU-Bürgern gestimmt hatten. „Ich habe ja nichts gegen dich persönlich, aber es gibt einfach zu viele von euch“, ist die höfliche Version von „Verzieh dich endlich!“

Europaflagge

Geschockt sind auch viele Briten, und nicht nur die 48 %, die für einen Verbleib des Landes in der EU gestimmt hatten, denn ihnen dämmert so langsam, dass mit dem Brexit der Verlust aller europäischen Bürgerrechte einhergeht. „European Citizenship“, bisher kaum mehr als ein vager Begriff für viele, wird plötzlich zu einem wertvollen Gut. Die Realisierung, dass mit dem Brexit die Reisefreiheit eingeschränkt wird, die Freiheit in anderen EU-Ländern zu leben und zu arbeiten, Familien zu gründen oder als Studenten den einheimischen Studierenden gleichgestellt zu sein, bereitet inzwischen selbst manchen von jenen Bauchschmerzen, die eigentlich für den Ausstieg aus der EU gestimmt haben. So überrascht es nicht, dass ein Run auf zweite Staatsbürgerschaften eingesetzt hat, der mit jedem Tag an Intensität gewinnt. Vor allem irische Pässe sind gefragt, aber auch zyprische, französische, polnische oder deutsche. Besonders pikant: die deutsche Botschaft in London registriert seit dem Brexit-Votum eine starke Nachfrage nach deutschen Pässen von britischen Juden, deren Vorfahren einst mit knapper Not der Massenvernichtung durch Deutschland entkommen waren. Ihre europäische Staatsbürgerschaft will zumindest jene Hälfte der Briten nicht so ohne weiteres aufgeben, die gegen den Brexit gestimmt hat. Eine praktische Lösung ist die Annahme einer zweiten EU-Staatsbürgerschaft wo immer möglich. Andere Lösungen werden derzeit in Internet-Foren diskutiert. Eine interessante, wenn auch eher unrealistische Idee ist die Einführung einer echten EU-Staatsbürgerschaft, die Bürger aus Nicht-EU-Staaten wie Großbritannien nach vollzogenem Brexit auf Antrag die Beibehaltung oder den Erwerb des EU-Passes (also nicht den eines Mitgliedslandes) erlaubt. Dieser Ansatz wird vor allem auf der Website www.stilleu.uk diskutiert.

Uns EU-Bürger im Vereinigten Königreich treibt indes die Sorge um die möglichen Brexit-Folgen für das eigene Leben um. Im Alltag erleben wir einen rasanten Anstieg von offener, manchmal gewalttätiger Fremdenfeindlichkeit, während sich konservative Politiker um Premier-Ministerin May auf ihrem Parteitag in haarsträubenden Konzepten zur Kontrolle der fremden Plage überbieten. Das Gespenst einer möglichen Abschiebung nach vollzogenem Brexit, so wenig realistisch diese Option zur Zeit auch erscheinen mag, verängstigt viele von uns. Was uns jedoch am meisten verunsichert, ist, dass unsere Stimme nicht gehört wird und bislang kaum jemand für uns sprechen mochte, zumindest nicht in den ersten Wochen nach dem Referendum. Die Zeit des Schweigens allerdings ist vorbei. Unter dem Motto „We are the 3 Million“ formieren sich die EU-Bürger in Großbritannien und beginnen Druck auf Abgeordnete und Regierungsmitglieder auszuüben. Die Bewegung, obwohl immer noch in ihren Anfängen, hat mittlerweile einige Beachtung gefunden, jedenfalls in den wenigen liberalen Medien auf der Insel. Initiiert hat sie eine kleine Gruppe von Freiwilligen um den Franzosen Nicolas Hatton, ein Marketingexperte aus Bristol.

Unterstützt wird sie nicht nur von dem überparteilichen Aktionsbündnis Open Europe, das aus der Pro-EU Referendum-Kampagne hervorgegangen ist und in dem eine Reihe hochrangiger Politiker aller Parteien aktiv sind, sondern auch von einer Vielzahl von britischen Prominenten und normalen Bürgern. Eine der Aktionsformen von „We are the 3 Million“ ist der ‚Pledge‘ (Die Selbstverpflichtung), mit dem sich Parlamentarier aller Parteien ausdrücklich dazu verpflichten sollen, für die Belange der EU-Bürger in ihren Wahlkreisen einzustehen.

Theresa May

Die geschlossene Facebook-Gruppe der Kampagne besteht erst seit einigen Wochen, hat aber bereits einige tausend Mitglieder. Die Postings in der Gruppe erlauben tiefe Einblicke in die Gemütslage der EU-Bürger in Großbritannien, ihre Ängste und das allgemeine Gefühl der Unsicherheit über ihre Zukunft. Solange Premierministerin Theresa May unser Schicksal vor allem als Trumpfkarte im Verhandlungspoker mit der EU begreift, ist unser künftiger Platz im UK alles andere als klar. Entsprechend besorgt, aber auch kämpferisch ist die Stimmung. Und nicht nur unter den EU-Bürgern in Großbritannien, denn natürlich betrifft der Brexit gleichermaßen die rund zwei Millionen Briten, die in anderen EU-Ländern leben, ebenfalls oft schon seit Jahrzehnten. Die haben sich gleichfalls organisiert und suchen im Moment vor allem die juristische Auseinandersetzung mit der Brexit-Regierung. Eine der einflussreichsten Expat-Gruppierungen ist die ECREU (Expat Citizens Rights in EU), die es sich zum Ziel gesetzt hat, für die Rechte britischer Bürger in der EU und europäischer EU-Bürger im Vereinigten Königreich einzutreten. Der Schulterschluss zwischen „We Are the 3 Million“, ECREU und britischen Unterstützern wird überall in Europa aufmerksam verfolgt.

All jenen, die in den vergangenen Jahrzehnten wie selbstverständlich von ihrem EU-Bürger-Grundrecht Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, ist spätestens seit dem 23. Juni 2016 klar, dass European Citizenship durchaus keine Selbstverständlichkeit ist, sondern verteidigt werden muss. In einer Zeit, in der Rechtsextreme und Rechtspopulisten in ganz Europa Oberwasser bekommen, stellen wir das Gegenmodell zu rapide um sich greifenden Nationalismen dar. 2014 lebten bereits acht Millionen Europäer dauerhaft in einem anderen Mitgliedsstaat. Hinzu kommen Studenten, pendelnde Arbeitnehmer, und eine weit größere Zahl von Menschen, die nur kurzfristig in einem anderen EU- Land leben. Wohlgemerkt, das sind keine Eliten, sondern in der überwiegenden Zahl ganz normale Arbeitnehmer aus allen Gesellschaftsschichten, für die Europa zum Alltag geworden ist, die sich aber bisher auch kaum Gedanken um ihre Identität, um Zugehörigkeit machen mussten. Das hat sich seit dem Brexit-Referendum dramatisch geändert. Die anfangs auf Post-Brexit-Britannien beschränkte Diskussion um eine europäische Identität, um den Wert einer europäischen Staatsangehörigkeit, um Bürgerrechte findet nun europaweit statt. EU-Bürger beginnen sich zu solidarisieren und zu organisieren. Das Eigeninteresse spielt da natürlich eine Rolle, ebenso aber die Erkenntnis, dass Europa in der Tat schon lange weit mehr als der Politzirkus in Brüssel ist, nämlich ganz realer Alltag, der plötzlich gefährdet erscheint.

So wie sich die Rechtsradikalen und Populisten internationalisieren und europaweit vernetzen, so vernetzen und organisieren sich nun auch EU-Bürger unionsweit. Am weitesten fortgeschritten ist die Entwicklung derzeit wohl in Großbritannien, doch die Stimmen aus Polen, Deutschland, Frankreich, Holland oder Italien werden gleichfalls lauter. Hier ist, eine eher unerwartete Konsequenz des Brexit-Referendums, eine europäische Bürgerbewegung im Entstehen. Die Zukunft wird zeigen, welches Gewicht sie erlangen kann.

 C 2016 MuzikQuest/Edgar Klüsener

(Unveränderte Weiterverbreitung und Nachdruck ohne vorherige Genehmigung erlaubt)
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SCORPIONS – die frühen Jahre

Für die Scorpions waren die Siebziger Jahre die Dekade, in der sich der Kern der Band endgültig fand, in der sie sich rasant von einer Amateurcombo in einen internationalen Act wandelte. Über ihren Weg in den frühen Siebzigern ist dennoch relativ wenig bekannt. Grund genug, diese Jahre einmal etwas eingehender unter die Lupe zu nehmen.

Mit Michael Schenker an der Leadgitarre und Klaus Meine als Sänger hatte die Band Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger eine ganz erhebliche Qualität gewonnen. Hinzu kam ein riesiges Repertoire von Rock-Standards, zunehmend spezialisiert auf harten Rock á la Led Zeppelin, Deep Purple oder Black Sabbath, sowie erstes eigenes Material. In der Amateur- und Semiprofiszene konnten sich die Scorpions bundesweit einen mehr als beachtlichen Stellenwert erspielen und galten unter Veranstaltern generell als sicherer Tip für gutbesuchte Häuser. Dennoch war die finanzielle Situation der Band ständig bis zum äußersten angespannt, wie Klaus sich erinnert:

»Ich war damals noch ein sehr starker Raucher. Irgendwann passierte es mal, dass ich keine Zigaretten mehr hatte, dafür aber einen tierischen Schmacht. Ich wollte also drei Mark aus der Bandkasse nehmen, um irgendwo Zigaretten kaufen zu können. Rudolf, der die Kasse machte, gab mir keinen Pfennig, weil wir die letzten paar Märker dringend brauchten, um nochmal Benzin nachzutanken. Sonst hätten wir’s nicht mehr nach Hannover zurück geschafft. Jeder Pfennig, den wir verdienten, floss direkt wieder in die Band. Wir finanzierten davon die Reisen zu den Konzerten und die Erweiterung der Anlage. Für alles andere war kein Geld da!«

Der deutsche Regisseur Schlesinger drehte in jener Zeit einen Anti-Drogen-Film mit dem Titel Das Kalte Paradies (Jahre später auch im ZDF ausgestrahlt). Zu diesem Film suchte er noch die passende Musik. Er trat an die Band heran mit der Bitte, den Soundtrack für den Film zu schreiben. Sie spielten ihm drei Songs vor und entschlossen sich dann, diese in einem richtigen Studio nochmal neu aufzunehmen. Nur welches sollte das sein? Der Hannoveraner Musikerkollege Frank Bornemann empfahl das Hamburger Star-Studio von Conny Plank, der sich gerade einen Namen als Produzent von Kraftwerk gemacht hatte. Plank hörte sich die Demos, war interessiert und lud sie zu Aufnahmen in sein Studio ein. Gleichzeitig bot er den Scorpions einen Produktionsvertrag an, der ohne großes Hin und Her angenommen worden.»Hört zu, Jungs, ich mache eine Platte mit Euch,» teilte er der Gruppe mit und fuhr fort: »Im Oktober fangen wir an

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Hommage an einen Tisch

Das Möbel steht in einem Erker. Aus bleigefassten Fenstern fällt bleicher Tagesschimmer in den Raum, weckt einen matten Glanz auf der blanken, dunklen Edelholz-Oberfläche. Das Möbel steht an diesem Ort seit mehr als hundertfünfzig Jahren. Draußen ist Europa in diesem Zeitraum zweimal in Blut ertrunken und seltsam vereint wieder auferstanden, sind Weltreiche in den Geschichtsbüchern für immer als verblichen abgelegt worden. 

Das Möbel hat die Zeitläufte unbeschadet überstanden, nur bei genauem Hinschauen sind zarteste Kratzer und Abschürfungen zu erkennen. Scheinbar unberührt steht es im Erker, eingebettet in staubige Stille, die nur gelegentlich durchbrochen wird, wenn sich ein Besucher in das Zimmer verirrt. Der hat vielleicht ein Buch in der Hand und ist gekommen, um ein wenig in dem zu blättern und zu lesen. Vielleicht ist er aber auch einfach nur neugierig auf das Zimmer, auf den Tisch. Denn an diesem Tisch ist Geschichte geschrieben worden, sind Sätze auf Papier gebannt worden, die Europa, die Welt bewegt haben. Das Zimmer ist am Ende eines Flures, der an beiden Seiten von hohen Regalen begrenzt wird. Die Regale stehen hinter Gittern. In ihnen stapeln sich Bücher, schwere Schwarten, in brüchiges Leder gebunden, zwischen ihnen zierliche, schmale Bändchen. Man sieht den Büchern ihr hohes Alter an, und doch, sie wirken zeitlos, so wie manches von dem Wissen, das in ihnen schlummert, zeitlos scheint. Der Flur ist im Obergeschoss des Seitenflügels des ältesten Teils eines Gebäudekomplexes, das an eine mittelalterliche Klosteranlage erinnert. Langgestreckte Gebäude umschließen einen großzügigen Innenhof. Ein viel zu großer Teil der einst üppigen Ziergartenfläche hat Parkplätzen weichen müssen. Schattige Wandelgänge vertiefen den klösterlichen Eindruck. Einst war das alles Bibliothek, die Chetham Library in Manchester. Heute sind die meisten Gebäude von der Chetham Music School, eine der führenden Musikschulen Englands, belegt. Studenten eilen über die Innenhöfe, aus den Fenstern erklingt Musik. Irgendwo entlockt jemand einer Geige avantgardistisch anmutende Klangfetzen, aus einem Fenster direkt neben dem Eingang dringt der satte Ton eines Alt-Saxophons heraus. Im hintersten Gebäude, im Zimmer am Ende des Flures im Obergeschoss ist davon nichts zu vernehmen.

Der Tisch, an dem Karl Marx und Friedrich Engels am Kapital gearbeitet haben

Hier steht die Zeit still. Ich sitze an dem Tisch im Erker, schaue aus dem Fenster in einen wolkenlos blauen Himmel über Manchester, so wie vor hundertfünfzig Jahren Friedrich Engels an diesem Tisch gesessen haben mag, vor sich ausgebreitet Bücher und Papier, daneben eine Tasse heißen Tees und frisch gebackene Teeküchlein. Ihm gegenüber hockte da wohl sein Freund Karl Marx, auch vor ihm Bücher, Papier, Teegebäck und Tee. Das Teegebäck in der Chetham Library haben sie beide geliebt, und sich später, als Karl wieder zurück in London war, in Briefen sehnsüchtig über die Köstlichkeiten und den würdigen alten Bibliotheksdiener, der sie servierte, ausgelassen. In den Fünfziger Jahren des Neunzehnten Jahrhunderts verbrachte das Freundespaar, das nach der gescheiterten Revolution von 1848 Deutschland hatte verlassen müssen, viele Tage an diesem Tisch, studierte, recherchierte und arbeitete an einem Werk, das das Schaffen von Karl Marx krönen sollte: Das Kapital. Zuvor hatten die beiden mit ihren Schriften schon für erhebliche Unruhe in Europa gesorgt. Friedrich Engels hatte während seines ersten Aufenthalts in Manchester von 1842 bis 1845 für sein Werk über die Lage der arbeitenden Klasse in England recherchiert, das 1844 in Deutschland erschien und das die Grundlage für das von Marx wenig später verfasste Kommunistische Manifest bilden sollte. „Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus“, so beginnt das Manifest und mit ihm das Zeitalter der sozialistischen Utopien von der massenmörderischen Stalin-Variante bis hin zur mild-wohltätigen Sozialdemokratie der skandinavischen Art.

Chethams School of Music . heute eine der führenden Musikschulen Großbritanniens

Die Tischplatte fühlt sich angenehm kühl an unter der Handfläche und behält ihre Geheimnisse für sich. Wie mag das Kratzen der Feder geklungen haben, mit der Marx seine Notizen auf Papier bannte? Welche Gespräche mögen die Freunde während ihrer Stunden fern von Frau Marx und Engels irischer Lebenspartnerin Mary Burns in diesem Erker geführt haben? Nur hochgeistige oder auch ganz banale? War das Wetter ein Thema, der neue Arbeitersport Fußball oder gar die irische Band, die in einem der Pubs in den Arbeiterslums am River Medlock zum Publikumshit geworden war?

In den Slums und Pubs des Fabrikproletariats war Friedrich Engels ein häufiger Gast. Der Sohn aus einer bergischen Fabrikantenfamilie, tagsüber leitender Angestellter im väterlichen Unternehmen und somit selbst einer der kapitalistischen Ausbeuter, verbrüderte sich bei Nacht mit irischen, polnischen, deutschen und englischen Arbeitern, soff mit ihnen, tanzte mit ihnen und führte dabei mit der kühlen Distanz eines unbeteiligten Beobachters Buch über die katastrophalen Lebensumstände in den Arbeiterghettos, denen er jederzeit in seine komfortable Firmenvilla oder in das gemeinsam mit Lebensgefährtin Mary Burns und deren Schwester Lizzy – seine spätere Ehefrau – bewohnte Mietapartment entfliehen konnte.

Ob er mit Karl Marx auch über seine Beziehung zu den Schwestern Burns geplaudert haben mag? Der Tisch schweigt, bei ihm ist jedes Geheimnis sicher aufgehoben. Wir wissen nur aus den Briefen von Jenny Marx and Karl Kautsky, das Marxens Ehefrau die unkultivierte irische Geliebte des Friedrich Engels nicht sonderlich sympathisch gewesen war.

Draußen färbt sich der Himmel langsam in ein rötliches Gold. In der Ferne, hinter den Dächern von Manchester und Salford, liegt das Meer, liegt die Hafenstadt Liverpool und ihr gegenüber Irland. Die Zeit im Erker ist wie Bernstein, sie scheint still zu stehen, den Tisch und den Raum für immer eingeschlossen zu haben. Fast meine ich Marx und Engels miteinander wispern zu hören, aber dann ist’s doch nur eine Mitarbeiterin der Bibliothek, die in leisem Tonfall darauf aufmerksam macht, dass in einigen Minuten geschlossen wird. Ein letzter Blick zurück auf den Tisch, an dem Geschichte geschrieben wurde. Unberührt und zeitlos steht er da, versinkt langsam im Dämmerlicht, und ich weiß, dass er auch in hundert Jahren noch so dastehen wird. Ein Zeitreisender, losgelöst von Welt und Wahn.

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Musik Reportagen Zeitgeschichten

Es war einmal… in Hagen

Nena, Extrabreit, Eroc, Grobschnitt…. Für einen kurzen Augenblick in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts war Hagen eine Popmetropole von westdeutsch-nationaler Bedeutung. „Komm nach Hagen, werde Popstar“, texteten Extrabreit damals, und der Ruf wurde gehört. Die Medien wurden aufmerksam und kamen nach Hagen, Musiker zogen aus anderen Städten zu, die Stadt am Volmestrand war plötzlich angesagt. Eine Art Seattle-Effekt in der westfälischen Provinz. Bald darauf jedoch versank die Stadt wieder in provinziellem Tiefschlaf, die Karawane zog weiter. Hagens flüchtiger Moment als Popmetropole der BRD hatte dennoch Folgen für die deutsche Rock- und Medienwelt.

Irgendwo am Rande des Sauerlands, fast noch Ruhrgebiet, aber eben doch nicht mehr ganz, liegt diese kleine Großstadt. Dicht bewaldete Hügel des Sauerlandes begrenzen sie im Süden, im Westen die Höhen des Bergischen Landes und im Norden und Osten die an manchen Stellen fast idyllischen Flußlandschaften von Lenne und Ruhr. Mitten durch die Innenstadt fließt die Volme, zu breit für einen Bach, aber auch noch kein richtiger Fluss. So wie Hagen zu groß für eine Kleinstadt ist, aber zu klein für eine Großstadt. Etwas über 200.000 Menschen lebten hier noch in den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Seitdem fällt die Zahl ständig. Schuld daran ist vor allem die Industrie. Oder vielmehr: deren Fehlen. Denn die Schwerindustrie hatte noch bis ins letzte Drittel des Zwanzigsten Jahrhunderts das Bild der Stadt bestimmt, hatte Brot und Arbeit garantiert und ein kleines bisschen Wohlstand. Sie hatte arbeitssuchende Einwanderer aus Ländern wie Italien, der Türkei oder Griechenland angelockt und so dazu beigetragen, dass die Stadt zumindest an der Oberfläche ein wenig multikultureller wurde. Als jedoch die Stahlindustrie starb, starb auch Hagen, langsam und schleichend. Aber nicht lautlos. Mitten in der Depression explodierte die Stadt plötzlich in einem kurzen, aber dafür umso grelleren Feuerwerk der Kreativität. Das war, als Hagen plötzlich rockte.

Hagener Innenstadt

Musik war für viele der letzte, der einzige Ausweg aus der grauen Öde der siechenden Stadt, ein Aufschrei der Frustration, irgendwie auch ein Hilferuf. Der erdrückenden Langeweile, der provinziellen Enge konnte nur noch mit schrillen Tönen begegnet werden. Hagen war allerdings nicht Hamburg, München oder Berlin. Nicht einmal Köln. Hagen war Provinz, was dort vor sich ging, interessierte schon zehn Kilometer weiter meist weniger als der Jahresbericht des Taubenzüchtervereins. Gut, es gab Grobschnitt, die Progressiv-Rocker, die in den Siebzigern mit langatmigen Mega-Kompositionen wie ‚Solar Music‚ zu Krautrock-Pionieren geworden waren. Aber das war’s auch schon. Auf Popmusik aus Hagen hatte niemand gewartet. Nicht einmal im benachbarten Dortmund. Wer was werden wollte, wer künstlerische Ambitionen hatte, Freiheit und Abenteuer suchte, der verließ die Stadt so schnell wie möglich. Wie die Humpe-Schwestern, die nach West-Berlin ausbüchsten. Andere aber blieben. Und weil weder Medien noch Plattenfirmen freiwillig nach Hagen kamen, schufen sie sich eben eigene Medien, Plattenfirmen, Managements, Konzertbüros und Musikverlage und schrien ihre Existenz laut in die Welt hinaus. Es gab verschiedene Epizentren des Bebens, das von Hagen aus in den nächsten Jahren die bundesdeutsche Musikwelt erschüttern und verändern sollte. Die meisten konzentrierten sich auf den Ortsteil Wehringhausen, das Viertel der links angehauchten Studentenszene, der Künstler und Musiker und der Kinder der Nacht.

Wichtiger noch aber war, zumindest für einige Monate, ein grauer Bürobau am Rande Wehringhausens. Die Berliner Straße verbindet die Innenstadt mit dem Vorort Haspe. Damals führte sie vorbei an dunklen Mietskasernen, an Fabriken und Lagerhallen. In einem tristen Zweckbau an der Berliner Straße, irgendwo zwischen Wehringhausen und Haspe, hatte sich 1979 eine kurzlebige Bürogemeinschaft etabliert, in der all die wichtigen Akteure der Hagener Szene und ihres Umfeldes unter einem Dach arbeiteten, die in den folgenden Jahren deutsche Musik- und Popmediengeschichte mitgestalten sollten.

Auf Popmusik aus Hagen hatte niemand gewartet…

Kai Havaii
Foto: Peternfuchs (Creative Commons)

Angemietet hatten das Gebäude die Geschäftspartner Hartwig Masuch und Ulrich Wiehagen. Die beiden betrieben zusammen einen Musikverlag, bei dem unter anderen die Bands The Stripes, mit Sängerin Nena, und Extrabreit unter Vertrag waren, wie auch The Ramblers, deren Sänger Hartwig Masuch war, allerdings unter dem Künstlernamen Christian Schneider. Uli Wiehagen gab außerdem die Zeitschrift Musiker/ Musik News heraus. Deren Chefredakteur war für einige Monate Jörg Hoppe,  der Kopf hinter Extrabreit, und ihr Chefdesigner Kai Schlasse alias Kai Havaii. Eine weitere Mitarbeiterin war Gundi Brühl. Den Satz besorgte Jürgen Wigginghaus. Nebenan werkelte eine Konzertagentur, die Tourneen für Extrabreit, Fehlfarben, The Stripes und andere Bands buchte und in der Peter Dell, späterer Bassist der Heavy Metal-Gruppen Faithful Breath und Risk das Tagesgeschäft erledigte.

Alle, die hier arbeiteten, hatten zweierlei gemeinsam: sie wollten raus aus der Provinz, und sie sollten in den folgenden Jahren eine wichtige Rolle in Deutschlands Musik- und Medienwelt spielen.

Da wäre der Malersohn und Rolling Stones-Fan Hartwig Masuch, für den es schon zu Schulzeiten klar war, dass außer Musik für ihn nicht viel anderes in Frage kam. Er war nicht nur der Sänger der Band The Ramblers, er hatte mit seinem Partner Uli Wiehagen auch kurzerhand noch ein Management aufgebaut. Und einIn einem tristen Zweckbau an der Berliner Straße, irgendwo zwischen Wehringhausen und Haspe, hatte sich 1979 eine kurzlebige Bürogemeinschaft etabliert, in der all die wichtigen Akteure der Hagener Szene und ihres Umfeldes unter einem Dach arbeiteten, die in den folgenden Jahren deutsche Musik- und Popmediengeschichte mitgestalten sollten.en Musikverlag. Für letzteren nahm er fleißig junge Bands unter Vertrag. Wie Extrabreit, Ina Deter, Abwärts oder wie The Stripes. Die schickte er zum Aufnehmen von Demobändern nach Hiltpoltstein, wo Jonas Porst, Sohn des einzigen westdeutschen kommunistischen Großunternehmers und der Mann hinter Ihre Kinder, ein Tonstudio betrieb. Mit den Aufnahmen suchte – und fand- er dann Plattenfirmen für seine Bands. Zupass kam ihm da sicherlich auch das Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Ruhruniversität Bochum. Heute ist Hartwig Masuch längst kein Sänger Christian Schneider mehr, wohl aber unter eigenem Namen der CEO von BMG Rights Management und damit eine der Schlüsselfiguren im weltweiten Musikgeschäft.

Jörg Hoppe, kurzzeitiger Chefredakteur des Musiker, war in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts Hagens Antwort auf Malcolm McLaren, ein umtriebiger Konzertveranstalter, Journalist, Promoter, Manager und Popideologe, vor allem aber Manager von Extrabreit. Seine Wohngemeinschaft in der Wehringhausener Buscheystraße 56 war eine der kreativen Kernzellen der Hagener Szene. In ihr lebte nicht nur Kai Hawaii, auch die Gruppe Kein Mensch und der Künstler Wolfgang Luthe waren Teil der WG. In späteren Jahren produzierte Hoppe Deutschlands erste Heavy Metal TV-Show für den damals noch jungen und aufregenden Privatsender Tele 5, gründete zusammen mit Christoph Post und Marcus Rosenmüller die Film- und TV-Produktionsgesellschaft MME, war Gründungsgesellschafter von VIVA und erhielt nicht zuletzt 2000 den Grimme-Preis für die bahnbrechende TV-Dokumentation „Pop 2000“.

Jürgen Wigginghaus 1988

Jürgen Wigginghaus hatte schon ein Kapitelchen deutscher Rockgeschichte geschrieben, bevor es ihn als Setzer in die Berliner Straße verschlug. 1976 hatte er im Heideörtchen Scheeßel ein dreitägiges Rockfestival veranstaltet, bei dem jede Menge großer Namen aus Europa und den USA auftreten sollten. Sollten ist hier das passende Wort, denn einige von den amerikanischen Hauptattraktionen zogen es vor, zwar die Vorkasse einzustreichen, dann aber doch nicht in die Heide zu reisen. Was dazu führte, dass die niederländischen Rocker Golden Earring den längsten Gig ihrer Karriere spielten, aber trotzdem nicht verhindern konnten, dass wütende Fans am Ende die Bühne abfackelten und den Veranstalter am nächsten Baum aufknüpfen wollten. Der entkam dem Chaos knapp im Kofferraum eines Mercedes. „Rock in Scheeßel, Feuer in der Nacht“ war der Titel des Songs in dem die Deutschrocker Franz K das Geschehen später besingen sollten. Und „Scheeßel“ war der Schlachtruf den wütende Konzertbesucher Wochen später auf den Lippen hatten, als auf der Lorelei erneut eine Bühne in Brand gesetzt wurde, diesmal, weil Jefferson Airplane einfach nicht erschienen waren. Jürgen Wigginghaus sollte nicht lange der Setzer in der Berliner Straße bleiben, sondern sich bald selber zum Verleger wandeln. 1984 gründete er das Magazin Metal Hammer, das bereits 1988 das größte Heavy Metal Magazin der Welt war. Landessprachliche Ausgaben erschienen in Holland, Großbritannien, Spanien, Griechenland, Italien, Frankreich, Ungarn, Polen und am Ende sogar in Gorbatschows UdSSR. Anfang 1986 hatte es noch ein Konkurrenzmagazin gegeben, herausgegeben von der Münchener Marquardt-Gruppe (Musik Express/Sounds, Cosmopolitan, Harper’s Bazar), das den Titel Crash trug und dessen Chefredakteurin die bereits erwähnte Gundi Brühl war. Als Jürgen Wigginghaus 1986 den Metal Hammer an die Marquardt-Gruppe verkaufte, wurden Metal Hammer und Crash zu einem Magazin zusammengelegt. Heute ist Metal Hammer immer noch eine der wichtigsten Rockzeitschriften der Welt. Jürgen Wigginghaus allerdings hat sich wieder ins Sauerland zurückgezogen, wo er von Lüdenscheid aus ein kleines Regionalmagazin-Imperium aufbaut.

Der Bürogemeinschaft in der Berliner Straße war kein langes Leben beschieden. Doch ohne die, die damals für kurze Zeit in ihr arbeiteten, sähe Deutschlands Musikwelt heute anders aus.

 

Ach ja, fast vergessen: Der Autor, Edgar Klüsener, war von 1987 bis 1990 Chefredakteur des Metal Hammer und natürlich ebenfalls aus Hagen. Zusammen mit Peter Dell, dem späteren Bassisten von Faithful Breath und Risk, betrieb er von der Berliner Straße aus außerdem die Konzertagentur ALLES LIVE, die unter anderen Tourneen für Extrabreit buchte.

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Reportagen Zeitgeschichten

Quarry Bank Mill: Die Wiege der industriellen Revolution

Das Örtchen Styal liegt gerade mal eine Steinwurfweite weg vom geschäftigen Flughafen Manchesters. Styal ist nicht viel mehr als eine Durchfahrtsstraße von Manchester nach Wilmslow, ein paar Häuser, ein Ortsschild, das war‘s. Rundherum viel Flughafen und ein wenig wunderschöne Landschaft, schließlich beginnen hier die lieblichen Hügel und Gärten der Grafschaft Cheshire. Am Ortsende biegt rechts eine schmale Zufahrtsstraße zur Quarry Bank Mill ab, die in einem enormen Parkplatz endet. Reisebusse stehen da und jede Menge Autos. Vom Parkplatz aus geht es über Treppen hinab in ein schattiges Flusstal, in dessen Grund langgestreckte Fabrikgebäude stehen, die Quarry Bank Mill.

Hier hat sie also begonnen, die industrielle Revolution, die England zur ersten Supermacht der Neuzeit machte und die schließlich den zersplitterten und heillos zerstrittenen europäischen Kontinent für mehr als ein Jahrhundert zum wirtschaftlichen, technologischen und politischen Mittelpunkt der Erde wachsen ließ. In dieser lauschigen Senke, die der River Bollin in Jahrtausenden aus dem Sandstein gefräst hat, hat Samuel Gregg 1784 die Grundsteine für ein globales Baumwollimperium gelegt und quasi im Alleingang die Industrielle Revolution gestartet. Es war wohl kaum die romantische Schönheit des Flusstals, die ihn bewogen hat, ausgerechnet an diesem Ort seine Fabrik aufzubauen, sondern vielmehr die verkehrsgünstige und geschützte Lage am Rande Manchesters sowie die Wasserkraft, die der Bollin in unbegrenzter Menge bereitstellte. Samuel Gregg war einer der neuen Reichen seiner Zeit. Die finanziellen Mittel zum Aufbau der Fabrik stammten größtenteils aus dem Familienvermögen, erwirtschaftet im Sklavenhandel, dessen weltweites Zentrum die nahe gelegene Hafenstadt Liverpool war. Gregg war nicht nur reich und geschäftstüchtig, er war auch ein Visionär. Wie kaum ein anderer Unternehmer seiner Zeit realisierte er die Möglichkeiten zur Automatisierung und Rationalisierung von Arbeitsprozessen, die neue Erfindungen und Technologien und die Nutzung von Wasserkraft und bald darauf Dampf offenbarten.

Mechanischer Webstuhl

Seine Arbeiter rekrutierte Gregg in den umliegenden Tälern, Hügeln und Waisenhäusern der Grafschaften Cheshire und Lancashire. Auch die neuartigen Maschinen, die er so konsequent einsetzte wie niemand sonst, waren örtliche Produkte, ausgedacht und produziert von Erfindern und Ingenieuren in den benachbarten Ortschaften und Städten. Greggs Fabrik wurde so zur Keimzelle einer globalen technologischen Revolution, das kleine Styal und die Nachbarorte in Cheshire und Lancashire zu einem Innovationszentrum, das noch am ehesten vergleichbar ist mit dem Silicon Valley des späten 20ten und frühen 21ten Jahrhunderts.

Die fieberhafte Geschäftigkeit jener Tage ist heuer nur noch eine vage Erinnerung. Statt der Arbeiter, die im Akkord die aus allen Ecken des Empires importierte Baumwolle industriell in hochwertige Garne, Stoffe und Tücher verwandelten, wimmeln nun Schulklassen und Touristen aus allen Teilen Großbritanniens durch die liebevoll restaurierten Fabrikgebäude.

Die Fabrik ist ein Technologiemuseum der besonderen Art, einzigartig in Großbritannien. Erhalten, gepflegt und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht vom britischen National Trust, dokumentiert es die Geschichte der industriellen Baumwoll-Verarbeitung im Vereinigten Königreich und führt zurück in eine kurze Zeit, in der britischer Erfindergeist und britische Technologien weltweit konkurrenzlos waren. Für den Historiker Sven Beckert war Baumwolle das eigentliche Gold des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, und die beinahe absolute Kontrolle über den kompletten Baumwollkreislauf vom Anbau über die Verarbeitung bis hin zur Vermarktung das wahre Fundament, auf dem das gesamte britische Imperium beruhte.

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Iran Mittlerer Osten Reportagen Zeitgeschichten

Zehn Nächte in Teheran

Es waren zehn Nächte im Oktober 1977, die in die Geschichte der modernen Lyrik eingegangen sind. Zehn verregnete und kalte Nächte im fernen Teheran, damals Hauptstadt der korrupten Dynastie von Schah Reza Pahlavi. Zehn Nächte voller Poesie, Leidenschaft, Aufbegehren und wilder Hoffnung. Zehn Nächte, die einem modernen Woodstock der Literatur so nahe kamen wie wohl keine andere literarische Lesung vorher oder nachher. Zehn Nächte im Garten der deutsch-iranischen Gesellschaft, die zudem einen der ganz seltenen wirklich großartigen Glanzpunkte deutscher Auslands-Kulturpolitik gekrönt haben, seinerzeit  in Deutschland kaum wahrgenommen worden waren und heute beinahe vergessen sind. Dabei waren sie eines der herausragenden Ereignisse auf dem langen Weg zu einer Revolution, die den Schah von Persien außer Landes und am Ende seinen ärgsten Widersacher, den islamischen Rechtsgelehrten Ruhollah Ayatollah Khomeini an die Macht spülen sollten.

Anthony Parsons, damals britischer Botschafter im Iran, schreibt in seinem Buch The Pride and the Fall :„Iranische Dichter lasen im westdeutschen Kulturzentrum aus ihren Werken. Sie nutzten die Gelegenheit, in ihren Gedichten machtvolle Kritik am Regime zu üben. Die Zuschauerzahlen waren gewaltig, rund 62.000 Menschen kamen insgesamt in diesen zehn Nächten, und sie nahmen die Kritik offen an.“

Für Parsons waren diese Lesungen ein Schlüsselereignis der langsam anrollenden iranischen Revolution, die zu diesem Zeitpunkt durchaus noch keine islamische war.

Iranische Dichter – verfolgt und gefoltert.

Hushang Golshiri

Einer, der im Zentrum des Sturms agierte, den iranische Dichter in diesen Nächten entfesselten, war Kurt Scharf, damals stellvertretender Leiter des Teheraner Goethe-Institut und maßgeblich an der Organisation der Lesungen  beteiligt. Kurt Scharf, der sich seitdem auch als Übersetzer und Herausgeber moderner persischer Lyrik im deutschsprachigen Raum einen Namen gemacht hat, war 1973 nach Teheran versetzt worden und hatte schon zu einer Zeit Kontakte zu iranischen Schriftstellern aufgenommen, als diese vom Regime und dessen allgegenwärtiger brutaler Geheimpolizei SAVAK noch nach allen perfiden Regeln diktatorischer Kunst verfolgt worden waren.

Das Teheraner Goethe-Institut hatte bereits in den Sechzigern und frühen Siebzigern Lesungen mit iranischen Dichtern veranstaltet, diese Veranstaltungen aber eingestellt, als es für die teilnehmenden Dichter zu gefährlich geworden war, in aller Öffentlichkeit aus ihren oft verbotenen und unterdrückten Werken vorzulesen. So war zum Beispiel der Schriftsteller und Journalist Sirius Ali Nevaida in den frühen Siebzigern von SAVAK verhaftet, gefoltert und eingekerkert worden, nur weil er für die Zeitung Ayandegan einen Bericht über eine Nacht der Dichtung im Goethe-Institut geschrieben hatte.

Da schien der Schah noch ganz auf der Höhe seiner Macht, gestützt von den USA, Großbritannien, aber auch von der alten BRD, für die der Folterfreund im Iran der wichtigste Wirtschaftspartner im Mittleren Osten war.

Mitte der Siebziger jedoch war die Opposition gegen den Schah bereits so breit gefächert, dass dieser sich genötigt sah – auch auf Druck der Carter-Regierung -, eine vorsichtige Liberalisierung der Gesellschaft zu erlauben. Immerhin, diese Phase zögerlicher Liberalisierung sollte es überhaupt ermöglichen, dass der bis dahin im Untergrund agierende iranische Schriftstellerverband zusammen mit dem Goethe-Institut die Veranstaltung organisieren konnte, die dann unter dem Namen „Da schab dar Tehran“ (Zehn Nächte in Teheran) so eindrucksvoll die Macht des vorgelesenen  Wortes in einem rauen politischen Klima demonstrieren sollte.

 Ein neuer Stern am Himmel iranischer Poesie: Huschang Golschiri

Wie fragil die Situation iranischer Dichter trotz der leichten Liberalisierung 1976 immer noch war, beschreibt Kurt Scharf so:

Alle Schriftsteller waren mit erheblichen Problemen konfrontiert, überhaupt zu veröffentlichen. Die Zahl der Veröffentlichungen war sehr gering. Einige arbeiteten in staatlichen Stellen, aber selbst die hatten Schwierigkeiten zu veröffentlichen. Andere schlugen sich als Journalisten durch, als Lehrer oder als Texter in den Reklameabteilungen staatlicher Behörden. Sie alle unterlagen strikter Zensur.

Gerade weil das Goethe-Institut in den vorhergegangenen Jahren intensiv mit iranischen Dichtern zusammengearbeitet hatte, war es erste Partnerwahl für den 1967 gegründeten Schriftstellerverband gewesen. Zu den jungen Literaten, die 1976 auf Kurt Scharf zukamen, gehörte übrigens auch der spätere Erich-Maria Remarque-Preisträger (1999) Huschang Golschiri, der heute als einer der Väter der zeitgenössischen iranischen Literatur gilt.

Das Goethe-Institut war mehr als bereit, die Organisation der Veranstaltung zu  übernehmen und seine örtliche Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Dass sich etwas Ungewöhnliches anbahnte, merkten Kurt Scharf und seine Kollegen allerdings schnell. Denn kaum begann die Kunde von der Lesung sich zu verbreiten, liefen auch schon die Telefone im Institut heiß.

Scharf erinnert sich:

Wir wollten die Lesungen ursprünglich im Großen Garten des Instituts abhalten, der immerhin rund 2.000 Menschen Raum bot, aber dann kristallisierte sich heraus, dass der Platz nicht ausreichen könnte. Deshalb haben wir schließlich auf die Räumlichkeiten der Deutsch-Iranischen Gesellschaft zurückgegriffen.“

Aber selbst die waren nicht groß genug. Bereits am ersten Abend drängelten sich über zehntausend Besucher innerhalb des restlos überfüllten Areals und vor den Toren.

Wir haben versucht die Tore zu schließen, aber das ging nicht mehr. Die Leute waren überall, sie kletterten auf Laternenpfähle, hockten in den Bäumen und saßen auf der Mauer, und es störte sie nicht im Geringsten, dass es regnete und dass es kalt war.“

Auch nicht, dass sie draußen wohl kaum ein Wort von dem verstanden, was drinnen gelesen wurde. Zumindest das ließ sich ändern. In der nächsten und den folgenden Nächten wurden zusätzliche Außenlautsprecher montiert. Die Behörden, wohl ebenso vom riesigen Zulauf überrascht wie die Organisatoren und die Dichter selbst, hielten sich zurück und unternahmen keine Anstalten, in den Ablauf oder die Organisation einzugreifen.

Zauberhafte Momente im Herbstregen

Die, die dabei waren, egal ob als Vortragende, Organisatoren oder schlichte Zuhörer, bekommen noch heute leuchtende Augen, wenn sie an die Teheraner Dichter-Nächte zurückdenken, an jene ganz seltenen, zauberhaften Momente im Herbstregen, in denen Poesie die ganze Macht entfaltete, die ihr innewohnen kann. Jene Macht, die sie seit jeher den Herrschenden in aller Welt suspekt erscheinen lässt, selbst wenn sie oft kaum zu erahnen ist.

Schah Mohammed Reza Pahlavi

Bei vielen von denen, die sich da zehn Nächte lang zu Zigtausenden  versammelt hatten, hatte der Unmut mit der politischen und wirtschaftlichen Situation im Iran bereits den Siedepunkt erreicht. Sie hatten genug von dem korrupten Schah-Regime. Was sich in diesen zehn Nächten  zusammenbraute, war eine von den Initialzündungen der islamischen Revolution. Die hatte ja ursprünglich nahezu alle Gesellschaftsgruppen umfasst. Die Revolutionäre waren Kommunisten ebenso wie Nationalisten, Bazaris ebenso wie liberale Intellektuelle oder das verarmte Proletariat der Städte. Und natürlich die schiitische Geistlichkeit, von allen mit Abstand am besten organisiert, die am Ende als eigentliche Sieger aus der Revolution hervorgehen sollte, bis Ende 1978 aber durchaus im Schulterschluss mit all den anderen Gruppierungen agierte.

In gewisser Weise war dieses Phänomen einer Dichterlesung als Massenereignis nur in einer islamisch geprägten Kultur möglich. Weil die  darstellenden Künste und die Musik in islamischen Gesellschaften erheblichen Beschränkungen unterliegen, kommt der Literatur seit Jahrhunderten eine herausragende Bedeutung zu. Gerade die Lyrik war und ist oft auch die einzige Kunstform, die in ihren Mehrdeutigkeiten versteckte und kodierte Kritik transportieren konnte und kann.

Für die Mehrheit der iranischen Dichter waren diese zehn Nächte von Teheran nur ein kurzer Moment überschwänglich zelebrierter Freiheit. Die Liberalisierung, die der schwer bedrängte Schah eingeleitet hatte und die ihnen erstmals seit Mossadeghs Zeiten wieder eine Ahnung von Ausdrucks- und Meinungsfreiheit beschert hatte, endete kurz nach dem endgültigen Sieg der islamischen Revolution. Ruhollah Khomeini, Autor des theoretischen Fundaments „Velayat-e Faqih“ (Wächterschaft des Juristen), auf dem die islamische Republik Iran seitdem basiert und damit selbst ein Schriftsteller, der in seiner Jugend außerdem Verfasser von schwülstiger Liebeslyrik gewesen war, wusste sehr wohl um die Macht des Wortes und nahm den Literaten Irans – von den strikt islamischen Poeten abgesehen – bald alle Freiheiten, die sie für so kurze Zeit genossen hatten. Ab 1980, nur ein Jahr nach dem Sturz der Monarchie, wurden iranische Literaten wieder nach altbekannten Mustern verfolgt. Die Anschuldigungen mögen seitdem anders lauten und religiös verbrämt sein, die Methoden der Verfolgung und Unterdrückung jedoch sind die gleichen, die schon des Schahs Schergen angewendet hatten.

Die zehn Nächte von Teheran aber sind gerade deswegen längst zu einer kraftvollen Legende geworden.

Die teilnehmenden Dichter sind tot oder im Exil, einige auch einfach verstummt. Kurt Scharf hat den Iran 1979 verlassen und ist im Dienst des Goethe-Instituts bis zu seiner Pensionierung Ende 2006 noch ganz schön in der Welt herum gekommen. Er ist über all die Jahre der modernen iranischen Literatur treu geblieben. Zuletzt ist von ihm die ausgezeichnete Anthologie zeitgenössischer iranischer Poesie „Der Wind wird uns entführen
veröffentlicht worden.

Edgar Klüsener

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Musik Reportagen Zeitgeschichten

Kurt Cobain – Letzte Ausfahrt Rock’n’Roll Himmel

Am 5. April 1994 hielt sich laut offizieller Darstellung in seiner Garage der junge Kurt Cobain den Lauf einer Schusswaffe in den Mund und drückte ab. Eine Kugel später hatten die Neunziger ihr erstes totes Rock-Idol. Und die Rock’n’Roll-Big-Band irgendwo da oben über den Wolken konnte einen weiteren Ausnahmemusiker zur ewigen Allstar-Session in ihren Reihen begrüßen.

Der Tod Cobains kam kaum überraschend. In den Monaten, die ihm vorausgegangen waren, hatte er auf Beobachter und ihm Nahestehende immer unzufriedener, in sich zerrissener und unberechenbarer gewirkt. Er machte wieder und wieder deutlich, dass Nirvana nicht mehr sein Ding war, dass er sich musikalisch eingegrenzt sah und das Gefühl von Verlust jeglicher Authentizität verspürte. Er trug sich mit der Absicht, endgültig auszusteigen, die eigene Identität als Künstler wie als Mensch neu zu definieren. Hinzu kamen Probleme in der Ehe. Gerüchte, dass beide, sowohl Kurt als auch Courtney, an Scheidung dachten, bestätigte nach seinem Tod beider Anwältin Rosemary Carroll. Während der „In Utero“- Tour kapselte Cobain sich zunehmend auch von seinen Bandkollegen ab, übernachtete in anderen Hotels, konsumierte verstärkt und ziemlich wahllos Drogen. Das letzte Konzert spielte die Band dann am 1. März 1994 im Terminal 1 des alten Münchener Flughafens.

Am 4. März 1994 fand Ehefrau Courtney Love ihren Gemahl besinnungslos in seinem römischen Hotelzimmer. Neben ihm, von seinem Management Gold Mountain ebenso wie von Courtney Love lange dementiert, ein Abschiedsbrief. Selbst der Nirvana-Plattenfirma ‘Geffen’ wurde die Existenz des Schreibens verheimlicht, was später zu erheblichen Irritationen zwischen Company und Management führen sollte. „Die haben uns glatt belogen“, kommentierte ein empörter ‘Geffen’-Verantwortlicher. Als Kurt Cobain ins Krankenhaus eingeliefert wurde, lag er im Koma. Janet Billig, Sprecherin des Managements, beschrieb seinen Zustand als „sehr ernst„. Nur Tage später relativierte Gold Mountain-Boss John Silva allerdings: „Die Ärzte sagen, es sei alles in Ordnung mit ihm.“ Der Selbstmordversuch wurde nun als unabsichtliche Überdosierung beschrieben, als nicht sachgerechter Umgang mit Medikamenten, die Kurt Cobain eingenommen habe, um starke Magenschmerzen zu lindern. Hinzu sei reichlicher Champagnergenuß gekommen. Selbstmordversuch oder Unfall mag dahingestellt bleiben, klar war, dass Kurt Cobain sich in einer ernsthaften Krise als Person und Musiker
befand.

„Nevermind“

Nirvana haben Anfang der Neunziger die Welt der Rockmusik so nachhaltig verändert wie seit den Sex Pistols kaum eine andere Band.

Kurt Cobain

Und das mit einem einzigen Album und in kaum mehr als anderthalb Jahren. Anfangs waren Nirvana nur eine von vielen jungen Gruppen, die in den Clubs der nordwestamerikanischen Hafenstadt Seattle Abend für Abend ihr Programm runter spulten. Fernab von Los Angeles oder New York, den Glitzerstädten des Popgeschäftes, hatten diese jungen Bands eigene musikalische Wege beschritten. Die rohe Energie des Punk verbanden sie mit den schrill verzerrten und kreischenden Gitarrenorgien eines Jimi Hendrix, vermengten das Ganze mit Metal-Riffs und Folk-und Countryrockeinflüssen und prägten so einen Sound, der unter der Umschreibung Grunge bald weltberühmt werden sollte. Wie die meisten Seattle-Bands hatten auch Nirvana Anfang der Neunziger einen Plattenvertrag mit dem lokalen Underground-Label ‘SubPop’ unterzeichnet.

Nach dem grandiosen Debüt „Bleach“ wechselten sie zur Major-Company ‘Geffen’, veröffentlichten ihr zweites Album „Nevermind“ – und plötzlich sah die Welt ganz anders aus. Der Singlehit „Smells Like Teen Spirit“ schoss rund um den Globus in die Charts, der Musikkanal MTV nudelte das Video rund um die Uhr in die Kinderzimmer. Nirvana waren mit einem Mal in aller Munde. Mit ihrer schroffen, harten und manchmal fast schmerzhaft schrillen Musik, die so fernab von den gängigen Klischees leichtverdaulichen und hitparadentauglichen Mainstream-Rocks liegt, hatten Kurt Cobain, Krist Novoselic und Dave Grohl offensichtlich den Nerv einer ganzen Generation getroffen. Nach diesem Zustand befragt, äußert Cobain im Interview in VISIONS Nummer 7 (April 1992) sein Unwohlsein ob der plötzlichen Popularität und seinen unbedingten Wunsch, am liebsten einfach nur noch nach Hause zu wollen. Der kometenhafte Aufstieg vom Underground-Musiker zum Role-Model einer ganzen Generation lag ihm definitiv schwer im Magen, und das analog mit dem Beginn einer im Nachhinein sensationellen wie traurigen Erfolgsstory.

Ein Augusttag in Seattle

Leichter Dunst liegt über Seattle. Auf dem Wasser kreuzt ein einsames Ausflugsboot, an Bord eine Handvoll Touristen, die leicht gelangweilt herüber schauen. Dave Grohl erblickt das Boot, umklammert plötzlich zwei Stäbe der Gitterumrandung des Balkons, fällt auf die Knie, zwängt sein Gesicht dazwischen und simuliert einen Brechreiz. Er würgt trocken, Speichel trieft in langen Fäden aus seinem weit geöffneten Mund. Die Bootpassagiere werden auf die Szene aufmerksam, eine ältere Dame weist mit dem Finger auf das Geschehen. Prustend beginnt Dave zu lachen, richtet sich wieder auf und winkt den Ausflüglern mit wilden Handbewegungen zu. Kurt Cobain und Krist Novoselic verziehen derweil keine Miene. Clowneske Eskapaden ihres Teamgefährten sind sie längst gewöhnt.

Auf den ersten Blick kann man sich kaum ein gegensätzlicheres Gespann vorstellen als diese drei jungen Männer. Krist Novoselic, ein langer, schlaksiger Kerl, ganz in schwarz gekleidet, wirkt mit seinem akkurat geschnittenen kurzen Haar und dem säuberlich gestutzten kleinen Spitzbart wie die Verkörperung eines Bohemien der Fünfziger. Ganz anders Dave Grohl. Mit seiner langen Mähne und einem traditionellen Rock’n’Roll-Outfit geht er genau als der Rockmusiker durch, der er ist. Kurt Cobain wiederum erscheint mit seiner blonden Zottelfrisur und dem jungenhaften Viertagebärtchen wie die Inkarnation des zornigen Beatnik-Poeten.

Cobain wirkt hellwach und redet, einmal in Fahrt geraten, minutenlang ohne Atempause. Von Wut, Ärger, Depression, drogenumnebelter Verwirrtheit keine Spur. Da steht ein junger Mann, der genau zu wissen scheint, wer er ist, was er will und wie es weitergehen soll. Seine Ausstrahlung ist widersprüchlich. Bescheidenheit – fast Schüchternheit – paart sich mit spontaner Erregbarkeit; er ist freundlich, und doch schwingt in seiner Stimme kaum merklich ein aggressiver Unterton mit. Vor allem aber kommt er rüber wie jemand, der alles unter Kontrolle hat. Sein Verhältnis zur Presse ist immer noch äußerst gespannt in diesem August, mehrere Monate lang hat er sie völlig boykottiert und eine Reihe von Zeitungen und Zeitschriften, darunter Vanity Fair und Newsweek, mit Rechtsverfahren überzogen, hat Reporter und Redakteure verklagt und ein Vermögen in Anwälte und Prozesskosten investiert. Nur ein Interview hat er in den letzten Monaten gegeben: Kevin Allman, Mitarbeiter des Schwulenmagazins The Advocate, war der Auserwählte. In diesem Interview beklagte er sich bitterlich über die Hexenjagd, die die Boulevardpresse gegen ihn und Courtney Love los getreten habe, über die Schattenseiten des Rockstar-Lebens und über das gesellschaftliche Klima in den USA, das zunehmend von fundamentalistischen Dogmen geprägt und für Minderheiten immer rauer werde.

Nirvana – Promotion Foto

Dass das Rockstar-Leben Schattenseiten haben kann, ist für Cobain eine neue und verstörende Erfahrung. In all seinen Teenagerjahren hatte er den Status ‘Rockstar’ als den einzigen gesehen, der ihm selbst gerecht würde. Nun hat er, was er immer wollte, und natürlich ist mehr als nur ein Haken an der Geschichte. Plötzlich wird er als Sprachrohr einer ganzen Generation gesehen, man verlangt von ihm „Verantwortung für die Fans“, er fühlt sich in die Position eines Rollenmodells – das er nie hatte sein wollen – gezwängt. Das irritiert ihn nicht nur, es bestürzt ihn. Er fühlt sich überfordert, beginnt erstmalig, sich selbst und seine Rolle als Rockstar in Frage zu stellen. Die Größenordnung, die Nirvana mittlerweile auch live erreicht hatte, bereitete ihm Unbehagen:

Ich liebe es zwar, auf der Bühne zu stehen, allerdings nur, wenn diese sich in kleinen Clubs befindet. Die riesigen Dimensionen der Arenen, in denen wir zur Zeit aufzutreten gezwungen sind, machen mir Angst. Zum einen ist die direkte Kommunikation mit dem Publikum nahezu unmöglich, zum anderen fühle ich mich auf den großen Bühnen buchstäblich verloren.“

Die Presse, in früheren Underground-Tagen ein wohlmeinender Freund, von ihm gern auch benutzt, wendet sich plötzlich gegen ihn, stiehlt ihm Privatleben und Persönlichkeit, baut einen Popanz auf, in dem der sensible Kurt Cobain sich nur noch als abstoßende Karikatur wiedererkennen kann.

Kurt: „Ich habe mittlerweile jedes Vertrauen in die Medien verloren. Seitdem ich aus eigener Erfahrung weiß, dass selbst angeblich seriöse Magazine wie Newsweek Geschichten einfach erfinden, sich nicht einmal die Mühe machen, ihre Behauptungen durch Recherche abzusichern, glaube ich nichts Geschriebenes mehr, nehme ich dem Fernsehen seine Bilder nicht mehr ab. Es scheint völlig egal zu sein, was ich Journalisten erzähle, denn am Ende schreiben sie doch nur, was sie gern gehört hätten.

Diesen Glaubwürdigkeitsverlust, den er der Presse vorwirft, befürchtet er auch für sich selbst. Das Gefühl, sich mittlerweile meilenweit von seinen Fans entfernt zu haben, lässt ihn nicht mehr los.

„Wir wollen auf keinen Fall unsere alten Fans verlieren, jene Leute, die wir von den ersten Tagen an zu unserem Publikum zählten. Denn diese Fans, nennen wir sie ruhig Underground-Publikum, sprechen unsere Sprache, denken wie wir, teilen die gleichen Gefühle und Anschauungen. Sollten die sich von uns abwenden, wäre das ganz sicher ein Alarmsignal, ein Zeichen für uns, dass wir irgendwas sehr falsch machen. Für uns ist es sehr viel wichtiger, dass wir uns selbst treu bleiben, keine Zugeständnisse an die vorgeblichen Zwänge und Erfordernisse des Marktes, des Mainstreams oder derzeit aktueller Trends machen.“

Wie jeder Musiker, der Platten aufnimmt, wollte er natürlich, dass irgendwer sich diese auch anhört:

Ich habe nichts dagegen, Platten zu verkaufen. Je mehr Leute meine Musik hören, desto besser. Es spricht auch nichts dagegen, die Vermarktungsmechanismen der Musikindustrie zu nutzen. Wenn allerdings der Punkt erreicht ist, an dem du diese Mechanismen nicht mehr nutzen und kontrollieren kannst, sondern im Gegenteil ihren Gesetzmäßigkeiten und Anforderungen unterworfen wirst, einfach nur deshalb, weil du plötzlich zu groß geworden bist, dann ist es höchste Zeit, den eigenen Standort zu überdenken und gegebenenfalls die Konsequenzen zu ziehen„, sagt er.

Krist Novoselic nickt dazu, Dave Grohl schaut desinteressiert zur Seite.

Maßanzug als Zwangsjacke

Das genau war Kurt Cobains Problem, war Nirvanas Problem. Nirvana war in den Augen der Öffentlichkeit über Nacht zu einem weltweiten Markenzeichen geworden, zu einem Produkt mit fest umrissenen Eigenschaften, quasi per Kaufvertrag garantiert. Die Erwartungen des Marktes, der Medien, der Industrie und letztlich auch der Fans waren genau definiert. Kurt hatte gefälligst ein Sprachrohr seiner Generation zu sein (ein Ansinnen, das er stets vehement ablehnte), er hatte gefälligst seinen Lebensstil seiner Rolle entsprechend auszurichten, er sollte rund um die Uhr verfügbar sein für die unersättliche Neugier der Medien wie ihrer Konsumenten – darunter natürlich auch die Fans. Nirvana steckte in einer Schlinge, die sich immer weiter zuzog. Ein Ausweg schien musikalische Verweigerung. „In Utero“ war jedoch unterm Strich ein nur halbherziger Versuch. Was auch daran liegt, dass der Songwriter Kurt Cobain ein durchaus geniales Talent für gute Pop-Tunes hatte, das selbst bei bewusst schräg angelegten Kompositionen kaum zu verbergen war. Kurt hatte freilich noch ein anderes Problem. Der Sound von Nirvana war ihm längst zu eng geworden. Als Musiker, der Leonard Cohen genauso liebte wie die Beatles, der sich nie von seinen Black Sabbath- oder Aerosmith-Platten getrennt hatte, profunde Kenntnisse in Folk, Jazz und Country besaß, wollte er sein musikalisches Wirkungsfeld auf Dauer weiter gestalten. Weiter, als Nirvana es erlaubt hätte. Auch das war wohl ein Grund für den häufiger geäußerten Wunsch, Nirvana hinter sich zu lassen.
Wie eine Erleichterung und kurzfristige Flucht muss ihm da seine Kooperation mit dem von ihm glühend bewunderten Schriftsteller und Poeten William S. Burroughs erschienen sein:

Burroughs hat Passagen aus seinem Gedicht ‘The Priest They Called Him’ gelesen, ich habe dazu im Hintergrund Gitarre gespielt. Keine Ahnung, ob’s ihm gefallen hat. Ich kann jedoch auf jeden Fall sagen, dass ich kaum jemanden so sehr bewundere wie William S. Burroughs.“

Es hat Burroughs gefallen, Monate später hat er Cobain zu sich nach Hause eingeladen. Der Dichter starb im Jahr 1997.

Kurt Cobain war in den letzten Monaten vor seinem Tod ein Getriebener in einer Welt, in die er eher zufällig hinein gestolpert war, die aber nach anderen Regeln funktionierte als die ihm bis dahin vertrauten. Er suchte einen Ausweg, der es ihm erlaubte, seine Identität zu behalten und seine Integrität als Künstler. Ob dieser Ausweg allerdings wirklich Selbstmord hieß – diese Frage wird wohl niemand mehr beantworten können. Er hinterließ ein reiches musikalisches Vermächtnis, eine Tochter, die er zu Lebzeiten vergötterte, eine Frau, eine Band und Millionen Fans in aller Welt.

PS: Jener weiter oben erwähnte Sommertag im August 1993 endete übrigens für Kurt Cobain mit einem Aerosmith-Konzert. Als er nach dem Gig mit seinen früheren Idolen zusammentraf, war er für einen Moment wieder selbst ein schüchterner Fan.

Edgar Klüsener

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Iran Mittlerer Osten Reportagen Zeitgeschichten

Juden im Iran: Ein Leben im Widerspruch

Schroffe Töne zwischen Israel und Iran. Holocaust-Leugnung auf der einen Seite, die unverhüllte Drohung mit Luftschlägen auf der anderen. Mittendrin, meistens vergessen und nur selten erwähnt, etwa 25.000 Juden im Iran, seit Jahrtausenden im Lande ansässig, Iraner per Staatsangehörigkeit, Juden durch ihre Religion und daher eigentlich beiden Seiten suspekt. Da stellt sich die Frage: Wie leben sie eigentlich, die Juden im Iran?*

Gut, sagen die, die noch im Lande verweilen. Gut, sagt auch Siamak Morsadegh, Kopf des Jüdischen Komitees von Teheran und Abgeordneter in der Majles, dem iranischen Parlament. Morsadegh fühlt sich in erster Linie als iranischer Patriot jüdischen Glaubens. Das mache ihn jedoch nicht automatisch zum Zionisten und zu einem Befürworter israelischer Besatzungspolitik, betont er immer wieder. Um diesen Standpunkt ganz klar zu machen, protestiert er auch schon mal öffentlich vor der UNO-Vertretung in Teheran gegen die israelischen Angriffe auf Gaza.

Aber als Vertreter der jüdischen Minderheit im Parlament hat er eigentlich andere Sorgen. Er muss die Interessen der Juden vertreten in einer erklärt islamischen Republik, muss sich für sie einsetzen und vor allem auch darauf achten, dass die Gemeinde nicht zum Opfer aufgepeitschter antiisraelischer Emotionen werden, die in unverhohlenen Antisemitismus umschlagen. Beispiellos wäre das auch in der jüngeren iranischen Vergangenheit nicht. Die politische Großwetterlage macht den Job nicht gerade leichter, denn das Verhältnis zwischen Iran und Israel könnte wirklich schlechter kaum sein. Irans gerade abgewählter Präsident Ahmadinejad hätte den „Zionistenstaat“ am liebsten von der Landkarte getilgt, während sein israelischer Gegenpart Olmert demonstrativ Luftwaffenmanöver abhalten ließ, in denen der Angriff auf Iran und seine Nuklearanlagen geprobt wurden. Die Wahlen in Israel und der daraus resultierende Rutsch nach noch weiter Rechts lassen kaum auf Entspannung hoffen, auch wenn Irans neuer Präsident Rouhani merklich moderatere Töne anschlägt und ernsthaft um Entspannung des Verhältnisses mit dem Westen – und damit auch mit Israel – bemüht scheint.

Angesichts der düsteren Schlagzeilen überrascht es schon, dass die Islamische Republik Iran immer noch die Heimat für die größte jüdische Minderheit im gesamten Nahen und Mittleren Osten ist. Zwischen 25.000 und 35.000 Juden – die Schätzungen variieren je nach Quelle – leben heute noch im Iran, die überwiegende Mehrheit in Teheran. Aber was ist das für ein Leben? Ein Leben in Geiselhaft? Ein Leben in ständiger Lebensgefahr in einem Staat, in dem der Antisemitismus so virulent und potenziell mörderisch ist wie einst im Deutschland der Nazizeit, wie Victoria Golshani in der Harvard-Publikation „New Society“ behauptet? Der Blick auf den Alltag der Juden im Iran enthüllt ein wesentlich komplexeres Bild.

Ayatollah Khomeini

Wer sich heute in der Megapolis Teheran umschaut, wird nicht lange nach Spuren sehr lebendigen jüdischen Lebens suchen müssen. Das jüdische Hospital ist eins der besten in Teheran, und das nächste Kosher-Restaurant ist nirgendwo allzuweit weg. In der Stadt allein gibt es dreißig Synagogen, die Juden haben eigene Schulen und einen eigenen Abgeordneten im Parlament. Und sie reagieren manchmal gereizt auf Einmischung von außen. Im Juli 2007 machte ein Angebot Schlagzeilen, das die israelische Hebrew Immigrant Aid Society allen iranischen Juden unterbreitet hatte: Jeder jüdischen Familie wurden 5.000 Dollar im Gegenzug für die Auswanderung aus Iran versprochen. Für die Schlagzeilen vor allem in der englischen und amerikanischen Presse sorgte jedoch nicht so sehr das Angebot selbst, sondern vielmehr die empörte Reaktion der iranischen Juden. Der englische Guardian zitierte ein öffentliches Statement der „Society of Iranian Jews“: „Die Identität iranischer Juden kann nicht ge- oder verkauft werden. Iranische Juden leben seit Urzeiten in Iran. Sie lieben ihre iranische Identität und ihre Kultur; weder Drohungen noch dieser unreife politische Bestechungsversuch werden ihr Ziel erreichen, die Identität iranischer Juden auszulöschen.“

Das Stichwort hier ist Identität. Jüdische Gemeinschaften existieren im Iran seit dem 7. Jahrhundert vor Christus und bilden damit die älteste jüdische Diaspora-Gemeinde. Im Iran finden sich die meisten heiligen jüdischen Stätten außerhalb Israels, und der Einfluss, den die iranischen Juden in den vergangenen dreitausend Jahren auf die Entwicklung der iranischen Gesellschaft, ihrer Kultur und Poesie hatte, ist enorm. Bis zur Zerschlagung des Sassaniden-Reiches durch die Heere der muslimischen Araber im siebten nachchristlichen Jahrhundert waren die Juden nur eine von mehreren gleichberechtigten religiösen Gruppen im Iran gewesen. Verfolgungen wie offenkundige Benachteiligungen hatten sie, anders als die frühen Christen, kaum je erleiden müssen. Mit der Etablierung des Islam allerdings änderte sich ihr Status. Zwar genossen Juden wie Zarathustrier und Christen als Dhimmi (ahl al-dhimma – Menschen des Buches, Angehörige von monotheistischen Religionsgemeinschaften) den besonderen Schutz des Korans, waren aber den Muslimen rechtlich nicht gleichgestellt. Trotzdem kam es auch nach der Islamisierung Irans nur selten zu Übergriffen gegen die jüdischen Gemeinschaften. Das änderte sich erst, als die Safaviden den Zwölfer Schiismus zur Staatsreligion machten. Von da an berichten jüdische Chroniken immer häufiger von Mißhandlungen, Verfolgungen und gewaltsamen Bekehrungen zum Islam. Allerdings waren die Juden nicht die einzigen oder bevorzugten Opfer, sondern teilten ihr Schicksal mit Christen, Zarathustriern und anderen religiösen Minderheiten. Die wohl entscheidende Veränderung für den Umgang der islamischen Mehrheit mit ihren religiösen Minderheiten war die Anwendung des Konzeptes der ‚Unreinheit‘ (nejasat) auch auf die Angehörigen der vom Koran anerkannten monotheistischen Religionen. Anders als im Sunni Islam, lehrten die schiitischen Theologen, dass jeder Kontakt mit Ungläubigen unrein sei und deshalb nach Möglichkeit vermieden werden müsse.

Eine direkte Folge war die zunehmende Segregation der nicht-muslimischen Gemeinschaften von der muslimischen Mehrheit. Die Zahl der interkonfessionellen und interethnischen Heiraten, bis dahin durchaus alltäglich, ging dramatisch zurück. Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch erlitten die iranischen Juden so heftige und weitreichende Verfolgungen, dass Nahost-Historiker wie Eliz Sansarian zu dem Schluss kommen, dass die iranische Variante des Schiismus in sich selbst antisemitisch sei.

Dass sich viele Juden an der Konstitutionellen Revolution von 1905-1911 beteiligten, verwundert bei diesem Hintergrund kaum noch. Die neue Verfassung garantierte Juden, Christen und Zarathustriern das Recht auf jeweils einen eigenen Abgeordneten im neuen Parlament und erkannte sie – anders als Hindus, Buddhisten und Baha-i – als offiziell gleichberechtigte religiöse Minderheiten an. Ihr Vertreter im Parlament (Majles) war allerdings kein Jude, sondern ein islamischer Geistlicher.

Als sich 1948 der Staat Israel gründete, erlebte Iran eine Massenauswanderung seiner jüdischen Bürger. Rund ein Drittel aller iranischen Juden folgte zwischen 1948 und 1953 dem Ruf der zionistischen Staatsgründer, die überwiegende Mehrheit der ärmeren jüdischen Landbevölkerung. Die, die im Lande blieben, waren vor allem die urbanen Juden in Teheran, Isfahan und anderen großen Städten, die wohlhabende jüdische Mittel- und Oberschicht. Die, die blieben, erlebten die kommenden Jahrzehnte unter der säkularen Herrschaft von Shah Mohammed Reza Pahlavi als eine Zeit der kulturellen und wirtschaftlichen Blüte. Rund 80.000 lebten noch im Iran, als im Frühjahr 1979 die Revolution ausbrach. Die Revolution war getragen von einer breiten Koaliton aus Kommunisten, liberalen Intellektuellen, traditionellen Mittelschichten, Gewerkschaften, Künstlern und der schiitischen Geistlichkeit. Auch jüdische Künstler und Intellektuelle, angewidert von der brutalen Diktatur der Pahlavis, engagierten sich für die Revolution, zu deren charismatischem Führer sich mehr und mehr der exilierte Ayatollah Ruhollah Khomeini entwickelte.

Blick auf Teheran

Erst als die Revolution einen zunehmend islamischen Charakter annahm und als sowohl Revolutionsführer Khomeini selbst als auch andere führende Geistliche wiederholt antisemitische und antizionistische Reden schwangen, wuchs die Besorgnis unter den iranischen Juden.Mehrere Zehntausende verließen das Land. Entsprechend alarmiert reagierten die Führer der verbleibenden jüdischen Gemeinde auf die Entwicklungen. Sie suchten den unmittelbaren Kontakt mit dem greisen Ayatollah. Kaum kehrte der im Triumph aus dem Pariser Exil nach Teheran zurück, kam es zu einem Treffen zwischen ihm und Vertretern der jüdischen Gemeinde. In diesem Treffen garantierte Khomeini den Juden ihren Status als religiöse Gemeinschaft unter dem Schutz des Koran, die Gleichberechtigung mit den Muslimen und einen eigenen Vertreter im künftigen Parlament und erließ eine entsprechende Fatwa. Er selbst mäßigte seine antisemitische Rhetorik in der folgenden Zeit erheblich. Trotzdem kam es zum Ende der Revolution und in den Anfängen der islamischen Republik immer wieder zu vereinzelten lokalen Ausschreitungen gegen Juden und jüdische Einrichtungen. Antisemitische Einstellungen und Rhetorik fanden sich während der Revolution übrigens ebenso in den Äußerungen der Linken und der säkularen Nationalisten.

Der Konflikt der islamischen Republik mit dem Staate Israel machte die Lage der Juden im Lande prekär. Verdächtigungen, sie seien eine Fünfte Kolonne der Israelis waren an der Tagesordnung. Der jüdische Delegierte Daneshrad in der konstituierenden Versammlung sah sich immer wieder gezwungen, ausdrücklich die Loyalität der Juden mit Iran und mit der islamischen Republik zu betonen.

Die Lage der jüdischen Minderheit besserte sich während des Krieges mit Irak. Vor der Revolution war Iran einer der wichtigsten Märkte für israelische Rüstungsexporte gewesen. Die Israelis hatten ein starkes Interesse, diesen Markt auch nach der Revolution nicht aufzugeben, und so kam es schon Anfang 1980 in Paris zu einem Treffen zwischen einem Offiziellen des israelischen Verteidigungsministeriums, Mordechai Zipori, und Vertretern von Khomeini. Mit der Aufnahme von Geheimverhandlungen wollte die israelische Regierung auch zusätzliche Garantien für die Sicherheit der immer noch rund 50.000 iranischen Juden gewinnen. Das Treffen resultierte in einem Waffendeal, der Israel in den folgenden Jahren zu Irans mit Abstand wichtigstem Rüstungspartner machte. Das jährliche Waffenhandelsvolumen lag 1985 bei geschätzten 500 – 800 Millionen Dollar. Dass auch die amerikanische Reagan-Administration später in diesen Deal verwickelt wurde, machte erstmals im November 1986 das libanesische Magazin Ash-Shiraa publik. Präsident Reagan musste dann in einer Rede am 13. November 1986 die amerikanische Verwicklung, die als Iran-Contra-Deal in die Geschichte eingegangen ist, eingestehen.

Die Auswirkungen des Iran-Irak-Krieges auf die iranische Gesellschaft waren dramatisch und sind bis heute zu spüren. Die Strukturen der Gesellschaft, durch die Revolution bereits angegriffen, wurden durch den Krieg in ihren Grundzügen erschüttert. Eine der Folgen war die Herausbildung einer deutlichen und schroffen Polarisierung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, von der die jüdische Minderheit weit stärker betroffen war als die anderen religiösen und ethnischen Minderheiten – mit Ausnahme der Baha-i. Es erwies sich allerdings auch, dass der Rechtsschutz, den die Verfassung gewährte, in der Praxis tatsächlich funktionierte. Wiederholt kassierten iranische Gerichte gegen jüdische Einrichtungen gerichtete Maßnahmen örtlicher Behörden, und auch jüdische Proteste gegen antisemitische Berichterstattung in den Medien waren in der Regel erfolgreich.

Die Lage der jüdischen Gemeinschaft entspannte sich ab 1997 sichtlich mit dem Amtsantritt des gemäßigten Reformers Präsident Khatami. Von größter Bedeutung war vor allem die Aufhebung der meisten Reisebeschränkungen. Obwohl nach wie vor offiziell verboten, können iranische Juden seitdem ungehindert über Drittländer nach Israel reisen und in den Iran zurückkehren. Auch nach Israel ausgewanderte Juden können nun jederzeit den Iran und dort lebende Familienmitglieder besuchen.

Unter dem konservativen Präsidenten Ahmadinejad fanden sich die Juden in einer eigenartigen Situation wieder. In allen öffentlichen Verlautbarungen gab sich Ahmadinejad radikal antizionistisch und antiisraelisch, er stellte den Holocaust in Zweifel und suchte die offene Konfrontation mit beiden, Israel und dem Westen. Innenpolitisch war er bestrebt, viele der Reformen seines Vorgängers Khatami rückgängig zu machen, die Liberalisierung der Gesellschaft zu stoppen und seine eigene Machtposition auch gegenüber dem Obersten Führer Ayatollah Khameini auszubauen. Die Medien wurden wieder weit schärfer zensiert, die Durchsetzung islamischer Bekleidungsvorschriften, die Verfolgung von Künstlern, Journalisten und Liberalen war – und ist – so intensiv wie zuletzt in der Zeit direkt nach der Revolution. Propagandalügen wie die „Protokolle der Weisen von Zion“ wurden unter Ahmadinejad erneut zu Bestsellern und es wurden vereinzelte Fälle von antijüdischen Übergriffen bekannt, die allerdings auch von Polizei und Gerichten geahndet wurden. Trotzdem ist die Lage der Juden nach wie vor insgesamt sicher. Und sie haben durchaus eine Stimme in den innenpolitischen Auseinandersetzungen. Einer der schärfsten Kritiker von Präsident Ahmadinejad war der jüdische Parlamentsabgeordnete Maurice Motamed, Vorgänger des 2008 in die Majles gewählten Siamak Morsadegh. In einem offenen Brief an den Präsidenten, der im Iran erhebliches Aufsehen erregte, verurteilte er mit deutlichen Worten Ahmadinejads Äußerungen zum Holocaust. Und er wusste in dieser Frage nicht nur den obersten Führer Khameini hinter sich, der seinerseits erklärt hat, dass es am Holocaust und am grausamen Unrecht, dass die Europäer den Juden angetan haben, keinen Zweifel geben dürfe. Auch die Medien folgten Ahmadinejad in dieser Frage weit weniger bereitwillig, als ihm lieb gewesen sein dürfte. Einer der größten Hits in der iranischen Fernsehgeschichte ist ausgerechnet eine Serie, die den Holocaust thematisiert. „Null Grad Wende“, so der übersetzte Titel der Drama-Serie, erzählt die Geschichte eines iranischen Diplomaten im Paris unter deutscher Besatzung, der iranische Pässe an französische Juden ausgibt und ihnen so die Flucht aus Europa ermöglicht. Die Serie, im November 2007 erstmals vom Staatssender IRIB ausgestrahlt, thematisierte die Wirklichkeit der deutschen Todeslager in einer Deutlichkeit, die keinen Raum für Zweifel oder Interpretationen lässt. Entschiedener konnte Ahmadinejad im eigenen Land nicht widersprochen werden.

Der bemühte sich durchaus auch selbst um das Wohlwollen der jüdischen Iraner. Nicht nur versuchte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu verdeutlichen, dass er zwar Antizionist sei und ein Problem mit dem Staate Israel habe, aber eben kein Antisemit. Er schätze die jüdischen Bürger Irans, respektiere ihre Kultur und ihre Religion. Um den Worten Taten folgen zu lassen, spendete sein Büro seit seinem Amtsantritt regelmäßig für das jüdische Krankenhaus in Teheran, das nicht zuletzt auch dank der Zuwendungen aus dem Präsidentenamt eins der besten Krankenhäuser Irans ist.

Die Gegenwart der Juden im Iran während und nach Ahmadinejad ist so komplex wie das Land und seine Gesellschaft selbst. Ironischerweise ist seit der Revolution ausgerechnet der Islam ihr bester Schutz vor Willkür und Verfolgung. Weil der Islam die jüdische Religion als eine Religion des Buches anerkennt – und damit schützt – und weil Khomeini die Juden in einer Fatwa noch einmal ausdrücklich unter den Schutz des Islam und der Verfassung gestellt hat, konnte ihre Gemeinschaft nicht nur überleben, sondern sich auch weitgehend problemfrei in die nachrevolutionäre iranische Gesellschaft eingliedern. Die Juden im Iran haben ihre eigene politische Repräsentation und sind frei in der Ausübung ihrer Religion und Kultur. Aber sie sind auch unentrinnbar verwickelt in den Konflikt zwischen Israel und Iran. Die heimlichen und offen ausgesprochenen Zweifel an ihrer Loyalität machen sie zu Zielscheiben für Elemente in der konservativen Geistlichkeit ebenso wie für einige der konservativen Medien. Aus dieser Situation heraus wird die schroffe Reaktion auf das eingangs erwähnte „Geld für Auswanderung“-Angebot leichter verständlich.

Intern scheint sich die Lage der Juden mit der Wahl von Rouhani zum neuen Präsidenten wieder zu verbessern, Der mäßigt nicht nur die offizielle Rhetorik und sucht einen sachlicheren Umgangston, er hat auch pünktlich zum 4. September – das jüdische Neujahrsfest Rosh Hashanah – eine Grußbotschaft an alle iranischen Juden verschickt, Die Botschaft scheint eine erneute ausdrückliche Anerkennung der Juden als gleichberechtigte iranische Staatsbürger zu implizieren und damit ihren Status, der unter Ahmadinejad oftmals mehr als gefährdet schien, bekräftigt.

Edgar Klüsener

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Reportagen Zeitgeschichten

Muhammad Shahrur – der Martin Luther des Islam?

Mohammed Shahruhr

Von Haus aus ist Muhammad Shahrur Ingenieur, ein Pragmatiker, der die Fragen des Lebens mit der Logik und Methodik des Mathematikers angeht. Die Fragen, mit denen der syrische Professor sich hauptsächlich beschäftigt, sind die von Religion, Kultur, Moral und Menschlichkeit. Die Religion ist der Islam, die Kultur im weiteren Sinne die islamische, im engeren die arabische des Nahen Ostens, die dem Islam zugrunde liegt. Seine Überlegungen schreibt er in Büchern auf, die von erheblicher Sprengkraft sind. Seine Bedeutung für die zeitgenössische islamische Welt wird inzwischen mit der von Martin Luther für das Christentum verglichen. In manchen arabischen Staaten sind diese Bücher schlicht verboten und werden nur unter der Ladentheke gehandelt. In anderen muslimischen Weltgegenden dagegen wie im  bevölkerungsreichsten muslimischen Land Indonesien werden sie längst vehement in den Universitäten gelehrt und diskutiert. Auch unter europäischen Muslimen gewinnt er zunehmend neue Anhänger. Und Feinde. Denn seine Positionen machen ihn vielerorts äußerst unbeliebt, vor allem in der traditionellen Geistlichkeit und, mehr noch, unter radikalen Islamisten.*

Im Gespräch ist der streitbare syrische Professor manchmal ein bisschen weitschweifig. Seine Antworten ufern aus zu langen Monologen, in deren Verlauf er mit sich selbst zu diskutieren scheint, einen Gedanken von mehreren Seiten beleuchtet und abwägt. Trotzdem, er verliert nie den Argumentationsfaden.

Zunächst einmal galt es“, sagt er, „zu realisieren, dass der Islam ein essentieller Bestandteil unserer Kultur ist. Um unsere Kultur nicht nur zu verstehen, sondern sie auch zu verändern, sie in die heutige Zeit zu transformieren, muss ich mich daher zunächst einmal mit dem Wesen des Islam auseinandersetzen. Was also ist Islam?

Shahrurs Antwort auf diese Frage ist ebenso simpel wie unerhört und unverdaulich für islamische Orthodoxie: „Der Koran“, sagt er, „wurde im siebten Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel verfasst. In diesem spezifischen Kontext sollte er daher auch verstanden werden. Da ist die allgemeine Auffassung, dass der Koran Gültigkeit besitzt für jede Generation bis zum Ende aller Tage. Davon bin ich ganz und gar nicht überzeugt. Weiterhin soll der Koran für alle Völker, für die gesamte Menschheit gültig sein. Das sehe ich ebenfalls nicht so.“

Das Heilige Buch ist nach Shahrur keine ewig währende, unumstößliche Wahrheit und göttliche Handlungsanweisung, sondern in seinem Hauptteil reines Menschenwerk. Und als solches voll von kulturellem, ideologischem und zivilisatorischem Ballast aus vierzehn Jahrhunderten. Diesen Ballast zu identifizieren, den göttlichen Kern der Religion freizulegen und ihn von menschlichem Beiswerk zu befreien, das ist Shahrurs Hauptanliegen.

In einer Zeit, in der sich extremistischer Islamismus auf ebenso gewalttätige wie marktschreierische Art als einzig wahre Stimme des Islam zu etablieren sucht, verkündet der Doktor aus Damaskus eine weit stillere Botschaft. Eine Botschaft allerdings, die das Potenzial hat, den Islam von Grund auf zu revolutionieren. Oder, wie der einflussreiche TV-Geistliche Yusuf Al- Qaradawi auf Al-Jazeera öffentlich bekundete: „Das ist eine neue Religion“. Neu ist aber nicht die Religion, neu ist Shahrurs Auffassung und Interpretation des Islam.

Sein Schlüsselerlebnis hatte er, als der Sechstage-Krieg der arabischen Staaten mit dem noch jungen Israel in einer vernichtenden Niederlage für die Araber endete.

Die Menschen in der arabischen Welt waren schockiert von der deutlichen Niederlage, und es gab die unterschiedlichsten Erklärungsversuche. Als ich das erste Freitagsgebet nach der Niederlage besuchte, verkündigte der Prediger, der Krieg sei verloren worden, weil unsere Frauen den Schleier abgelegt hätten. Er hatte anscheinend gar nicht mitbekommen, dass wir auch von jüdischen Mädchen in Shorts besiegt worden waren. Einige Tage später traf ich einen Kommunisten, und der erklärte mir, der Grund für unsere Niederlage sei das Fasten im Ramadan. Ich war nun wirklich perplex und sagte zu ihm: Du und der Prediger in der Moschee, ihr seid zwei Seiten derselben Medaille; der eine links, der andere rechts, das ist der einzige Unterschied. Das war der Moment, in dem ich realisierte, dass mit unserer ganzen Denkungsart etwas im Argen liegt, mit unserer Weltsicht und mit unserem Verständnis der Welt. Ich beschloss, dem auf den Grund zu gehen. Ein eminent wichtiger Bestandteil, eine der Wurzeln, unserer Kultur ist die Religion. Um unsere Kultur zu verstehen, musste ich also mit der Religion beginnen.“

Shahrurs grundsätzlicher methodologischer Ansatz ist der eines Wissenschaftlers, sein analytisches Instrumentarium das des Linguisten „Wenn Gott den Menschen eine Offenbarung gegeben hat,“ sagt er,  „dann muss diese Offenbarung so klar und präzise sein wie ein Naturgesetz und ebenso universell gültig.  Die Offenbarung vom Menschenwerk zu trennen war also meine erste Aufgabe. Dazu gehört auch die linguistische, kontextorientierte Analyse der Sprache des Koran.

Islam ist in Shahrurs Verständnis nicht allein die Religion der Anhänger Mohammeds, sondern jede monotheistische Religion, also ebenso Christentum und Judentum. Der Glaube an den einen Gott und, damit verbunden, an einen universalen Ethos, wie er sich im Kern in allen drei Religionen wiederfindet und wie er ebenfalls in den zehn Geboten der Bibel artikuliert ist, ist der eigentliche Islam. Diese grundsätzliche Ethik, argumentiert Shahruhr, sei in der menschlichen Auslegung des Koran verlorengegangen. Stattdessen sei die Religion monopolisiert worden von einer Klasse religiöser Exegeten, deren Autorität eben dem Dogma entlehnt ist, dass der Islam unveränderlich sei. Die Religion ist demnach durch die Jahrhunderte zum Herrschafts-Werkzeug verkommen, zum Deckmantel, der autokratischen und despotischen Regimen Legitimität verleiht.

In Anspielung auf die dänischen Karikaturen, die in der islamischen Welt für so viel Empörung  gesorgt haben, macht er seinen Standpunkt klar:

„Nehmen wir mal an, statt des dänischen Zeichners hätte ein ägyptischer Karikaturist einen Mohammed-Cartoon gezeichnet. Die Empörung wäre gewaltig gewesen, und der Druck der Straße hätte die ägyptische Regierung zweifellos dazu  gezwungen, den Zeichner zu verhaften und hinzurichten. Wenn aber dieselbe Regierung herginge  und mal eben an einem einzigen Tag in Kairo 10.000 Leute verhaftete, dann hätte das kaum irgendwelche Folgen für sie. Und schon gar keinen öffentlichen Aufschrei. Diese Erkenntnis ist sehr wichtig! In unserer Kultur schätzen wir den Wert von Freiheit nicht besonders. Ein Grund dafür ist, dass wir von frühester Kindheit an eingetrichtert bekommen, wir seien Gottes Sklaven. In meinem Buch schreibe ich, dass wir keine Sklaven Gottes sind. Wir können die Sklaven anderer Menschen sein, aber nicht die Gottes. Denn Gott hat uns als freie Wesen erschaffen. Wenn wir Gott anbeten, dann aus unserer eigenen freien Entscheidung heraus. Gott hält keine Sklaven und er will keine Sklaven.“

Mit seiner von Maximen der kritischen Vernunft geleiteten Auslegung des Koran, der Hadith sowie der islamischen Jurisprudenz legt sich der Doktor aus Damaskus nicht nur mit der orthodoxen islamischen Geistlichkeit und radikalen Islamisten an, sondern auch mit den meisten Machthabern in der islamischen Welt, von Saudi Arabien bis Pakistan.

Deren Problem ist, dass sich Shahrur weder einfach verbieten noch totschweigen lässt. Zwar gibt es vereinzelte Todesdrohungen gegen ihn, aber sie sind eher die Ausnahme. Was seinen religiösen Gegnern das Leben schwer macht, ist, dass Shahrur von innerhalb des Islam argumentiert; seine intime Detailkenntnis des Koran, der islamischen Jurisprudenz und der in den Hadith gesammelten Überlieferungen  machen es für sie unmöglich, ihn als Scharlatan oder irregeleiteten Abweichler abzutun. Sie müssen sich mit seiner Argumentation ernsthaft auseinandersetzen. Und sie tun es. In den letzten Jahren ist eine Anzahl langer und ausführlicher Erwiderungen zu seinen Thesen veröffentlicht worden, und deren Zahl nimmt weiter zu. Zu nimmt aber ebenfalls die Zahl der Übersetzungen von Shahrurs Werk in andere Sprachen, die seine Thesen nun auch Muslims in Ländern wie der Türkei, Indonesien oder in den Staaten Europas zugänglich machen und damit die Debatte in der gesamten islamischen Welt forcieren. Eine Debatte, in der es um nichts weniger als die Seele – und damit die Zukunft – des Islam geht. Eine Debatte, deren Ausgang auch für die nicht-islamische Welt von entscheidender Bedeutung sein wird.

Wir brauchen“, sagt Shahrur zum Abschied noch, „dringend eine Reformation wie sie das Christentum erlebt hat. Eine Rückbesinnung auf den göttlichen Kern der Religion und eine Neuinterpretation des Koran, die unserer Zeit gerecht wird. Schließlich ist die Gabe der Vernunft das größte Geschenk, das Gott den Menschen gegeben hat. Also müssen wir auch von ihr Gebrauch machen.“

Edgar Klüsener

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Verwunschene Wasserwelten – unterwegs mit dem Kanalboot

Langsam… du bist zu schnell!

Nicht so schnell, runter vom Gas!!!“ Irritiert schaue ich auf den Käptn. Ich bin gerade von zwei gemächlich ausschreitenden Spaziergängern auf dem Pfad neben dem Kanal überholt worden. Trotzdem werde ich nun des Rasens bezichtigt. “Jau”, sagt der Käptn. “Du bist zu schnell. Wenn du an ankernden Kanalbooten vorbeifährst, musst du schön langsam bleiben. Sonst schlägst du zu hohe Wellen und die Leute in den Booten werden durchgeschaukelt und verschütten ihren Tee. Also runter mit dem Tempo!”? Gehorsam drossele ich die Geschwindigkeit weiter. Vom Motor ist jetzt kaum noch was zu hören, beinahe lautlos gleitet unser Boot an der friedlich am Uferrand ankernden „Ellie“ vorbei. So langsam, dass ich mir ziemlich sicher bin, dass niemand an Bord der Ellie auch nur einen Tropfen Tee verschütten wird. Dafür ist mein Puls jedoch erheblich beschleunigt. Die Wasserstraße ist eng, sehr eng. Zwischen unserem Boot, der Ellie und dem gegenüberliegenden Ufer passt auf beiden Seiten kaum mehr als ein Paar Stiefel. Die Gefahr, die Ellie versehentlich zu schrammen ist durchaus real. Dann dürften wohl mehr als nur ein paar Tropfen Tee verschüttet werden. „Du machst das gut.“ sagt der Käptn, „sieh nur zu, dass du das Boot gerade hältst.“

Das Boot ist gute 20 Meter lang, ich stehe am hinteren Ende, und der Bug scheint meilenweit entfernt. Was da vor der Bootsspitze im Wasser treiben könnte, kann ich weder sehen noch erahnen, höchstens befürchten. Ich klammere mich ans Ruder, bemüht, es so ruhig wie möglich zu halten. Aus dem Inneren des Bootes klingt Musik, Stimmengewirr, das Klirren von Gläsern und Besteck. Keine Frage, meine Mitpassagiere genießen die Reise. Dass die mitten durch die urbanen Vororte von Greater Manchester geht, kann man an Bord nur ahnen. Dicht bepflanzte Böschungen schirmen den Kanal auf beiden Seiten ab, vom Boot aus sieht man selten mehr als viel lauschiges Grün, pittoreske Brücken aus dem ausgehenden Neunzehnten Jahrhundert und andere Kanalboote, die entweder gemächlich einem unbekannten Ziel entgegen tuckern oder am Ufer angeleint sind. Zu meiner grenzenlosen Erleichterung gab es seit Beginn der Bootsfahrt kaum nennenswerten Gegenverkehr, die Herausforderungen an meine begrenzten Steuermanns-Fähigkeiten blieben daher wohltuend begrenzt. Das soll sich jedoch schnell ändern. Ausgerechnet in einer Kurve kommt mir die Sunderland entgegen.

Das Boot ist lang, der Gegenverkehr macht mulmig

Okay, jetzt nur keine Panik”, sagt der Käptn und wirkt plötzlich hellwach. “Das kriegen wir schon hin. Geh mal noch ein bisschen mehr vom Gas runter.” Er steht jetzt direkt neben mir, bereit, mir jederzeit das Ruder aus der Hand zu nehmen, falls erforderlich. Aber noch darf ich. Vom Heck sieht es beinahe so aus, als würde irgendwo ganz weit da vorne der Bug des Bootes sich langsam, aber unaufhörlich in die Seite der Sunderland rammen. Tatsächlich aber trennen die beiden Boote noch gut fünfzehn Zentimeter schmutzig-graues Wasser voneinander. “Du machst das gut, Junge”, sagt der Käptn aufmunternd. Seine Körpersprache allerdings drückt eher alarmierte Besorgnis aus. Irgendwie komme ich am Ende doch berührungsfrei an der Sunderland vorbei. “Das war die Härteprüfung”, sagt der Käptn. „Jetzt können wir dich auf die Kanäle loslassen.“

Diese Kanäle, die meisten während der Industriellen Revolution als schnelle und verlässliche Transportrouten für den Produktionsausstoß der Textilfabriken im Nordwesten Englands gebuddelt, durchziehen England kreuz und quer. Nennenswerter Fracht- und Güterverkehr findet nur noch auf den wenigsten statt. Mit dem Niedergang der einstigen Zentren britischer Textil- und Schwerindustrie sind auch die plumpen Lastkähne von den meisten Wasserwegen verschwunden. Ihren Platz nimmt nun eine ganz eigene Zivilisation der Frei- und Vollzeit-Wassernomaden ein. Das Leben auf dem Wasser ist nicht billig. Ein Boot wie das Narrow-Boat, das ich gerade mit schweißnassen Händen um die Kurve manövriert habe, kann voll ausgestattet gut und gerne 27.000 Euros kosten. Für den Preis gibt es allerdings auch allerhand Komfort. Bordtoilette und gut ausgestattete Küche sind ebenso im Preis inbegriffen wie separate Schlaf- und Wohnbereiche. Hinzu kommen Kosten für regelmäßige Wartung und Instandhaltung, Gas und Elektrizität. Rund 15.000 Briten haben mittlerweile das Reihenhaus oder die Mietwohnung gegen ein Kanalboot eingetauscht schätzt die britische Tageszeitung The Independent. Doch nicht nur sie haben die vielfältigen Reize der künstlichen Wasserwelten entdeckt. Die Ruhe und Gemächlichkeit, die die Kanäle mitten in urbanen Ballungsräumen bieten, zieht immer mehr Städter für kurze Ausflüge mit Freunden und Familien in gemietete Narrow-Boats. Sie suchen die Andeutung von Naturnähe und die verträumten Morgenstimmungen, wenn Dunstschleier die Grenzen zwischen Land und Wasser verschwinden lassen und eine Atmosphäre märchenhafter Unwirklichkeit schaffen, Oder sie feiern Parties auf den Booten, auch das ein Trend, der vor allem im traditionell partywütigen Manchester, wo mitten im Herzen der Stadt ein zentraler Kanal-Knotenpunkt eine ganz eigene urbane Wasserwelt zum Vergnügungszentrum geworden ist, den Wasserwegen neues Leben schenkt.

Mystische Kanalatmosphäre

Rund um die Kanäle hat sich in den letzten Jahren eine florierende Touristikbranche entwickelt. Die Angebotspalette reicht von kurzen Kanaltrips für Familien und kleine Gruppen, die in der Regel nicht länger als drei oder vier Stunden dauern und bei denen die Bordverpflegung im Preis inbegriffen ist, über Tagesausflüge bis hin zu „Ferien auf dem Wasser“- Angeboten, in denen ein Boot für Tage oder Wochen gemietet werden kann. Wer letzteres bucht, muss allerdings durch eine Schulung, bevor dann eigenhändig das Boot in den Sonnenuntergang gesteuert werden kann. Der Schnellkurs macht künftige Freizeit- und Ferienkapitäne mit den Regeln der Wasserwege vertraut, mit der Handhabung des Bootes und mit den Ankerbestimmungen. Vor allem aber wird die Bedienung der unzähligen Schleusen trainiert, die das gemächliche Hingleiten immer wieder mal unterbrechen. Die stellen die größte Herausforderung für Freizeitkapitäne dar. Immer wieder mal schafft es einer, und nicht immer ist es ein unerfahrener, sein Boot in einer Schleusenkammer zu versenken. In der Regel kommen Bootsführer und Passagiere in solchen Situation mit dem Schrecken und einem gehörigen Sachschaden davon. Sehr gelegentlich allerdings gibt’s auch Schwerverletzte oder gar Tote. Kein Wunder, dass Bootsvermieter bei der Schulung nicht mit sich spaßen lassen und auch schon mal Kunden ablehnen, die während der Schulung keine gute Figur gemacht haben.

Mein Käptn scheint ganz zufrieden mit mir zu sein. Über Meilen geht’s jetzt einfach nur geradeaus, und so lässt er mich zum ersten Mal allein am Steuer um sich in der Kombüse mit Kaffee zu versorgen. Eine Viertelstunde später steht er wieder neben mir, erzählt von seiner Liebe für die Kanäle, von der Faszination des Lebens auf dem Wasser, der er voll und ganz erlegen ist. Und auch von den waghalsigen Touren, die Narrowboat-Kapitäne immer wieder mal unternehmen. Er kenne einige, erzählt er, die in ihren Kanalbooten den großen Kanal, den zwischen England und dem Kontinent, überquert haben und seitdem die Flüsse und Kanäle Europas entlang schippern. Er sagt das mit einem abwesenden, gedankenverlorenen Blick. Will er auch? „Vielleicht“, sagt er, „vielleicht fahre ich einfach eines Tages mal los und halte einfach nicht mehr an.“

Für mich und meine Freunde endet der Trip wenig später. Es war sicherlich nicht mein letzter!

Edgar Klüsener

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Woodstock 1969 – Ein Traum von einer Revolution

Ten Years After vierzig Jahre später: Leo Lyons

Am Anfang war das Chaos: Hunderttausende junger Amerikaner eingepfercht auf schlammigen Kuhwiesen, heftige Regengüsse und Gewitter, katastrophale sanitäre Zustände und mangelhafte medizinische Versorgung. Alle Zufahrtsstraßen heillos verstopft, Nachschub an Nahrungsmitteln und Getränken kam nicht durch. Am Ende musste das Militär Nahrung, elementare Hilfsmittel und medizinisches Personal einfliegen. Das Festival glich einem Katastrophengebiet. Doch statt zum durchaus möglichen Desaster wurde Woodstock 1969 zur Legende, zum langlebigen Mythos einer globalen Jugendkultur.*

Für Leo Lyons war 1969 Woodstock zunächst einmal nur ein Festival unter vielen. Mit seiner Band Ten Years After tourte er in diesem Jahr kreuz und quer durch die USA. Auf dem Texas Pop- Festival hatten sie schon gespielt, dann auf dem Newport Jazz-Festival in St. Louis, zusammen mit Jazzern wie Dizzy Gillespie. Für den darauf folgenden Tag stand schließlich Woodstock auf dem Programm. Für die Briten nur ein Ortsname unter vielen, lediglich eine weitere Station auf ihrem endlosen Zug durch die Weiten Amerikas.?? „Wir wussten nur, dass Woodstock irgendwo in New York lag und dass wir am nächsten Morgen früh raus mussten, um den Flieger zu erwischen“??, erinnert sich Leo. „??Wir waren erst am zweiten Tag dran, als in Woodstock schon längst das Chaos tobte. Von dem wussten wir allerdings nichts. Erst unser Manager sagte uns schließlich auf dem Weg vom Flughafen nach Woodstock, was dort los war.??“

‚Los‘ waren weit über eine Million Menschen, die sich aus allen Teilen der USA auf den Weg nach Woodstock gemacht hatten. ‚Los‘ waren 400.000 Kids, die tatsächlich bis zum Festivalgelände durchgekommen waren. Das waren immer noch 350.000 mehr als die etwa 50.000, mit denen die Veranstalter ursprünglich gerechnet hatten. ‚Los‘ waren außerdem niedergerissene Zäune und die vom Massenandrang erzwungene Umwandlung des Festivals in ein kostenloses Konzert, die den Veranstaltern zunächst einmal Millionenverluste einbrachte.

Überhaupt, die Veranstalter: Da waren zum Einen die Jung-Investoren John Roberts und Joel Rosenman, beide aus vermögendem Haus und eher an der Wall Street zuhause denn in den Hippiekommunen der späten Sechziger, und zum anderen ein Duo örtlicher Musiker und Musikunternehmer, Artie Lang und Martie Kornfield. Letztere verstanden wenigstens von der technischen Seite der Konzertorganisation etwas und hatten einige der besten Bühnen- und Technikcrews verpflichtet, die in den USA zu der Zeit zu haben waren. Aber keiner der Vier hatte eine wirkliche Vorstellung von der Logistik, die eine Veranstaltung dieser Größenordnung erforderte.

Das Chaos war schon beinahe perfekt, bevor auch nur der erste Musiker auf die Bühne trat. Und trotzdem wurde Woodstock zum Mythos der Hippiebewegung, zum Jubelfest der amerikanischen Antikriegsbewegung, zur Wiege des Traums von einer globalen Hippie-Jugendkultur neuen Typs. Gründe dafür gab’s verschiedene. Einer war sicherlich das Aufgebot von namhaften Bands und Musikern, von denen etliche damals bereits zu den ganz großen Namen zählten oder doch zumindest vor dem Durchbruch standen. Unter ihnen Arlo Guthrie, Sohn der Folklegende Woodie Guthrie, Joan Baez und Santana. Andere waren Bands wie The Who, The Grateful Dead, Crosby, Stills, Nash & Young oder die britischen Underground-Rocker Ten Years After.

Woodstock 1969 – Ein Traum von Love and Peace

Ein anderer Grund war, dass das Festival trotz des allgegenwärtigen Chaos friedlich blieb. Es kam weder zu Gewalt noch zu Massenpaniken, stattdessen herrschte ein Geist der Kooperation, des „Jede hilft Jedem“. Und die Menge hatte trotz allem, trotz sintflutartiger Regenschauer, trotz Gewitter, trotz Chaos und trotz fehlender sanitärer Einrichtungen ihren Spaß. Woodstock war der Höhepunkt des Summers Of Love, ein Hippietraum von Love and Peace, der für einige Tage Wirklichkeit werden sollte. Außerdem war Woodstock eine politische Demonstration. Bei aller Naivität, die vor allem in der historischen Rückschau so verblüffend scheint, hatte die Hippiebewegung und ihre radikaleren Ausformungen wie Yippies und andere linke Gruppierungen durchaus eine politische Agenda. Sie war Part des breiten Widerstands gegen den Vietnamkrieg und Teil der Bürgerrechtsbewegung, beeinflusst vom LSD-Propheten Timothy Leary ebenso wie von Black Panther-Führer Eldridge Cleaver und den radikalen Aktivisten um Jerry Rubin und Abbie Hoffman, die in einem Chicagoer Gerichtssal den Begriff von der Woodstock Nation prägten. Die Politisierung der amerikanischen Jugend war umfassend und erstaunte Europäer, die in diesem Jahr in die USA reisten.

Leo Lyons verblüffte die starke Politisierung seines amerikanischen Publikums:

„Die britische Definition von ‚Underground‘ war in jenen Jahren primär eine musikalische. Kleidung und Aussehen hatten nicht diese politische Signifikanz wie in Amerika. Als wir unsere erste Amerika-Tour spielten, waren wir überrascht, wie sehr unser Aussehen und unsere Musik uns in den Augen des Publikums und der Presse automatisch in eine ganz bestimmte politisch-weltanschauliche Ecke stellten. Überraschend war auch, wie schnell Gespräche mit Fans und Presseleuten ins Politische wechselten, Themen wie die Bürgerrechtsbewegung und den Vietnamkrieg berührten.“

Der Höhepunkt des Festivals war der Moment, in dem Jimi Hendrix die amerikanische Nationalhymne systematisch in einer Orgie von Rückkopplungen und Verzerrungen zerstörte, stellvertretend für alles, was hässlich war an diesem Amerika der Sechziger. Es war zugleich ein ambivalenter Moment, denn der ehemalige, nach dreizehn Monaten allerdings vorzeitig entlassene, GI Jimi Hendrix war durchaus ein Patriot und alles andere als ein überzeugter Anti-Militarist.

Trotz allem, Woodstock wäre wohl nur ein Festival von vielen geblieben, wenngleich ein spektakulär schlecht organisiertes und ein Millionenverlust für die Veranstalter, hätte es da nicht noch diesen Film gegeben. Erst der dreieinhalbstündige Film, der ein gutes Jahr nach dem Festival in die Kinos kam, begründete wirklich und nachhaltig den weltweiten Mythos Woodstock.

Da hatte die Wirklichkeit den Mythos allerdings bereits überholt. Die Hippiebewegung war in unzählige Sub-Subkulturen zersplittert, einige waren in den Terrorismus abgewandert, und exzessiver Drogenkonsum dezimierte in den folgenden Jahren die Schar der Rockmusiker dieser Generation erheblich. Festivals verschanzten sich hinter Stacheldraht wie in Fehmarn oder uferten in Gewalt aus wie in Altamont. Und als dann noch das Publikum begann, Festivalbühnen abzufackeln, wie 1977 in Scheeßel, war der Mythos auch hierzulande endgültig am Ende.

Edgar Klüsener

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The Lambeth Walk – Tanz den Führer

Goebbels war außer sich. Er sprang auf, trat wutentbrannt gegen einen Stuhl und stürmte aus dem Vorführraum. Über die Leinwand flimmerte der Nachspann des kleinen Filmchens, das den Reichspropagandisten so über die Maßen empört hatte. Zusammengeschnitten hatte das Werk kein Filmprofi, sondern ein gewisser Charles A. Ridley, ein Mitarbeiter des britischen Ministeriums für Information. Er benutzte Material aus Leni Riefenstahls Parteitag-Film „Triumph des Willens“ und unterlegte den Zusammenschnitt mit der Musik des „Lambeth Walk“, ein Modetanz, der Ende der 1930er ganz London im Griff hatte und auch unter urbanen deutschen Jugendlichen sehr beliebt war. Im  damals sehr populären Musical „Me and My Girl“ setzt die Choreographie eine typische Straße im Londoner Cockney-Bezirk in Szene, in der Tänzer vor und zurückfluten und ihre Bewegungen mit hohen Tritten und ausladender Gestik akzentuieren. In Ridleys Zusammenschnitt hingegen bewegen sich nach diesem Muster marschierende Heeres- und Armeeformationen, während des Führers überzogen-dramatische Gestik verschiedentlich eingeblendet wird, die im Kontext dann noch weit lächerlicher wirkt als sie es in der Realität schon war.

Nachdem  dänische  Widerständler Kopien des Films in die Hände bekommen hatten, stürmten sie während der Besatzung durch die Deutschen häufig Kinos und zwangen die Vorführer, vor dem Hauptfilm Ridleys kleinen Propagandafilm zu spielen. In der Folge wurde der „Lambeth Walk“ in Dänemark in den 1940ern zum zweiten Mal ein Riesenhit.

 

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Metallica: 72 Jahreszeiten, Covid und ein Krieg in Europa

Etwas weniger als sieben Jahre sind seit der Veröffentlichung des letzten Metallica-Studioalbums ‘Hardwired … to Self-Destruct’ am 18. November 2016 vergangen. Und was für ein prophetischer Titel das damals war. Das Album erschien in demselben Jahr, in dem Trump das Weiße Haus zum ersten Mal eroberte, der Brexit das große Britannien in ein fremdenfeindliches und in sich zerstrittenes Inselchen transformierte und in dem der Wind der Veränderung sich erneut zu einem Orkan aufblies. Sieben weltgeschichtlich turbulente Jahre später melden sich Metallica mit einem neuen Album zurück. Das trägt den Titel „72 Seasons“ und hat es in sich: es ist wütend, zeugt von Bitterkeit, Frustration und Ohnmacht, aber auch von distanzierter Reflexion. So viel sei schon jetzt gesagt, wer Fan der frühen Metallica ist, von Alben wie ‚And Justice for All‘ oder ‚The Black Album‘, der wird mit ‚72 Seasons‘ besonders gut bedient sein.

Dem Album liegt ein Konzept zugrunde, das James Hetfield wie folgt erklärt: „Die 72 Seasons (Jahreszeiten) sind die ersten 18 Jahre unseres Lebens, die Phase unseres Lebens, in der sich unser wahres oder falsches Selbst formt. In diesem Zeitraum lehren uns Eltern, soziales Umfeld, Kindergärten und Schulen, wer und was wir sind und wie wir sein sollen. Vieles, was wir als Erwachsene erleben, ist eine Wiederholung oder Reaktion auf diese Kindheitserfahrungen. Bleiben wir Gefangene der Kindheit oder befreien wir uns von ihren Fesseln?“ Für Hetfield ist das fortlaufende Studium dieser anerzogenen Grundüberzeugungen höchst interessant, nicht zuletzt deshalb, weil sie letztlich bestimmen, wie wir die Welt sehen und erfahren.

Theorien des Selbst finden wir vor allem in der Psychologie, aber auch in Philosophie und Soziologie, und von Plato über Bourdieu bis hin zu Goffman oder May versuchen sich Theoretiker und Laien an der Beantwortung der ganz großen Frage: Wer bin ich, was bin ich und wie bin ich geworden, wer und was ich bin? Während Goffmans Performativity Theory das Selbst als Schauspieler identifiziert, die auf wechselnde Bühnen ihre jeweils wechselnden Rollen spielen und Goffman in letzter Konsequenz die Existenz eines Selbst an sich infrage stellt, ist für Hetfield das Selbst die Arena, in der Menschen die bittersten inneren und äußeren Konflikte austragen.

Das Selbst ist die Arena, in der Menschen die bittersten inneren und äußeren Konflikte austragen.

In den überragenden Texten des Albums, einige davon vielleicht die besten, die Metallicas Frontmann je geschrieben hat, setzt er sich so mit existenziellen Fragen in einer enervierenden Intensität auseinander. Wie die Texte reflektiert auch die Musik eine Zeit, in der die Welt aus den Fugen geraten ist. Was Kirk Hammett gern zugesteht.

Der Gitarrist hat im April 2023 in seiner Residenz im sonnigen Hawaii zum Telefon gegriffen, um ein wenig über „72 Reasons“ zu plaudern. 30 Minuten hat die Plattenfirma zugestanden, weit über 50 Minuten sollten es am Ende werden.

Geschrieben wurden die Songs des Albums zu einer Zeit, in der auch Metallica sich auf sich selbst zurückgeworfen fanden, inmitten einer Pandemie, die die Welt zum vorübergehenden Stillstand brachte. Ob die veränderten Umstände einen Einfluss auf die Arbeit der Band gehabt haben?

Aber unbedingt“, bestätigt der Gitarrist die naheliegende Vermutung, und fährt fort: „Diese ganze Lockdown-Sache war ein ziemlicher Tiefschlag, und ich war wirklich besorgt, ob wir ein paar Jahre in unserer Karriere verlieren würden oder nicht. Wir haben gründlich über die Situation nachgedacht und schließlich beschlossen, das Beste aus der Lage zu machen und mit dem Schreiben von Songs zu beginnen. Gott sei Dank konnten wir die Zeit nutzen und mussten nicht ohnmächtig zusehen, wie zwei Jahre einfach den Bach runtergingen.“

Wie der Rest der Covid-erschütterten Welt, mussten sich die Metallica-Musiker ebenfalls über Nacht mit Videokonferenz-Software wie Zoom, Teams oder Jitsi vertraut machen. Für Kirk Hammett eine ganz neue Erfahrung.

Bis dahin war Zoom für mich nur ein altes Kinderprogramm im Fernsehen. Doch dann sprachen plötzlich alle von Zoom, aber diesmal war es der Name dieser Video-Konferenz-Software. Daran musste ich mich erst einmal gewöhnen. Der Typ, der diese Software entwickelt hat, tat dies genau zum rechten Zeitpunkt und dürfte inzwischen von seinen Erträgen recht gut leben können.

Der schnelle Hausbesuch oder die gemeinsame Arbeit im Übungsraum gehörten damit zunächst einmal einer besseren Vergangenheit an. Stattdessen wurde notverordnet im Eigenheim gewerkelt und Ideen wurden in Zoom-Konferenzen debattiert und vorgespielt. Kreativität, das Schreiben von Songs, wurde zum Ausweg aus der Ausnahmesituation und ermöglichte es den Musikern zudem, diese zu reflektieren.

Grundsätzlich haben wir unsere Arbeitsweise gar nicht so stark verändert, nur war sie diesmal weniger aus freien Stücken so, sondern eher durch die Umstände erzwungen. Wir waren froh, dass die Technologie es uns ermöglichte, unsere Kreativität sinnvoll und konstruktiv auszuleben. Das Schreiben von Songs gab uns Halt in einer Zeit, in der die Welt wirklich aus den Fugen geraten schien.

Kirk Hammett, das sei am Rande erwähnt und ist eigentlich eine andere Geschichte, nutzte die Zwangspause nicht nur, um am neuen Metallica-Album zu arbeiten, sondern auch, um sein superbes Soloalbum ‚Portals‘ zu schreiben, aufzunehmen und zu veröffentlichen.

Während COVID bin ich ins Studio gegangen und habe mein eigenes Soloalbum produziert, ich habe mich einfach auf meine Erfahrungen aus der Vergangenheit verlassen, die ich in jahrelanger Arbeit im Studio gesammelt habe. Deshalb konnte ich die Verantwortung für die Produktion meiner eigenen Musik, den Sound und das Abmischen ohne Probleme übernehmen. Ich wusste genau, was zu tun war und wie.

Was er damit ebenso sagt: Mit gut 40 Jahren Studio-Erfahrung auf dem Buckel können die Musiker längst jedem Producer auf Erden mehr als nur das Wasser reichen. Dennoch hat sich die Band dafür entschieden, bei den Aufnahmen von „72 Seasons“ erneut mit Greg Fidelman als Produzent zu arbeiten, der sich die Producer-Credits brüderlich mit Hetfield und Ulrich, den treibenden Kräften hinter Metallica, teilt. Welchen Beitrag konnte Fidelman in einem solchen Szenario überhaupt leisten, in dem ihm die Musiker an Erfahrung und Kompetenz ebenbürtig waren und in dem er zudem mit starken und selbstbewussten Charakteren arbeiten musste. Oder, anders gefragt, braucht die Band überhaupt noch einen Produzenten?

Wenn’s ums rein Fachliche geht, erklärt Hammett, dann wohl eher nicht. Dass sie es alle drauf haben, hätten sie schon ausreichend unter Beweis gestellt, Rob Trujillo nicht zuletzt bei Ozzy Osbourne. Überhaupt, Robert Trujillo. Dass etwas anders lief bei der Arbeit an „72 Seasons“ macht Hammett auch am Beispiel Trujillo fest. Der Bassist hat gleich an drei Tracks mitgeschrieben, einer davon, ‚Screaming Suicide‘, ist einer der stärksten und eindringlichsten Titel auf dem Album. Die anderen beiden sind ‚Sleepwalk My Life Away‘ und ‚You Must Burn‘.

Aber zurück zu Greg Fidelman, dessen Rolle, und ihre Wichtigkeit, Kirk Hammett wie folgt beschreibt: „Greg ist der Mann, der die Übersicht hat. Er ist bei jedem Schritt dabei, er überwacht alles. Wir kommen rein und erledigen unseren Teil, machen unsere Parts, und Greg sorgt dafür, dass alles konsistent ist, dass wir alle auf derselben Ebene sind und alles gut zusammenpasst. Er ist sehr wertvoll geworden, weil er bereit ist, die unverschämt lange Zeit zu investieren, die es braucht, um ein Metallica-Album aufzunehmen und fertigzustellen. Das ist wahrlich kein schneller Prozess, sondern einer, der Monate, manchmal Jahre dauert. Greg Fidelman ist derjenige, der die Geduld, die Mittel, die Intuition und den Fokus hat, um sicherzustellen, dass alles musikalisch zusammenkommt und stimmig ist. Und das ist keine leichte Aufgabe. Für mich ist er der König, wenn es um den Aufnahmeprozess geht.“

Lars Ulrich (Pic Gage Skidmore, CC BY-SA 3.0,)

Die Metallica Musiker, insbesondere James Hetfield und Lars Ulrich, sind selbstbewusste und willensstarke Persönlichkeiten, die genau wissen, was sie wollen und ihre eigenen Vorstellungen haben. Um als Produzent in diesem Umfeld bestehen zu können, ist diplomatisches Geschick wohl ebenfalls eine gefragte Qualität.

Absolut,“ bestätigt Kirk Hammett, „Umso mehr, wenn wir alle weit voneinander entfernt arbeiten und interagieren müssen. Greg bringt uns zusammen, hat einen konkreten Plan, was zu tun ist, und er kann uns auf das Wesentliche fokussieren. So müssen wir uns nur auf drei oder vier Dinge konzentrieren, die an diesem Tag erledigt werden müssen, und schon haben wir es geschafft. Anstatt uns durch 200 oder mehr Details quälen zu müssen, um schließlich diese drei oder vier Dinge zu finden, aber völlig ermüdet und erschöpft zu sein, wenn wir endlich so weit sind. Mit anderen Worten: Er hat sich also durch eine Menge Lärm gekämpft, um ein Signal zu finden.

Es ist offensichtlich, dass Band und Produzent sich über die Jahre hinweg gut kennengelernt haben und dass Metallica Greg Fidelman nicht nur vertrauen und seine fachliche Kompetenz anerkennen, sondern ihn zudem als Autoritätsperson akzeptieren.

Er muss sich auskennen, und er muss gute Sounds, gute Mischtechniken und eine gute Produktion beherrschen. Denn jeder von uns könnte sich hinsetzen“, wiederholt Kirk Hammett, „und den Job erledigen, falls nötig. Die Frage ist allerdings, ob wir das an diesem Punkt unseres Lebens und unserer Karriere überhaupt noch wollen. Zehn Monate lang zehn Stunden am Tag im Studio sitzen? Das war okay, als wir in unseren Dreißigern oder Vierzigern waren, aber das ist jetzt etwas anderes. So viele andere Sachen spielen heute eine Rolle in unserem Leben. Wir haben alle Familien. Wir alle haben Verantwortung. Da ist es sehr hilfreich, dass wir Greg an diesem Punkt unseres Lebens haben. Er ist vertrauenswürdig, er hat, wie ich schon sagte, denselben Instinkt wie wir. Wir vertrauen seinem Gehör und seinem Gespür. Es hilft unserer Perspektive, wenn wir jemanden wie Greg um uns haben. Wir profitieren von seinen Ideen, er weiß, was funktioniert und was nicht. Das ist großartig. Ich sage das nur ungern und es klingt wie ein Klischee, aber er ist das neue fünfte Mitglied von Metallica.“

Metallica haben es Fans und Kritikern in der Vergangenheit manchmal nicht einfach gemacht. Immer wieder haben sie bewusst musikalisches Neuland betreten und sich auf Experimente eingelassen, die nicht alle nachvollziehen konnten. Die Zusammenarbeit mit Lou Reed war so eins, die in dem Album „Lulu“ (2011) mündete und die Metallica-Gemeinde und Kritiker in Lager teilte, die einander beinahe unversöhnlich gegenüberstanden. Die einen hassten das Album, eine an Alban Bergs unvollendete Oper ‚Lulu‘ angelehnte Vertonung von Frank Wedekinds Tragödien ‚Erdgeist‘ und ‚Die Büchse der Pandora‘, die anderen liebten es und sahen es als ein Meisterwerk moderner Musik. Für meinen britischen Kollegen JR Moores war es gar eins der zwei wichtigsten je veröffentlichten Alben (das andere ist laut John „Metal Machine Music“). Ich würde zwar nicht so weit gehen wie John, aber gehöre dennoch zu denen, die das Album für einen sträflich unterbewerteten Meilenstein halten. Nach Experimenten oder selbstironisch- autobiographischem Material wie dem Country-Blues ‚Mama Said‘ vom „Load“-Album sucht (oder hofft) man auf „72 Seasons“ vergeblich. Stattdessen ist das Album roh, düster und aggressiv geraten, die oben schon erwähnten Reminiszenzen an „And Justice for all….“ und „The Black Album“ sind unüberhörbar.

Absicht? Eher nicht, erklärt Kirk Hammett, und fügt hinzu, dass man in der Vergangenheit zwar oft mit dem Vorsatz ins Studio gegangen sei, ein Album aufzunehmen, das an die alten Tage erinnere, doch dass diesmal ein anderes Anliegen im Vordergrund gestanden habe, die Rückbesinnung auf die eigenen musikalischen Vorbilder nämlich: „Wir sahen uns nur an und sagten ein Wort oder fünf Wörter: Neue Welle. Neue Welle des britischen Heavy Metal. Okay, sechs Wörter. Und genau das haben wir dann getan. Ich hatte Diamond Head im Sinn und Tygers of Pan Tang, Motörhead, Angel Witch oder Jaguar, Du weißt schon, so was in der Art. „And Justice for All“ oder das „Black Album“ war das Letzte, was ich Sinn hatte, um ehrlich zu sein. Umso überraschender ist es dann für mich, dass jetzt von allen Seiten die Vergleiche mit gerade diesen beiden Alben auf uns hereinprasseln. Eine schöne Überraschung allerdings.“

Die in den Songs durchklingenden Emotionen wie Wut und Frustration seien jedoch nicht der fernen Vergangenheit geschuldet, sondern den Krisen der Gegenwart, fährt Kirk Hammett dann fort: „Ich sehe dieses Album als eine Reaktion auf alles, was in den letzten drei Jahren in den Vereinigten Staaten passiert ist. Diese drei Jahre in diesen verdammten Staaten waren völlig verrückt. Sie waren unvorhersehbar, chaotisch, frustrierend und haben jeden wütend gemacht.

Die Rede ist hier nicht nur von COVID-19, erzwungener Isolation, und Impfdebatten, sondern auch von Donald Trumps versuchtem Staatsstreich, dem Sturm aufs Kapitol, dem gewalttätigen Auseinanderdriften Amerikas in zwei Lager, die sich zunehmend unversöhnlich gegenüberstehen und, schließlich, der völlig veränderten internationalen Lage.

 „Ich habe das Gefühl, dass diese Songs all diese Emotionen in sich vereinen. All diese Emotionen, denke ich, haben sich in diesem Album in unseren Köpfen festgesetzt. Und es ist immer unbewusst oder unterbewusst, denn man kann sich nicht hinsetzen und sagen, okay, ich bin verdammt sauer. So funktioniert das nicht. Man setzt sich einfach hin, macht den Kopf frei und spielt. Und die Emotionen, die dann rauskommen, sind echte, wahre, ehrliche Emotionen. Und die Emotionen, die herauskamen, waren groß und wütend, frustrierend, chaotisch. Ich denke, die Musik fängt das ein. Deshalb überrascht es mich in der Nachschau auch nicht, dass sich auf dem Album keine einzige Ballade findet, nichts, das auch nur annähernd ruhig ist, schön und anrührend. Dieses ganze Album ist ungemein intensiv, wütend, aggressiv, feindselig, konfrontativ. Purer Heavy Metal eben, so wie wir es verdammt noch mal mögen. Und wenn die Vergangenheit mir recht gibt, wenn wir etwas mögen, dann stehen die Chancen gut, dass unsere Fans es auch mögen.“

Obgleich sich auf dem Album keine einzige Ballade findet, verbergen sich in den Songs doch viele kleine und einige ganz große Melodien. Eine von der letzteren Sorte findet gegen Ende von ‚Room Of Mirrors‘, eine wunderschöne Gitarrenharmonie, die an Thin Lizzy erinnert, an Gary Moore, vielleicht sogar an Wishbone Ash. Ein bewusstes Zitat?

Ach,“ lacht Kirk, „wir sind alle seit frühester Jugend glühende Thin Lizzy-Fans. Wenn also ein Gitarrenpart mal nach Gary Moore klingt, egal ob von mir oder James gespielt, dann ist das durchaus eine Hommage, manchmal eine bewusste, manchmal eine unbewusste, aber wir stehen beide unbedingt dazu.“

James Hetfield, Showcase in London 1998, pic: Edgar Klüsener

Die Texte nehmen die grundlegenden Stimmungen der Musik auf und kanalisieren sie. Wie schon so oft sind sie selbstreflexiv, spiegeln die innere Zerrissenheit Hetfields wieder, den Kampf gegen die eigenen Dämonen, lassen aber Raum für unterschiedliche Interpretationen. Hetfield selbst schweigt sich meist aus über seine Texte und deren Bedeutungen, und die anderen Musiker fragen ihn auch nicht danach, sondern respektieren die Haltung. Für Kirk Hammett schließt diese Akzeptanz von James Hetfields Rolle als alleiniger Texter ein, dass er nur dann Texte für seine eigenen Songbeiträge schreibt, wenn er von Hetfield explizit dazu aufgefordert wird. Doch obwohl Hetfield seine Texte nicht erklärt, begreifen seine Mitmusiker ihre Bedeutung oft intuitiv: „Einige der Texte sind für mich offensichtlich; ich weiß worüber er singt, weil ich James kenne. Er ist mein Bruder, also verstehe ich viele der Anspielungen, die er macht.“

Lyrics wie die von ‚Screaming Suicide‘ oder dem mächtigen ‚Crown of Barbed Wire‘ haben eine poetische Qualität, die seinen Bandkollegen in Kirk Hammetts Augen erneut als herausragenden – und immer noch sträflich unterbewerteten – Lyriker bestätigen.

Ich habe schon oft gesagt, dass James ein Dichter ist, der ein Gespür für Sprache hat und definitiv eins für den Rhythmus und die Bedeutung hinter den Worten. Bei diesem Album sind es vor allem die Texte, die mich umhauen. Aber nicht nur die Texte, sondern auch die Phrasierung am Anfang und am Ende des Liedes. Ich denke, James‘ Gesangsleistung auf diesem Album ist mit das Beste, was er je gemacht hat. Es war das erste Mal, dass er in seinem eigenen Haus gesungen hat. Mit ein paar Mikrofonen, ein paar Mikrofon-Vorverstärkern und ein paar Kompressoren, direkt in Logic oder Pro Tools oder was auch immer er benutzt. Und er sagte, dass es einfach einen großen Unterschied in der Performance macht, wenn man entspannt ist und zu Hause aufnimmt. Und ich sagte zu ihm: Das merkt man, Bruder, denn es ist verdammt gut.“

Was auffällt, sind die Anleihen bei religiöser Symbolik in einigen Songs wie ‚Crown of Barbed Wire‘ oder der bereits ausgekoppelten Single ‚Lux Æterna‘. Das ‚ewige Licht‘ (Lux aeterna), auf das Hetfield hier Bezug nimmt, brennt Tag und Nacht in christlichen Kirchen wie in Synagogen am Tabernakel und zeigt die Gegenwart Christi (im Christentum) und Gottes (im Judaism) an.

Dass der Sänger und Gitarrist eine spirituelle Ader hat, gesteht Hammett durchaus zu: „Nun, James hat einen spirituellen Aspekt, genau wie ich einen spirituellen Aspekt in mir habe. Der spirituelle Aspekt von James basiert auf dem Christentum, während mein spiritueller Aspekt eher im Osten und im Nondualismus angesiedelt ist. Wir koexistieren und treffen uns oft in unserer Spiritualität. Aber wir haben unterschiedliche Ansätze und unterschiedliche Ansichten. Wann immer er also über etwas Spirituelles oder Christliches nachdenkt, respektiere ich es vollkommen. Und wenn es das ist, worüber er singen will, dann soll es so sein.“

Das bereits thematisierte neue Chaos in der Welt beschränkt sich natürlich nicht nur auf die USA. In Europa hat Putins expansionistisches Streben nach der Restauration alter Sowjetmacht die alte Nachkriegsordnung, und damit eine 70jährige europäische Friedenszeit (nein, den Balkankrieg haben wir nicht vergessen, aber er hat die Nachkriegsordnung weit weniger erschüttert), endgültig über den Haufen geworfen und Krieg wieder Alltag werden lassen. Der Aufstieg Chinas zur zweiten Supermacht hat die globalen Machtverhältnisse gravierend verändert, und die Demokratie als Form der politischen Selbstorganisation ist weltweit, auch im Herzen Europas, auf dem Rückzug. Kalte und heiße Kriege haben selbstverständlich Auswirkungen auf eine Band, die ihre Fans auf allen Seiten der Frontlinien hat. Konzerte in Kiew oder Moskau dürften für Metallica vorläufig nicht mehr auf dem Programm stehen.

Als besonders schmerzhaft allerdings empfindet Kirk Hammett, dass „…es für uns so aussieht, als würden unsere Fans gegen unsere Fans kämpfen. Das ist es, was hier passiert. Ja, ich weiß, es geht um mehr als das. Es sind Menschen, die gegen Menschen kämpfen. Aber für mich kommt ein persönliches Element hinzu. Wenn ich es als einen blutigen Kampf von Metallica-Fans gegen andere Metallica-Fans betrachte, bricht es mir das Herz.“

Dass der Status und die damit verbundene Prominenz nicht nur ein Segen sind, hat Kirk Hammett schon vor langer Zeit erkannt. Seine mentale Gesundheit hatte lange unter dem öffentlichen Druck gelitten, mit dem er sich als Metallica Musiker auseinandersetzen musste. Einen Halt fand er schließlich in seiner Hinwendung zur Spiritualität: „Es ist wichtig, sich mit etwas verbinden zu können, das größer ist als man selbst. Es ist wichtig zu wissen, dass der Anfang und das Ende des Universums nicht bei einem selbst beginnt. Wenn du wie ich psychische Probleme hast, aber auch eine Berühmtheit bist, dann müssen die Realitäten irgendwann miteinander kollidieren und in eine Krise münden. Ich hatte zahlreiche Krisen in meinem Leben. Meine Spiritualität und Nüchternheit halten mich heute auf dem Boden der Tatsachen. Spiritualität gibt mir das Gefühl, dass ich immer noch Teil der menschlichen Rasse bin. Sie hält mich davon ab, mich über oder unter allen anderen zu sehen. Am Ende ist alles außer der Musik irgendwie nur Blödsinn. Wenn man wirklich spirituell ist, durchschaut man den ganzen Scheiß. Deshalb denke ich, dass Religion und Spiritualität wichtig sind, besonders wenn man sich in einer Situation befindet, in der die Menschen von einem Inspiration, Führung und Positivität erwarten.“

Das Thema geht Kirk hörbar nahe. Treffend beschrieben haben diese Erfahrung seiner Meinung nach die Musiker von Black Sabbath, als sie ihr Greatest Hits Album schlicht ‚We Sold Our Souls To Rock‘n’Roll benannte: „Es ist wirklich großartig, 100 Millionen Alben zu verkaufen und all diese Ressourcen zu haben und in der Lage zu sein, ein anständiges Haus für deine Mutter zu kaufen und eine schöne Gitarre zu haben. Aber verdammt, Mann, wie viele meiner Freunde, die ich in den frühen 80ern um mich hatte, haben es nicht bis hierher geschafft? Eine Menge, Bruder. Viele meiner Freunde, die eine Überdosis nahmen, begingen Selbstmord. Es ist eine brutale Branche. Und im Nachhinein ist Sex, Drogen und Rock ’n‘ Roll der größte Mythos und so schädlich für die Gesundheit und das Wohlergehen und die verdammte Entwicklung eines Menschen. Ich wünsche, ich hätte es besser gewusst, als ich jung war und damals Sex, Drogen und Rock’n’Roll einfach ignoriert. Wenn man das jahrzehntelang gemacht hat, ist man am Ende eine ziemlich leere Hülle, und dann muss man seine Seele suchen und kommt schließlich zu dem Schluss, dass Sex, Drugs and Rock’n’Roll nur eine seltsame verdammte Mythologie ist. Worauf es am Ende nur ankommt, ist ausschließlich die Musik.“

Musik soll denn auch weiter im Vordergrund stehen, von Herzen kommende, wütende, manchmal an der Welt verzweifelnde und oft frustrierte Musik, wie sie so nur von Metallica kommen kann. Die Band hat mit „72 Seasons“ ein Album vorgelegt, das sosehr den gegenwärtigen Zeitgeist beschreibt wie schon seit langem keine Veröffentlichung mehr.

Edgar Klüsener

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Ein kleines bisschen Horrorschau: Mit den Toten Hosen in Litauen…

In den späten Achtzigern fegte ein Sturm durch Europa, der alte Gewissheiten über den Haufen warf und Systeme zerbröckeln ließ. Der Eiserne Vorhang, seit Kriegsende die beinahe unüberwindliche Barriere im Herzen Europas, rostete rapide und die Löcher in ihm wurden immer größer, bis er schließlich mit dem Berliner Mauerfall endgültig in Fetzen riss. Eine willkommene Folge war die Öffnung des bis dahin beinahe hermetisch abgeschlossenen Osten Europas für westliche Popkultur – und damit für deutsche Bands. Im September 1988 reiste ich mit den Toten Hosen in die Sowjetrepublik Litauen, wo die Düsseldorfer für das Lituanika-Festival gebucht worden waren. Das Festival stand ganz im Zeichen des sich immer offener präsentierenden litauischen Nationalismus, der sich alle Freiheiten nahm, die ihm Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestroika erlaubte. Lituanika vermittelte eine erste Ahnung davon, dass das Überleben der UdSSR selbst auf dem Spiel stand, dass die zumindest teilweise Auflösung der Union eine zunehmend realistische Option wurde. Diese Reise war meine zweite in die UdSSR, weitere sollten folgen und werden als weitere Zeitgeschichten in Kürze ebenfalls hier veröffentlicht. Doch zunächst einmal stehen Vilnius und Kaunas auf dem Programm. Außerdem die heute leider völlig zu Unrecht vergessene Band Blittzz aus Erfurt, die damals noch unter ihrem alten Namen Prinzz auftrat. Ach ja, zuerst veröffentlicht wurde diese Story in der Oktober Ausgabe des Metal Hammer.

Nach Russland, so hieß es, rolle der Zug mit den Toten Hosen und der Band Ülo an Bord. Von Düsseldorf über Duisburg und quer durch die DDR bis zum Ostberliner Hauptbahnhof – erste Stationen einer Reise, die streckenweise einer konzertierten Vernichtungsaktion für Dosenbier (reichlich vorhanden) und andere Alkoholika glich. Nur war nicht Russland das Ziel, sondern die Sowjetrepublik Litauen, von Stalin im Zweiten Weltkrieg gewaltsam in die Union eingegliedert. Ab Berlin sollten wir einen eigenen Waggon haben, so hatte es geheißen, einen Liegewagen noch dazu. Bis Berlin wurde daher auch kaum geschlafen, stattdessen gegenseitiges Beschnuppern und Kennenlernen.

Beginnen wir also mit Ülo, den „duften Typen aus dem Ruhrgebeat…“

Sänger, Texter, Manager und Organisator Klaus Üdingslohmann (verstorben 2021), kurz Ülo genannt, weiß schon, welches Image auf seine Band am besten passt. Duisburg, Stahl, Kohle und Schimanski … Ruhrpott in Rheinkultur. Als Ruhrgebeat-Band hat sich Ülo in der Vergangenheit bereits solidarisch mit der Region gezeigt. Die Band eröffnete im Februar dieses Jahres das Duisburger ‚AufruhrFestival‘, eine Solidaritätsveranstaltung für die Rheinhausener Stahlwerker, bei auch die Toten Hosen mit von der Partie gewesen waren. Außerdem dabei war Ülos lokaler Konkurrent Peter Bursch mitsamt seiner Bröselmaschine. Mit Ülo hatte, nebenbei bemerkt, alles angefangen.

Vorhang zu und Zwischenspiel

Im Mai 1988 hatte es Ülo erstmals nach Vilnius, Hauptstadt der Sowjet-Republik Litauen und Partnerstadt Duisburgs verschlagen. Auf Einladung der Litauer übrigens, die die Band vorher in Duisburg live begutachtet hatten. Vor gut 25.000 Leuten hatten Ülo aufgespielt und zu gefallen gewusst. So war die Einladung nur folgerichtig. Als zweiten Vertreter schickte die Stadt Duisburg noch das musikalische Aushängeschild Nr. 1 Peter Bursch und’ seine Bröselmaschine auf die Reise – allerdings auf getrenntem Transportweg. Mit Ülo fuhren dagegen die Toten Hosen, deren Vinylerzeugnisse die Litauer unbedingt live umgesetzt erleben wollten. Soweit die Vorgeschichte.

Vorhang auf zum zweiten Akt….

Berlin, Hauptstadt der DDR, also Ost. „Endstation, alles aussteigen!“ Fenster und Türen auf und das Gepäck in Rekordgeschwindigkeit auf den Bahnsteig befördert. „Ähhh, hallo, ähhh…das ist der falsche Bahnhof, ähhh, wir müssen noch’n bisschen weiter. Und der Zug fährt gleich wieder los!

Waaaaaassss???

Der Zeitrekord vom Ausladen wurde beim Wiedereinladen gebrochen. Eine kurze Zeit später dann doch endlich die Ankunft auf dem Hauptbahnhof Berlin (Ost), die vorläufige Endstation. Gute zwei Stunden Aufenthalt und die Frage, wohin mit dem ganzen Gepäck???

Die DDR- Bahnsteigbeamten boten ihren Aufenthaltsraum als Gepäckaufbewahrung an, eine Offerte, die bedenkenlos angenommen wurde. Bedenkenlos? Nun, nicht ganz, schließlich befanden sich unter all der Bagage auch einige Gegenstände von Wert. Vor allem die Paletten Dosenbier seien da genannt, denen denn auch die Hauptsorge galt.

Meinste wirklich, wir können denen unbesorgt dat ganze Bier dalassen?“ Faust, Interim-Mixer der Toten Hosen und die wohlbeleibte gute Seele des Unternehmens, ein wandelndes Warenhaus, das mit allem aufwarten kann (Toilettenpapier? Kein Problem. Aspirin? Grippetabletten? Alles in Fausts Vorräten. Wurst, Eier, Stullen? Faust hat es.) beäugt misstrauisch den Abtransport der Bierpaletten. „Ob wir die wohl noch mal wiedersehen werden?

Soviel vorweg: Wir sollten sie wiedersehen, vollzählig und unbeschädigt. Womit die gute Laune auf der Weiterfahrt gerettet war. Zunächst war jedoch Frühstück in Ost-Berlin angesagt. Also S-Bahn bis zum Alexanderplatz und dann die Suche nach einer frühmorgens bereits geöffneten Lokalität. Die Cafeteria des riesigen Inter Hotels bot sich scheinbar an, erwies sich aber schnell als vergebliche Hoffnung, da der Reisegruppe der Eintritt verwehrt wurde („Haben Sie reserviert? Sind Sie Gäste des Hotels?“). Auch der dezente Hinweis „Wir zahlen in harter Währung, in Westmark“ fruchtete nicht. Gottseidank war auf der anderen Straßenseite noch ein Lokal geöffnet….

Etliche Tassen Kaffee später gings dann weiter Richtung Warschau, sowjetische Grenze und Litauen. Im eigenen Waggon diesmal, ein Liegewagen, ums genauer zu sagen. Zugestiegen waren in diesen außerdem die Westberliner New Waver Boom Operators, die an Trinkfestigkeit und Partymentalität den Punk- und Mainstreamrockern von den Toten Hosen und Ülo in nichts nachstehen sollten. Zur Ost-West-Mixtur wurde die Reisegellschaft schließlich, weil sie den Liegewagen mit einer Abschlussklasse aus der DDR-Stadt Gera teilte.

Vorhang zu und Zwischenspiel…

Lituanika 1988 (Linkziel in litauischer Sprache) war die offizielle Bezeichnung des gut einwöchigen Festivals in der Republik Litauen, zu dem der inzwischen auf einen beachtlichen Umfang angewachsene Tross unterwegs war. Das Lituanika Festival war konzipiert als reines Rockfestival mit Punk-, Thrash-, Heavy Metal – und New Wave-Bands aus den baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen, aus Finnland, den Niederlanden, anderen Teilen der UdSSR und aus West- und Ostdeutschland.

Lituanika stand und steht aber auch für Litauen, für eine erstarkende nationale Bewegung in der nicht ganz freiwilligen Sozialistischen Sowjetrepublik, die in den 30er Jahren dem Hitler-Stalin-Pakt zum Opfer gefallen und völkerrechtswidrig von der Sowjetunion annektiert worden war.

Der Club Lituanika, Veranstalter und Organisator des Festivals, ist eine private Organisation, hervorgegangen aus der Jugendorganisation der KPdSU, der Komsomol, und zugleich stark involviert in die nationale Bewegung. Somit hatte das Festival von Anfang an eine politische Dimension, an der niemand, auch die beteiligten Bands, auf Dauer vorbeikam.

Vorhang auf und weiter im Text…

,,Könne mer n Autojramm ham???

Sächselnde Jungmädchenstimmen zu nachtschlafender Zeit im geschlossenen Abteil?

Als wir euch,“ gemeint sind die Toten Hosen, ,,aufm Bahnhof gesehn ham, da hat’s in der Klasse ne Diskussion gegehm. Die meisten meintn, dass ihr irjendwie nachgemacht ausseht, so Möchtejern-Panx und so…

Katrin aus Gera ist inzwischen von der Authentizität der Toten Hosen überzeugt, ebenso ihre Schulkameradinnen und -kameraden.

Deutsch-deutsche Diskussionen mit dem Tenor „…bei uns iss dat so und so —- jaaaa, bei uns iss dat jenau so…. Oder auch nicht und ganz anders…“ beherrschen in den folgenden Stunden die Gespräche auf dem Gang. Zumindrest was die männlichen Schüler angeht. Die weiblichen zogen die Atmosphäre des Ülo-Abteils … ähem, lassen wir das.

Die konzertierte ost-westliche Biervernichtungsaktion, von der Flasche Jägermeister mal ganz zu schweigen, nahm ihren unerbittlichen Lauf. Gegen Morgen allerdings herrschte Ruhe im Abteil, unterbrochen nur durch gelegentliche Schnarchtöne. Und durch Legionen von Grenzbeamten, Zöllnern und anderen Offiziellen, die in Fünfminuten-Abständen die Pässe kontrollierten, das Gepäck kontrollierten, die Pässe kontrollierten … von geruhsamem Schlaf konnte schon bald keine Rede mehr sein.

Weiter ging’s nach Vilnius. Dort angekommen, warteten schon Alge auf Ülo und Wita auf die Toten Hosen. Die jungen Damen sprachen flüssig Deutsch, zumindest Alge, und waren als Betreuerinnen und Verantwortliche für das körperliche und geistige Wohl ihrer Schutzbefohlenen wahre Engel – zumindest Alge.

Vorhang zu, Zwischenspiel…

Mindaugas Cerniauskas:

Das letzte große Festival dieser Art hatte 1980 in der georgischen Hauptstadt Tiflis stattgefunden. Danach gab es bis 1986 kein unionsweites Rockfestival mehr, lediglich Jokale oder regionale Veranstaltungen dieser Art wurden von den Behörden mehr oder weniger erlaubt. Als eine Gruppe litauischer Komsomol-Mitglieder 1986 daran ging, das erste Lituanika-Festival zu organisieren, stieß sie schon in der Anfangsphase der Vorbereitungen auf teilweise erbitterten Widerstand im Komsomol und in der Partei. Einige der eingeladenen Bands wurden als anti-sowjetisch eingestuft und ihre Teilnahme am Festival schlicht verboten.

Aha….

Die Veranstalter ließen sich von all dem nicht irritieren und machten einfach weiter. Mit dem Resultat, dass schließlich das ganze Projekt Lituanika zu einem anti-sowjetischen Ereignis erklärt wurde. Es fand trotzdem statt und wurde ein voller Erfolg. Ebenso wie das Nachfolgefestival im Jahre 1987, das allerdings im Vorfeld noch heißer umkämpft war als das 86er Festival und unter anderem zu einem vorübergehenden Ausschluss des Präsidenten des Clubs Lituanika, Mindaugas Cerniauskas, aus der Partei führte.

Cerniauskas: „Der Komsomol hatte rund 800 Unterschriften gegen das Festival und gegen das ZK der litauischen KP gesammelt, welches dem Projekt ursprünglich durchaus wohlwollend gegenüber gestanden hatte. Nach dieser Aktion änderte sich die Einstellung des ZK und die Konservativen ergriffen die Initiative. Ich wurde aus der Partei ausgeschlossen...“

Das Festival fand trotzdem statt, wurde ein noch größerer Erfolg und Mindaugas wieder in die Partei aufgenommen. Der Komsomol jedoch hatte seine Monopolstellung in der Jugendarbeit endgültig verloren, der Club Lituanika, nach wie vor mit Mindaugas als Präsident, arbeitet seitdem selbständig – und das seit Verabschiedung eines neuen Gesetzes in diesem Jahr auch völlig legal.

Vorhang auf zum Höhepunkt….

Das soll unser Hotel sein ???????!!!!”

Ähhhh, jjjaaa…”

Das „Hotel entpuppte sich als riesiger Betonkomplex der Marke „Jugendherberge der schlechtesten Sorte’. Ülo und die Toten Hosen beschlossen: Da kriegt uns keiner rein und kampierten erst einmal vor dem Gebäude, während Wita, Alge, Trini Trimpop und Ülo die Lage peilten. Die ersten Nachrichten aus dem Inneren der Gebäude bestätigten nur den niederschmetternden äußeren Eindruck: „Also, Toiletten gibt’s nur als Gemeinschaftsklos, und Duschen oder Badewannen haben wir überhaupt noch nicht entdecken können.

Laut Vertrag war das Interhotel zugesichert worden. Als dann noch bekannt wurde, dass alle anderen Bands mit ausreichendem Komfort und in Stadtnähe untergebracht worden waren, schlug die Stimmung endgültig um.

Mit dem Bescheid „Entweder ein anderes Hotel oder Fahrkarten Richtung Deutschland !” wurde den Betreuerinnen die Marschrichtung vorgegeben. Und siehe da: Plötzlich gab es doch ein freies Hotel in der Innenstadt, mit Duschen und Toiletten.

Hallo Peter.”

Hallo Jungs..!

Der erste Hotelgast, der uns über den Weg lief, war Ülos Lokalkonkurrent und Gitarrenguru Peter Bursch, der samt Band Bröselmaschine gerade von den Proben aus der nahegelegenen Sporthalle zurückkam.

Der Rest des Tages, wir schreiben übrigens den 14.9.1988, war frei. Duschen, schlafen, Stadtbesichtigung und schließlich ein Besuch in der Sporthalle … jeder tat das, wonach ihm gerade zumute war.

Die Sporthalle hat durchaus amerikanische Ausmaße und faßt, über den Daumen gepeilt, 15.000 Leute,.Die Stimmung war gut in der Halle und gab somit schon einen Vorgeschmack auf das, was die Toten Hosen und Ülo an den folgenden. Tagen erwarten würde. Vor allem Honey B & T-Bones, eine finnische Band, räumten voll ab mit ihrem traditionellen Blues-Rock und brachten das Publikum, einzelne anwesende Soldaten eingeschlossen, streckenweise gar zum Tanzen,

Sieger des Abends sollte dem Vernehmen nach allerdings die DDR-BandPrinzz gewesen sein, die wir selbst erst zwei Tage später auf dem Kaunas-Festival live erleben konnten. Prinzz, gegründet 1981 in Erfurt, waren ursprünglich das DDR-Äquivalent einer NdW-Band mit deutschen Texten, hatten sich aber kurz vor dem Gig in Vilnius endgültig für eine wesentlich härtere Gangart entschieden. Um diesen Schritt nach außen zu dokumentieren, hatten sie sich in Blitzz umbenannt, mussten in Vilnius aber mit neuer Musik noch unter altem Namen auftreten. 

Am nächsten Morgen war für die Toten Hosen Soundcheck angesagt, und damit kam Fausts große Stunde. John Caffery, der eigentliche Toningenieur der Hosen, hatte daheim bleiben müssen, und so musste Faust, ansonsten eigentlich der Fahrer und das wandelnde Warenhaus der Band, einspringen. Zum ersten Mal seit fast drei Jahren saß Faust wieder hinter dem Mischpult der Hosen — und warf erstmal alle Einstellungen über den Haufen.

Zudem kämpfte Faust mit dem ins Mischpult eingebauten Limiter. Über eine gewisse Lautstärke, die natürlich zu leise war, kam er einfach nicht hinaus.

Kann man dat Ding nich einfach außer Gefecht setzen???

Neee, dann würden wir glatt die Boxen durchblasen…

Na und ???

Außerdem passen die Jungs da oben wie die Schießhunde auf auf ihre Anlage!!!“

Scheiße! Dann eben den Gesamtsound ’n bisschen runterfahren!“

Vorhang auf zum vorletzten Akt…

Die nach wie vor illegale litauische Nationalhymne a capella, und Katedra hatten gewonnen. Das Publikum hielt brennende Feuerzeuge in die Höhe, sang lauthals mit und applaudierte anschließend minutenlang. Die litauischen Lokalmatadoren, ansonsten eine reinrassige Thrashband, musikalisch wie technisch top und besser als 90 Prozent aller westlichen Kollegen (sorry Jungs und Mädels, aber leider wahr), zeigten, wo es in Litauen zur Zeit lang geht. Der Zug rollt in Richtung Unabhängigkeit; wo er allerdings enden wird, ist zur Zeit absolut noch nicht klar.

Wesentlich schlechtere Karten hatte an diesem Abend die Leningrader, und damit russische, Band O (Nol) gehabt, die, obwohl ebenfalls verdammt gut, wenn auch eher in der traditionellen Punkecke angesiedelt, vom Publikum ausgesprochen kühl behandelt worden war. Sie waren halt Russen und damit, gleich ob gut oder‘ schlecht, von vornherein unbeliebt.

Nach Katedra und der litauischen Hymne dann die Toten Hosen. Die waren zwar auch nicht litauisch, aber der frühere – und ebenfalls berechtigte – Hass auf alles Deutsche scheint inzwischen in Litauen vergessen zu sein. Spätestens mit „Disco in Moskau“ war die Schlacht um die Gunst des Publikums an allen Fronten gewonnen.

Campino war in Hochform, suchte den Kontakt mit dem Publikum, fand ihn und peitschte es regelrecht auf. Die Ansagen auf Englisch, die Texte deutsch, die Landessprache litauisch: Babylon live in Vilnius. Das heißt, nicht ganz: Eine Sprache verstanden sie alle gleich gut, Rock ’n’ Roll heißt die, und verbreitet ist sie – für alle Kids verständlich – rund um diesen gottverdammten Globus.

Die Hosen waren in Hochform, wenn auch die Pyramide mit dem Absturz des Sängers endete und sich mit einem Male alles auf den Bühnenbrettern wälzte.

Veranstalter und Publikum waren sich einig: Beste Band des Tages waren die Toten Hosen aus Westdeutschland und verliehen der Gruppe einen entsprechenden Preis,

Davon abgesehen, für viele Metaller immer noch nicht selbstverständlich, sind die Toten Hosen, und das haben sie in Vilnius nachdrücklich unter Beweis gestellt, tatsächlich eine Rockband. Sie vereinen in ihrer Musik Elemente traditionellen Punks der 70er Jahre (Sex Pistols, frühe Clash, Sham96, T.V. Smith oder The Damned) und amerikanischen Garage-Rocks mit Heavy-Rock-Einflüssen. Im Gegensatz zum Gros der zeitgenössischen Heavy Metal-Genossen zeigen sich die Hosen allerdings in ihren Texten sehr viel bewusster und reflektieren gelebte Alltagswirklichkeiten. Die neue LP „Ein kleines bisschen Horrorschau“ sei schon aus diesen Gründen wärmstens empfohlen.

Nach dem Gig stand Party auf dem Programm, zu der sich auch Prinzz, die Vertreter des DDR-Metals, angesagt hatten.

Vorhang zu, letztes Zwischenspiel,..

Also, das freut mich ja wirklich. Da sind DDR-Mädchen, die nich auf Bundie-Pässe und Westmark abfahren, sondern sich tatsächlich mal mit unseren eigenen Jungs abgeben. Das is wirklich ungewöhnlich.“

Lutz, Soundengineer der DDR-Band Prinzz, kommt aus dem Staunen nicht mehr raus,

Die Mädchen übrigens waren schon bekannt aus D-Zug-Zeiten und Ülo-Waggons. Losgelöst von Lehrpersonal und Aufsichtspersönchen hatten sie sich zum Festival eingefunden und hingen nun mit den Jungs von Prinzz rum. Bis auf eine, mit der Campino ins Gespräch gekommen war und die dann später, als die Frage nach dem freien Bett aufkam, kameradschaftlich von einem Angehörigen des Ülo-Trosses auf einer unbelegten Matratze untergebracht wurde.

Als DDR-Band hat man es ansonsten tatsächlich schwer, vor allem, wenn man wie Prinzz (Blitzz) Heavy Metal spielt und dann auch noch englische Texte singt.

Es gibt da noch ’n anderes Problem: Bei uns im Osten wollen die Fans nur nachgespielte Sachen von X oder Y aus dem Westen, also internationale ‚Standards. Material von einer DDR-Band? Nee, danke, kein Interesse. Wir spielen aber nur eigenes Material, so dass es ziemlich schwer ist, vom heimischen Publikum überhaupt akzeptiert zu werden.” Inzwischen werden Prinzz in der DDR immer stärker akzeptiert, von den Fans wie von den Medien. Tatsächlich sind sie zur Zeit eine der interessantesten deutschen Metal-Bands (Ost und West) überhaupt, was nicht zuletzt auch ein Verdienst der Sängerin Kerstin ist. Prinzz Gitarrist Flatsch bekam sein Mädchen aus der DDR mit ins Bett, allerdings : „Ich muss wohl irgendwie zu besoffen gewesen sein, gelaufen ist da jedenfalls nix.“

Gelaufen ist übrigens auch bei den Toten Hosen nix, obwohl Kiki und Bollock (Tourneeleiter und Chefroadie) häufiger mal die Anfrage „Ficken???“ starteten…

Dafür floss, trotz Prohibition und dank Schwarzmarkt, der Hochprozentige in Strömen.

Vorhang auf zum Finale

Die Party lief im Studentenheim von Vilnius, genauer gesagt in den Räumlichkeiten, die der Club Lituanika mit Videoanlage, und zwei Fernsehern ausgestattet hatte, über die die Konzerte des Abends noch einmal flimmerten. Zum Inventar gehörte außerdem eine sehr guten Discotheken-Anlage. Das Ganze ähnelte einem typisch westlichen Club, zumal auch das gesamte Equipment aus westlichen bzw. fernöstlichen Markenfabriken stammte.

Kaunas, die zweite Stadt, in der die Toten Hosen auf die Bühne sollten, ist nach Vilnius die bedeutendste Metropole Litauens, war zeitweise Hauptstadt Litauens und ist heute ein wichtiges kulturelles, wirtschaftliches und industrielles Zentrum der Sowjetrepublik. Knapp 100 Kilometer legen zwischen den beiden Metropolen des baltischen Staates. In Kaunas fand eine Nebenveranstaltung der Lituanika ’88 statt, die ebenso ausverkauft war wie das Hauptprogramm in Vilnius.

Entsprechend tot waren nach dieser Party denn auch einige Mitreisende am nächsten Morgen, als es hieß: Der Bus nach Kaunas wartet! Mit beträchtlicher Verspätung ging es auf die Autobahn, nicht allzuweit, denn nach etwa 50 Kilometern strandete der Bus samt Besatzung irgendwo im litauischen Nirgendwo. Motor überhitzt, Kühlwasser weg, das klang nach Kühlerleck. So war es tatsächlich. Die große Zeit der Improvisation begann. Während einige Mitglieder der Reisegruppe ihr Heil im Autostopp suchten, lagerten andere friedlich am Straßenrand. Der Fahrer begab sich derweil samt Kanister in die umliegenden Felder und suchte eine Wasserquelle.

Irgendwann ging’s tatsächlich weiter. In der Sporthalle Kaunas eingetroffen gab’s ein bemerkenswertes Bild zu sehen: Die Lichttraverse war auf die Bühne gekracht. Was nicht weiter verwunderte, wenn man genauer hinsah, Die Befestigungen waren offensichtlich dem Gewicht der Traverse nicht gewachsen gewesen. Dennoch sollte sie wieder hochgezogen werden – was allerdings auf erbitterten Widerstand aller anwesenden Drummer stieß. Die Traverse nämlich hing genau über dem Stuhl des Schlagzeugers. Die Traverse blieb unten und das Festival nahm seinen Lauf. Die Boom Operators (West Berlin) traten auf und hinterließen einen phantastischen Eindruck. Die Band ist unbedingt sehenswert – wenn man eine interessante Mischung aus New Wave und Rock zu schätzen weiß. Ähnlich gilt für die niederländische Band Kadaverbak, die nach ihnen dran waren. Dann schlug die Stunde für Prinzz. Obwohl Sängerin Kerstin stark erkältet auf die Bühne kletterte, legten die Ostmetaller einen brillanten Gig hin. Musikalisch ist Prinzz irgendwo zwischen Metallica und Alice Cooper (dessen ‚School’s Out’ sie coverten) anzusiedeln. Ihren ganz eigenen Charakter verdankt die Musik der Band aber der außergewöhnlichen Stimme und Bühnenpräsenz von Frontfrau Kerstin Radtke. Zu dem Zeitpunkt hatte die Band sich bereits von Prinzz zu Blitzz umbenannt, trat aber noch unter dem alten Namen auf.

Von Prinzz zu den Toten Hosen. Die hatten zunächst mal die Roadcrew in die Stadt jagen müssen: „Jungs, wir brauchen BIER!“

Die Jungs waren Gottseidank rechtzeitig zum Auftritt wieder zurück — mit Bier.

Auf der Bühne schließlich wieder Hosen in Bestform, eine beeindruckende Liveband, die vor Publikum alle Register zieht und dementsprechend auch an diesem Tag die Halle in einen Hexenkessel verwandelte, nicht zuletzt weil sie mit Campino einen Frontmann mit enormem Charisma ihaben, dem sich live kaum jemand entziehen kann; dem er dann selbst allerdings auch fast zum Opfer fiel, als er sich in die Menge begab. Kiki und Bollock hatten einige Mühe, ihn aus einer Traube von Kids zu befreien und ihn wieder heil auf die Bühne zu bringen – mit nacktem Oberkörper, das T-Shirt war ihm vom Leibe gezogen worden. Nach dem Auftritt ging’s zurück nach Vilnius und noch einmal zur Party, wo es in etwa so abging wie am Vorabend.

Vorhang zu, Saallichter an…

Wo sind denn …???

Bier holen !

Aber der Zug…

Die schaffen das schon noch rechtzeitig…

Sie schafften es rechtzeitig, beladen mit einigen Paletten feinsten Dosenbiers.

Sollten wir nicht ein eigenes Abteil haben?

Ja.“

Wat machen denn dann die ganzen Leute hier drin???

Kein eigenes Abteil. Der Schaffner tat sein bestes, alle halbwegs unterzubringen. Er schaffte es nicht ganz. Die Rückfahrt also in einer gemischten russisch-deutschen Abteilbesetzung, die zum guten Ende zu einigen sehr interessanten Kontakten und Gesprächen führte. Wen kümmerte es da noch, dass von Warschau an das eigene Abteil für die Toten Hosen völlig leer am Zug hing, während wir uns im vollgepackten Liegewagen drängelten, den Schaffner aus seiner Kabine warfen und diese zur Spielhölle umfunktionierten?

Ärgerlich war es allerdings doch etwas, als wir in Ost-Berlin, inzwischen völlig übermüdet und kaputt, endlich von dem eigens für uns angehängten Kurswagen erfuhren…

C 2022 MuzikQuest/ Edgar Klüsener, Erstveröffentlichung in Metal Hammer 10/1988

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